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Die Urologie
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Publiziert am: 14.10.2022

Kryosperma-Konservierung und Fertilitätsprotektion

Verfasst von: Hans-Christian Schuppe und Frank-Michael Köhn
Das Ausmaß der Fertilitätsschädigung infolge einer Chemo- und/oder Radiotherapie maligner Erkrankungen ist nicht sicher vorherzusagen, die Chancen einer Erholung der Spermatogenese sind von Therapieregime, Dosis der Noxen und individuellen Faktoren abhängig. Die einzige gesicherte Präventivmaßnahme zur Fertilitätsprotektion ist deshalb die Kryokonservierung von Spermien vor einer gonadotoxischen Behandlung bzw. vor operativen Eingriffen, die direkt oder indirekt die Reproduktionsorgane betreffen. Diese Option sollte grundsätzlich allen betroffenen Patienten zugänglich sein. Für präpubertäre Jungen mit malignen Erkrankungen kommt die Durchführung einer Hodenbiopsie zur Asservierung testikulärer Stammzellen in Betracht. Dieses noch experimentelle Verfahren sollte in diesem Stadium nur im Rahmen wissenschaftlich begleiteter Projekte erfolgen.

Einleitung

Bei der Behandlung von Krebserkrankungen sind langfristige Nebenwirkungen der Therapie und Belange der Lebensqualität einschließlich des Erhalts der Fertilität von zunehmender Bedeutung. Zu den häufigsten malignen Erkrankungen mit guten Überlebens- und Heilungschancen gehören bei jungen Männern Hodentumoren, Morbus Hodgkin bzw. Non-Hodgkin-Lymphome sowie Leukämien (Robert Koch-Institut 2021). Hierbei ist das Ausmaß der Fertilitätsschädigung infolge einer Chemotherapie und/oder Radiatio nicht sicher vorherzusagen. Die Chancen einer Erholung der Spermatogenese sind vom Alter der betroffenen Patienten zum Zeitpunkt der Behandlung sowie von Regime, Dosis der Noxen und weiteren individuellen Faktoren abhängig (Trottmann et al. 2007; AWMF 2017; Delessard et al. 2020) (Tab. 1). Darüber hinaus sind potenziell gonadotoxische Medikationen bei Autoimmunerkrankungen sowie nach Organtransplantationen zu berücksichtigen, ebenso operative Eingriffe, die sich auf die Funktion der Reproduktionsorgane auswirken (Semet et al. 2017; Perez-Garcia et al. 2020; Salonia et al. 2021). Hierzu sind auch Störungen des Samentransports, wie z. B. eine retrograde Ejakulation zu rechnen.
Tab. 1
Gonadotoxizität von Chemotherapeutika (nach Wallace et al. 2005)
Hohes Risiko
Mittleres Risiko
Geringes Risiko
Cyclophosphamid
Cisplatin
Vincristin
Ifosfamid
Carboplatin
Chlormethin
Doxorubicin
Dactinomycin
Busulfan
 
Bleomycin
Melphalan
 
Mercaptopurin
Procarbazin
 
Vinblastin
Dacarbazin
  
Chlorambucil
  
Therapeutisch wirksame Methoden, die Hoden vor den gonadotoxischen Effekten von Chemotherapeutika oder einer Radiatio zu schützen, stehen derzeit nicht zur Verfügung. Die Kryokonservierung von Spermien ist somit die einzige, klinisch seit Jahrzehnten etablierte Maßnahme zur Fertilitätsprotektion (Köhn und Schuppe 2017). Bei bis zu 65 % der Patienten mit den oben genannten malignen Erkrankungen finden sich allerdings bereits vor Therapiebeginn Einschränkungen der Ejakulatqualität, in bis zu ca. 15 % der Fälle eine Azoospermie (Trottmann et al. 2007; Auger et al. 2016) (Abb. 1). In gleicher Häufigkeit sind Patienten mit malignen Erkrankungen zum Zeitpunkt der geplanten Kryosperma-Konservierung nicht mehr in der Lage zu ejakulieren. In den letztgenannten Situationen kann eine Hodenbiopsie zur testikulären Spermienextraktion (sog. Onko-TESE) in Betracht gezogen werden (Kliesch 2020) (Abb. 2; siehe Kap. „Nichtobstruktive Azoospermie“).
Besonderer Bemühungen um einen Fertilitätserhalt bedarf es bei Kindern und Jugendlichen mit malignen Erkrankungen. Je nach Entwicklungsstand ist bei Jugendlichen eine Ejakulatgewinnung und Kryokonservierung von Spermien realisierbar. Unabhängig von der Grunderkrankung weisen Adoleszenten und erwachsene Patienten eine vergleichbare Ejakulatqualität auf (Kamischke et al. 2004). Dagegen ist bei präpubertären Jungen die Spermatogenese noch nicht initiiert, eine Kryokonservierung von Spermien also nicht möglich. Ausgehend von tierexperimentellen Befunden eröffnen sich jedoch auch hier Perspektiven für Therapiestrategien unter Verwendung testikulärer Stammzellen (AWMF 2017; Goossens et al. 2020) (Abb. 2).

Indikationen für die Kryospermakonservierung

Die Indikationen zur Kryokonservierung menschlicher Spermien wurden durch die Einführung neuer reproduktionsmedizinischer Methoden erheblich erweitert (Köhn und Schuppe 2017; AWMF 2017). Während früher Proben mit Spermienkonzentrationen unter 15 Mio./ml und einer Progressivmotilität in einer Probe nach Gefrieren/Auftauen von unter 10 % als nicht verwertbar galten, können seit Einführung der assistierten Fertilisation mittels intrazytoplasmatischer Spermieninjektion (ICSI) auch Ejakulate mit stark eingeschränkter Qualität eingefroren und erfolgreich eingesetzt werden. Ebenso ist die Kryokonservierung epididymaler sowie testikulärer Spermatozoen für eine spätere assistierte Fertilisation möglich (Salzbrunn et al. 1996; Tournaye et al. 1999). Insgesamt sind folgende Indikationen für eine Kryokonservierung von Spermien zu berücksichtigen:
Indikationen für eine Kryospermakonservierung
  • Fertilitätserhalt vor Chemotherapie, Gabe anderer potenziell gonadotoxischer Pharmaka, Radiatio, fertilitätsgefährdenden operativen Eingriffen (Orchidektomie, retroperitoneale Lymphadenektomie etc.)
  • Durchführung von Maßnahmen der assistierten Reproduktion
    • Reserve bei großen intraindividuellen Schwankungen der Ejakulatqualität
    • Mangelnde Verfügbarkeit des Partners zum Zeitpunkt der Behandlung
    • Kryokonservierung epididymaler bzw. testikulärer Spermien
    • Spermienaufbereitung bei Behandlung HIV(human immunodeficiency virus)-diskordanter Paare
  • Fertilitätsprophylaxe vor Vasektomie/nach mikrochirurgischer Refertilisierung
  • Spendersperma für heterologe Inseminationen (Freigabe der Proben erst nach Quarantäne-Lagerung über mindestens 6 Monate und wiederholter infektiologischer Testung des Spenders)
  • Ejakulatproben für interne und externe Qualitätssicherungsprogramme
  • Forschungszwecke

Aufklärung und Inanspruchnahme

Die Kryokonservierung von Spermien als Präventivmaßnahme sollte grundsätzlich sowohl erwachsenen Männern mit noch nicht begonnener bzw. nicht abgeschlossener Familienplanung als auch betroffenen Jugendlichen vor Beginn fertilitätsschädigender Therapien angeboten werden (AWMF 2017; Schlegel et al. 2021). Bei der Beratung müssen neben dem Risiko des Fertilitätsverlustes durch Erkrankung und bevorstehende Therapie sowie Fragen der Fertilitätsprognose notwendige begleitende Untersuchungen, organisatorische Aspekte und Möglichkeiten der späteren Verwendung der Kryospermaproben für eine assistierte Reproduktion angesprochen werden. Hierzu gehören Details eines Vertrages über die Probenlagerung einschließlich Depotgröße und Kosten, eine andrologische Untersuchung inklusive Hormonstatus und standardisierter Ejakulatanalyse nach WHO (World Health Organization), die mikrobiologische Untersuchung des Ejakulats sowie obligat der Ausschluss relevanter Infektionen (HIV, Hepatitis-Viren; Bundesärztekammer 2018; WHO 2021; Kap. „Andrologische Diagnostik bei Fertilitätsstörungen“). Aufgrund der potenziell langen Persistenz des Zika-Virus im Ejakulat über mehr als 6 Monate bedürfen Patienten, die sich in entsprechenden Risikogebieten aufgehalten haben, einer besonderen Beratung (Epelboin et al. 2017). Ähnliche Fragestellungen können sich bei Verdacht auf andere, seltene Virusinfektionen ergeben (Le Tortorec et al. 2020). Schließlich sollten andrologische Nachsorgeuntersuchungen zur Überprüfung der reproduktiven Funktionen empfohlen werden, in Abhängigkeit von Grunderkrankung und Therapieregime frühestens 9–12 Monate nach Therapieende.
Umfrageergebnisse zeigen leider, dass nur ca. 50–70 % der betroffenen Patienten eine entsprechende Beratung durch ihre betreuenden Onkologen erhalten (Schover et al. 2002; Micaux-Obol et al. 2017). Das Thema Fertilitätsprotektion wird offenbar häufig aus falsch verstandener Scham bzw. aufgrund vermeintlicher organisatorischer Hemmschwellen gemieden. Andererseits sind ca. 50 % onkologisch erkrankter Männer an einer Kryokonservierung ihrer Spermien interessiert, insbesondere diejenigen, die zum Zeitpunkt der Diagnose noch kinderlos sind. Eine prognostisch relevante Therapieverzögerung tritt durch die Abgabe von 1–3 Ejakulaten nicht ein.
Die Abrufraten von Kryospermaproben für Maßnahmen der assistierten Reproduktion liegen nur bei 4–16 % (Köhn und Schuppe 2017; Ferrari et al. 2021). Die Anlage eines Spermien-Kryodepots als Fertilitätsreserve trägt jedoch nicht zuletzt auch zur psychischen Entlastung der Betroffenen während und nach der onkologischen Therapie bei.

Durchführung der Kryokonservierung von Spermien oder Hodengewebe

Im konventionellen Verfahren (Slow freezing) werden steril gewonnene Ejakulatproben nach vollständiger Verflüssigung und standardisierter Analyse (WHO 2021) zu gleichen Volumenanteilen mit einem Kryoprotektivum versetzt, in geeignete Gefäße gefüllt (meist sog. Straws mit 250–500 μl Volumen) und manuell, semiautomatisch oder voll programmiert schrittweise bis auf −196 °C abgekühlt. Der Zusatz eines Kryoprotektivums sowie die Optimierung der Einfriergeschwindigkeit sind erforderlich, um intrazelluläre Eiskristallbildung und osmotische Schädigung der Spermien zu reduzieren. Zur dauerhaften Lagerung werden die Proben in Kryobehälter verbracht, je nach Ausstattung in die Flüssigphase oder in die Gasphase des Stickstoffs. Analog lassen sich unter Zusatz von Kryoprotektivum auch native Hodengewebsproben kryokonservieren (Salzbrunn et al. 1996).
Wichtig
Die Durchführung einer Hodenbiopsie sollte heute grundsätzlich mit der Möglichkeit einer Kryokonservierung von Hodengewebe oder extrahierter Spermien für spätere Maßnahmen der assistierten Fertilisation verbunden sein.
Durch Slow freezing können Spermienintegrität (z. B. DNA-Fragmentation) und -funktion (z. B. Motilitätsverlust) geschädigt werden. Die Erholungsrate (sog. recovery rate) der Motilität nach dem Gefrier-/Auftauvorgang beträgt in Abhängigkeit von der Ejakulatqualität 40–80 % (Köhn und Schuppe 2017). Hierbei weist die Gefrierfähigkeit humaner Spermatozoen z. T. erhebliche intra- und interindividuelle Schwankungen auf. Das eingefrorene Ejakulat- sollte nach Möglichkeit für zehn oder mehr ICSI-Behandlungen ausreichen (z. B. Standardset mit 36 Straws; WHO 2021). Bei erheblich eingeschränkter Ejakulatqualität (<100.000 Spermien) sollte anhand einer Auftauprobe geprüft werden, ob das angelegte Kryodepot eine effektive Fertilitätsreserve darstellt (Kliesch 2020).
Fallberichte über eine erfolgreiche Verwendung kryokonservierter Spermien für intrauterine Inseminationen belegen, dass selbst nach Lagerungszeiten von bis zu 28 Jahren die für die Fertilisation biologisch wichtigen Spermienfunktionen erhalten bleiben (Clarke et al. 2006). Das Risiko einer erheblichen Verschlechterung der Samenqualität nach Langzeitlagerung ist als gering einzustufen. Gegenüber einer Spermienüberlebensrate nach dem Auftauen von 85,7 % in den ersten 5 Jahren sank diese auf 73,9 % nach 11–15 Jahren (Huang et al. 2019).
Eine Alternative zum Slow freezing ist die Vitrifikation, bei der Spermien durch ultraschnelles Einfrieren auch ohne Kryoprotektivum unter Erhalt der Vitalität kryokonserviert werden können. Bei dieser Methode wird ein geringes Probenvolumen direkt in flüssigen Stickstoff eingetaucht, auch eine Lagerung der Proben bei −86 °C erscheint möglich (Isachenko et al. 2004; Sánchez et al. 2012). Die Vitrifikation ist vor allem zur Kryokonservierung und Lagerung von Proben mit geringer Spermienzahl geeignet, hat sich bisher jedoch nicht als Routinemethode durchgesetzt.
Empfehlungen zum Risikomanagement werden im aktuellen WHO-Laborhandbuch gegeben (WHO 2021). Der Einfriervorgang und die Lagerung von Spermien bzw. Hodengewebsproben ist lückenlos zu dokumentieren. Hierbei sollten die Identität des Patienten, Kennzeichnung, Aufbereitung und Konfektionierung der Proben, jeweilige Platzierung im Lagerbehälter sowie die Entnahme für Therapiemaßnahmen bzw. die Vernichtung von Proben jeweils von 2 Personen geprüft und dokumentiert werden (Bundesärztekammer 2018). Ebenso sind die Lagerbedingungen kontinuierlich zu überwachen. Für potenziell infektiöse Proben ist eine sog. Quarantäne-Lagerung in einem gesonderten Kryobehälter erforderlich.

Kryosperma: Fertilisierungspotenzial und genetische Risiken

Schwangerschaftsraten unter Verwendung kryokonservierter Spermien werden mit 17–42 % angegeben, wobei die besten Ergebnisse mittels ICSI erzielt werden (Magelssen et al. 2005; Van Casteren et al. 2008; Ferrari et al. 2021). Diejenigen Männer, die ihr Kryodepot nutzten, erlebten in fast der Hälfte der Fälle die Geburt von mindestens einem Kind. Vergleichende Untersuchungen mit frischem und gefrorenem Spendersperma ergaben keine Unterschiede der Fertilisierungsraten und Schwangerschaftsraten nach IVF (In-vitro-Fertilisation) oder ICSI (DIR 2004; Borges et al. 2007). Auch bei Kryokonservierung und Verwendung epididymaler Spermatozoen sind bisher keine eindeutig negativen Effekte auf die Fertilisierungs- und Schwangerschaftsraten nach ICSI berichtet worden.
Genetische Risiken im Zusammenhang mit der Verwendung kryokonservierter Spermatozoen können auf die Grunderkrankung zurückzuführen sein oder aus potenziell mutagenen Behandlungsregimen wie Chemotherapie und Radiatio, der Kryokonservierung selbst sowie den Verfahren der assistierten Fertilisation resultieren (Choy und Brannigan 2013; Kopeika et al. 2015; Martinez et al. 2017).
Wichtig
Obwohl bei Patienten mit Krebserkrankungen bereits vor Therapie vermehrt Spermatozoen mit DNA-Schäden nachweisbar sind und auch die Kryokonservierung zu einer erhöhten Rate derartiger Schäden beiträgt, liegen keine Hinweise auf besondere genetische Risiken bei der Verwendung kryokonservierter Spermatozoen vor.
Die verfügbaren epidemiologischen Daten zeigen, dass für die Nachkommen von Patienten mit malignen Erkrankungen kein erhöhtes Risiko für genetische Defekte nach Therapie besteht (Winther et al. 2012; AWMF 2017). In einer Studie wurde allerdings ein gering erhöhtes Risiko für Malformationen gefunden, das in weiteren Analysen jedoch unabhängig von mutagenen Therapien war (Ståhl et al. 2011; Al-Jebari et al. 2018). Aktuellen Leitlinien folgend ist eine genetische Beratung bei Kinderwunsch nach malignen Erkrankungen in der Vorgeschichte bzw. vor der Verwendung kryokonservierter Spermien zu empfehlen (AWMF 2017; Bundesärztekammer 2018; Toth et al. 2019). Im Zusammenhang mit Maßnahmen der assistierten Reproduktion ist zu beachten, dass eine IVF/ICSI per se mit einem 1,3-fach höheren Fehlbildungsrisiko der Nachkommen einhergeht (von Wolff und Haaf 2020).
Das Risiko einer Übertragung von Tumorzellen bei der Verwendung kryokonservierter Spermien lässt sich ausschließen; dies gilt auch für Spermien, die aus tumorfreien Gewebsanteilen eines tumortragenden Hodens gewonnen wurden (Kliesch 2020).

Testikuläre Stammzellen: Perspektiven der Fertilitätsprotektion

Zu den derzeit noch experimentellen Verfahren zur Erhaltung einer Fertilitätsreserve zählt die Gewinnung von Stammzellen der männlichen Keimbahn aus Hodengewebsproben, mit dem Ziel einer späteren Autotransplantation oder ektopen Xenotransplantation (in immundefiziente Mäuse) bzw. einer Spermatogenese in Organkulturen in vitro bis zu Spermien, die zumindest für eine ICSI verwendbar sind (Goossens et al. 2013; Tournaye et al. 2014). Für die Gewinnung testikulärer Stammzellen bzw. Spermatogonien ist das oben genannte Standardverfahren der Kryokonservierung nicht geeignet; spezielle Protokolle befinden sich derzeit in Erprobung. Bei onkologischen Erkrankungen ist darüber hinaus die sichere Entfernung kontaminierender Tumorzellen aus aufbereitetem Gewebematerial problematisch.
Besonders relevant sind die Forschungsaktivitäten und zu erwartenden Fortschritte auf diesem Gebiet für präpubertäre Jungen, bei denen die Option der Kryokonservierung ejakulierter Spermien oder konventionell prozessierter Hodenbiopsien wegen der noch nicht initiierten Spermatogenese entfällt. Auf europäischer Ebene wurden Programme etabliert, die für betroffene Jungen Entnahme und spezielle Kryokonservierung von Hodengewebe für eine spätere Isolierung und Verwendung testikulärer Stammzellen anbieten (Picton et al. 2015; Stukenborg et al. 2018; Goossens et al. 2020). In Deutschland steht mit „Androprotect“ ebenfalls ein Netzwerk zur Fertilitätsprotektion beim Knaben zur Verfügung (Kliesch 2020).

Rechtliche Aspekte

Besteht bei einer Behandlung die Möglichkeit des Verlustes der Zeugungsfähigkeit, muss der betroffene Patient nach aktueller Rechtsprechung auf die Möglichkeit der Kryokonservierung einer Samenspende hingewiesen werden (AWMF 2017). Bei Inanspruchnahme regelt ein Vertrag zwischen der versorgenden Einrichtung und dem Patienten die Bedingungen der Probenlagerung. Hierbei ist zu beachten, dass nach deutschem Recht kryokonservierte Sperma- bzw. Hodengewebsproben nach dem Tod des Patienten nicht mehr verwendet werden dürfen und zu vernichten sind.
Die Voraussetzungen für den Leistungsanspruch von gesetzlich Versicherten auf Kryokonservierung von Keimzellen bzw. Keimzellgewebe wegen keimzellschädigender Therapie sowie auf die dazugehörigen medizinischen Maßnahmen sind in der „Richtlinie zur Kryokonservierung von Ei- oder Samenzellen oder Keimzellgewebe sowie entsprechende medizinische Maßnahmen wegen keimzellschädigender Therapie (Kryo-RL)“ geregelt (Gemeinsamer Bundesausschuss 2021). Hierzu gehört auch eine Beratung durch die die Grunderkrankung diagnostizierenden Fachärzte/Fachärztinnen, die unter Berücksichtigung der individuellen Prognose über die mit der Behandlung der Grunderkrankung verbundenen Risiken für eine Keimzellschädigung und Erstinformationen über die Möglichkeit einer reproduktionsmedizinischen Behandlung aufklären. Diese Beratung beinhaltet auch eine ärztliche Feststellung und Bescheinigung.
Für alle Institutionen, die Gewebe entnehmen und weiterverarbeiten, ist die Umsetzung der EG-Richtlinie 2004/23/EG in deutsches Recht in Form des „Gewebegesetzes“ seit dem 1. August 2007 verbindlich (Bundesärztekammer 2018). Für die Entnahme, Lagerung und Weiterverarbeitung humaner Spermien muss eine Genehmigung gemäß § 20b und § 20c Arzneimittelgesetz (AMG) bei der zuständigen Behörde beantragt werden. Auch diagnostische Maßnahmen wie die für jede Kryokonservierung erforderliche Infektionsserologie unterliegen den o. g. gesetzlichen Regelungen des AMG und erfordern ggf. entsprechende Kooperationsverträge.

Zusammenfassung

  • Kryokonservierung von Spermien (Ejakulat) derzeit einzige gesicherte fertilitätserhaltende Vorsorgemaßnahme vor einer potenziell gonadotoxischen Therapie.
  • Bei Krebserkrankungen Kryospermakonservierung Männern im reproduktionsfähigen Alter (mit noch nicht begonnener oder nicht abgeschlossener Familienplanung) sowie Jugendlichen vor Therapiebeginn grundsätzlich anbieten.
  • Seit Einführung der assistierten Fertilisation mittels ICSI Kryokonservierung und spätere Verwendung von Ejakulaten auch bei stark eingeschränkter Qualität möglich.
  • Im Falle einer Azoospermie Hodenbiopsie zur testikulären Spermienextraktion (sog. Onko-TESE) möglich.
  • Option der Kryospermakonservierung vor Einsatz gonadotoxischer Medikationen auch bei anderen Krankheiten (z. B. Autoimmunkrankheiten) oder Organtransplantationen beachten, ebenso bei operativen Eingriffen mit möglicher Schädigung der Reproduktionsorgane.
  • Kryospermakonservierung als Zeugungsreserve: Beitrag zur psychischen Entlastung Betroffener, insbesondere während und nach Behandlung maligner Erkrankungen.
  • Asservierung von Hodenbiopsien für die Gewinnung testikulärer Stammzellen als Verfahren zur Erhaltung einer Fertilitätsreserve noch experimentell, jedoch insbesondere für betroffene präpubertäre Jungen bereits heute relevant.
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