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Psychosoziale Störungen mit Lifestyle Erkrankungen

Verfasst von: Wolfgang Harth und Uwe Gieler
Mit dem vorliegenden Kapitel werden psychodermatologische Erkrankungen aufgezeigt, die ursächlich einem Kulturphänomen beziehungsweise Konflikten der Leistungsgesellschaft entspringen. Spezielle Lifestyle-Erkrankungen, die Verwendung von Lifestyle-Medikamenten sowie Schönheitserkrankungen und Folgen modebedingter Körpermodifikationen werden im Folgenden aufgezeigt.

Einleitung

Mit dem vorliegenden Kapitel werden psychodermatologische Erkrankungen aufgezeigt, die ursächlich einem Kulturphänomen oder Konflikten der Leistungsgesellschaft entspringen. Spezielle Lifestyle-Erkrankungen, die Verwendung von Lifestyle-Medikamenten sowie Schönheitserkrankungen und Folgen modebedingter Körpermodifikationen werden im Folgenden aufgezeigt.

Lifestyle-Erkrankungen in der Dermatologie

Arbeitsunfähigkeitstage wegen psychischer Erkrankungen nehmen insgesamt deutlich zu, wobei als zwei wesentliche Ursachen die vermehrte Ausrichtung der Lebensführung nach ökonomischen Bedingungen (Arbeit und Freizeit) sowie gleichzeitig eine Instabilität im privaten Lebensstil mit fragileren sozialen Netzwerken diskutiert werden. Parallel zeigt sich in der psychodermatologischen Sprechstunde in den letzten Jahren eine Schwerpunktverschiebung. Eine Abnahme schwerer psychopathologischer Krankheitsbilder als Folgen von Traumatisierungen der Kriegs- und Nachkriegsgenerationen lässt sich feststellen. Eine Zunahme von psychischen Störungen als Stellvertreterbeschwerden einer zunehmenden gesellschaftlichen Komplexität ist jedoch zu verzeichnen, die mit Verunsicherung, Selbstwertproblemen, Stressbewältigung, Angst und Depression einhergehen. Mit heutigem Stand zeichnet sich ein Wechsel von Existenzängsten zur Sorge um ein gesundes, fittes Leben ab.
Diesbezügliche psychodermatologische Probleme finden sich bereits bei Kindern und beginnen ab der Einschulung in Form von Versagensängsten hinsichtlich schlechter Noten, Leistungsdruck, Überforderung durch zahlreiche Hobbys oder Probleme durch überprotektiv ängstliche Eltern, emotionale Kühle, oberflächliche Beziehungen einschließlich Familientrennungen.
Trotz steigendem Wohlstand und friedlichem Wachstum führen ständiger Druck, Überforderung, Selbstausbeutung und Unruhe der Leistungsgesellschaft, ebenso wie Langeweile durch Unterforderung oder Freizeitstress zum Unbehagen einer Not der Notlosigkeit.
Lifestyle-Erkrankungen beinhalten psychosomatische Beschwerden und Störungen, bei denen Anforderungen der modernen Leistungsgesellschaft, insbesondere permanente berufliche Belastungen (Stress) und Reizüberflutung, als wesentliche auslösende oder aufrechterhaltende Bedingungen zum Tragen kommen.
Als typische dermatologische Beschwerden werden Angstschweiß in der Hyperhidrose-Sprechstunde, Nahrungsmittelunverträglichkeiten in der Allergie-Sprechstunde (Öko-Syndrome), Lifestyle-Impotenz mit Versagerängsten in der andrologischen Sprechstunde oder Furcht vor Hässlichkeit in der ästhetischen Sprechstunde thematisiert (Tab. 1).
Tab. 1
Lifestyle-Phänomene in der Dermatologie
Lifestyle-Erkrankung
Klassifikation/Symptomgruppe
ICD 10
Burn-out-Syndrom
Deisler-Syndrom
Karoshi (Tod durch Überarbeitung)
Hikikomori (zu Hause einschließen mit gesellschaftlichem Rückzug)
Leisure Sickness (Freizeit-Krankheit)
Paradies-Depression
F30–F39
Umweltsyndrome
Öko-Syndrom MCS = multiple chemical sensitivity; SBS = sick building syndrome)
Somatisierungsstörung (Somatoforme Störung)
F 45/F 45.0
Sonderformen:
– Amalgambezogenes Beschwerdesyndrom
– Elektrosmog
– Lichtallergie
– Nahrungsmittelunverträglichkeiten
– Spermaallergie
– Waschmittelallergie
  
Lifestyle-Impotenz (Versagerangst)
F41.10
Syphiliphobie
AIDS-Phobie
Borrelienphobie
Mykophobie
F45/F45.2
Schönheitskrankheiten
Sisi-Syndrom
Botulinophilie
Dorian-Gray-Syndrom
Tanorexie
F45/F45.2
Körpermodifikationen
Tätowierung, Mensur, Piercing, Branding
Kulturabhängige Syndrome
F45/F45.2
Immer häufiger sind davon auch junge, scheinbar gesunde, leistungsstarke und erfolgreiche Personen betroffen. Weiterhin besteht eine rein somatische Therapieerwartung. Das Einfordern der Therapie von Gesunden setzt den Arzt unter emotionalen Druck in der Ambivalenz zwischen Drängen und nicht gegebener Indikation. Häufige und typische Krankheitsbilder sind:

Burn-out-Syndrome

Das Burn-out-Syndrom (to burn out – ausbrennen) bezeichnet das Erleben chronischer Erschöpfung mit innerer Leere, seelischer Verausgabung und innerer Distanz, meist infolge beruflicher Überlastung. Die Symptomatik („Ich bin ausgebrannt. Ich kann nicht mehr.“) ist vielfältig, individuell unterschiedlich und durch Symptome aus dem depressiven Spektrum sowie Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Magenkrämpfe oder andere körperliche Dysfunktionen gekennzeichnet. Als besonders betroffen gelten engagierte Menschen, die sich zu ihrem Beruf mit hoher Intensität hinwenden, beispielsweise in helfenden Berufen (Ärzte, Pflegeberufe, Lehrer, Sozialarbeiter, Erzieher), Berufen mit hohem Leistungsdruck (Manager) oder bei Menschen, die extreme Anforderungen an sich selbst stellen.
Das Beschwerdesyndrom entwickelt sich über einen längeren Zeitraum, wobei anfänglich hoher Enthusiasmus und Ideenreichtum bestehen. Im Verlauf wird dies immer mehr durch Frustration, Apathie und Erschöpfung abgelöst. Zuletzt nimmt das Interesse an Aufgabenstellungen ab und besteht nur noch eine physische Anwesenheit ohne innerliche Beteiligung („Ich komme mir vor wie eine Maschine, die nur noch funktioniert.“). Weiterhin kommt es zum Rückzug, Vernachlässigung der Familie, Freunden und Hobbys sowie körperlicher Verwahrlosung, Depressionen bis hin zu Suizidgedanken.

Leisure Sickness

Überdurchschnittlich intensiv Berufstätige (Workaholics) liegen regelmäßig am Wochenende oder während der ersten Urlaubstage krank im Bett, zum Beispiel mit Abgeschlagenheit, Gliederschmerzen (Rücken), Kopfweh, einhergehend mit depressiver Stimmungslage. Diese „Leisure Sickness“ ist dabei auf eine dauernde Überbelastung zurückzuführen, wobei der Körper auch Entspannungsphasen nicht mehr für Reparaturvorgänge nutzen kann.

Paradies-Depression

Die wachsenden Freizeitangebote mit vielseitigen Unterhaltungs- und Ablenkungsmöglichkeiten machen es immer schwieriger, noch neue stimulierende und emotional bewegende Eindrücke zu erhalten. Bei einer anhaltenden Überstimulation mit ständig neuen Reizen von außen können jedoch Abstumpfung und Langeweile auftreten, die keine neuen Reize mehr zulassen und letztendlich bei völliger Interesselosigkeit und Antriebsschwäche zu einer „Paradies-Depression“ führen. Die Aktivität von innen heraus, sowohl mit sich selbst als auch im engen Familien- oder Freundeskreis ist dabei verloren gegangen. Die Bezeichnung „Paradies-Depression“ geht ursprünglich von Menschen im Ruhestand aus, die ihren Wohnsitz an die Mittelmeerküste oder auf eine Urlaubsinsel verlagert haben. Sie sehen ihr weiteres Leben als ewig währenden Urlaub, wobei sie kein Glück empfinden können, sondern psychosomatische Erkrankungen und vorwiegend Suchtprobleme entwickeln.

Ökosyndrome

Bei umweltbezogenen Körperbeschwerden (MCS-Syndrom: multiple chemical sensitivity) (ICD-10: F45.0) klagen die Patienten über spezifische und unspezifische multiple Körperbeschwerden von verschiedenen Organsystemen, deren vermutete Ursache in der Exposition von Umweltstoffen liegt, ohne Nachweis eines direkten toxischen Kausalzusammenhangs zwischen Exposition und Ausmaß der Beschwerden. Die Betroffenen schildern verschiedene körperliche Beschwerden, wie Kopfschmerzen, Augenbrennen, Nasenlaufen, Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Konzentrationsstörung, Vergesslichkeit, Schmerzen im Bewegungsapparat, ungerichteten Schwindel, Herzrasen oder Atemnot.
Beim Sick-Building-Syndrom (SBS) werden Ausdünstungen aus Gebäuden und Innenräumen für die Beschwerden verantwortlich gemacht.
Bei der elektrischen Hypersensibilität wird Elektrosmog von beispielsweise Überlandleitungen als Ursache für Beschwerden herangezogen.
Beim Golfkriegs-Syndrom werden radioaktive Substanzen oder chemische Kampfstoffe als Auslöser von Abgeschlagenheit und weiteren unspezifischen Syndromen angeschuldigt.
Beim amalgambezogenen Beschwerdesyndrom werden die multiplen Beschwerden auf Zahnfüllungen mit Amalgam zurückgeführt. Die Patienten lassen sich oftmals alle Füllungen entfernen, obwohl dies umstritten ist, oder führen aufwendige Entgiftungen durch.
Eine Vielzahl von Hautveränderungen, meistens Ekzeme oder auch Hautbeschwerden wie Pruritus, wird in letzter Zeit von den Patienten auf eine vermeintliche Waschmittelallergie zurückgeführt. Dabei wird der Hautkontakt zu Bettwäsche angeschuldigt, die im Vorfeld mit einem neuen Waschmittel oder unbekannten Waschmittel bei Übernachtung in fremden Betten gewaschen wurde.
Nach dem Selbstmord von Hannelore Kohl fand in den Medien eine breite Diskussion über die Lichtallergie statt. Als Hannelore-Kohl-Syndrom ist sie charakterisiert durch eine gesteigerte Empfindlichkeit auf Sonnenlicht und künstliches Licht sowie dem Gefühl, nicht mehr aus dem Haus ins Licht gehen zu können. Die Diagnosekriterien einer vermeintlichen Lichtallergie umfassen die Meidung von Öffentlichkeit (Soziophobie), depressive Störung und suizidale Tendenzen.
Die Zahl der Patientenvorstellungen mit vermeintlicher Sperma-Allergie zur Abklärung ist weitaus höher, als letztendlich eine echte Sperma-Allergie mit spezifischer IGE-Sensibilisierung (Typ I) gegenüber Semialplasma gesichert werden kann. Die Patienten geben an: „Auf den Partner reagiere ich allergisch“, und zeigen in der psychosomatischen Diagnostik somatoforme Störungen oder auch posttraumatische Belastungsstörungen auf.

Hypochondrische Störungen

Die infolge von Medien- und Internetberichten entstandene Angst oder hypochondrische Überzeugung, an einer oder mehreren schweren körperlichen Krankheiten zu leiden, bezieht sich auf ein breites Spektrum von Infektionskrankheiten und bösartigen Neubildungen. Hierzu gehören beispielsweise auch die Syphiliphobie, AIDS-Phobie, Mykophobie oder Borrelienphobie.

Kortisonphobie

In der Bevölkerung besteht hinsichtlich der Anwendung von kortisonhaltigen Arzneimitteln, deren Nebenwirkungen und Risiken eine sehr große Skepsis bis hin zur vollständigen Ablehnung (Kortisonphobie). Die Thematik wird zudem in den Medien regelmäßig kritisch diskutiert. Die Angst vor Kortison kann eine indizierte und erfolgreiche Behandlung verhindern. Die Angst stammt historisch aus der Zeit, als Kortisonsalben in den 1960er-Jahren aufkamen und noch zum Teil unkritisch ohne Beachtung der Nebenwirkungen über längere Zeiträume eingesetzt wurden. Entsprechende Aufklärungskampagnen hinsichtlich des Nutzen-/Risikoprofils können durch Informationsbroschüren unterstützt werden und fördern die notwendige Compliance.

Versagerangst (Lifestyle-Impotenz)

Libido- und Erektionsstörungen sind das Modellbeispiel biopsychosozialer Erkrankungen, weil zusätzlich zur andrologisch somatischen Störung, Partnerschaftsprobleme, übertriebene sexuelle Normen der Gesellschaft, Modeströmungen, Medien- und heute besonders Interneteinflüsse eine zentrale Rolle spielen. Verstärkende Kofaktoren sind körperliche Anspannungssituationen, Angst vor Entdeckung (Kinder, Eltern) oder Schwangerschaft, berufliche Probleme, Termindruck, Unzufriedenheit, Wut, aber auch sexuelle Langeweile oder Glaubensfragen, die eine entspannte Sexualität verhindern. Bereits im Vorfeld des Sexualkontakts kann die Angst vor dem Versagen hinsichtlich einer möglichen erektilen Dysfunktion so dominieren, dass keine Erektion zustande kommt. Weiterhin kann nach erfolgreicher Immissio die Angst, nicht lange genug durchzuhalten oder den Partner nicht ausreichend zu befriedigen, den Mann unter Stress setzen und zur Abnahme der Rigidität und Erektion während des Koitus führen. Hat der Patient mehrmals solche Erfahrungen gemacht, kommt es zum Aufschaukeln einer Versagerangst. Ist sich der Patient seiner Versagerangst bewusst, tritt eine Angst vor der Angst hinzu.
Angst vor dem Versagen führt zum Versagen. Versagen führt zu Erwartungsangst und Vermeidung.
Nimmt dieser Kreislauf weiter zu, kann die Angst zu Versagen zur Vermeidung von jeglichem Sexualkontakt führen.

Schönheitskrankheiten

Schönheit basiert körperlich auf vier Hauptmerkmalen: Geruch, Stimme, Gang und Aussehen. Speziell im Gesicht stehen eine glatte Haut sowie voluminös sinnliche Lippen und große, kindliche Kulleraugen im Fokus der ästhetischen Wahrnehmung. Schönheit wird maßgeblich durch Medientrends beeinflusst. Die dargebotenen faltenfreien und perfekten digitalen Bilder wurden am Computer bearbeitet und entsprechen keinem wirklich natürlichen Abbild. Spezielle psychosomatische Symptome wie Minderwertigkeitsprobleme und Selbstwertstörungen treten dabei meist im Zusammenhang mit unerreichbaren Schönheitsidealen der Medien auf, die eine Generierung psychischer Störungen beim Vergleich von Selbstbild und Idealbild verstärken.

Körperdysmorphe Störung

Besonders häufig und für den Dermatologen relevant ist die körperdysmorphe Störung.
Bei der körperdysmorphen Störung steht die übermäßige Beschäftigung mit einem vermeintlichen Mangel oder einer Entstellung im körperlichen Aussehen im Zentrum der Beschwerdesymptomatik.
Das Spektrum der vermeintlichen Mängel der Haut und Hautanhangsgebilde ist unendlich variabel: Schwitzen, Falten, Haare, Pigmentflecken, Blutschwämmchen, Flush, ektope Talgdrüsen, Lingua geographica sowie die Proportion der Nase, Brust oder des Genitalbereichs.
Charakteristisch ist die ständige Beschäftigung mit dem Äußeren oftmals über Stunden vor dem Spiegel. Bei der körperdysmorphen Störung finden sich meist Minderwertigkeitsgefühle sowie affektive Störungen, soziale Phobien/Angststörungen und Zwangsstörungen.
Cave: Körperdysmorphe Störungen stellen eine absolute Kontraindikation für operative Wunschbehandlungen dar.
Dorian-Gray-Syndrom
Als Dorian-Gray-Syndrom (Romanfigur bei Oscar Wilde) wird eine körperdysmorphe Störung mit narzisstischer Regression, Soziophobie und starkem Wunsch nach Bewahrung der Jugendlichkeit definiert. Die drei Originalkriterien lauten:
  • Eine übermäßige Beschäftigung mit der äußeren Erscheinung (körperdysmorphe Störung).
  • Eingebildete oder minimale Fehler der äußeren Morphe werden mit Scham und sozialem Rückzug (narzisstische Regression) beantwortet.
  • Neben der überwertigen Sorge um das äußere Erscheinungsbild besteht ein starker Wunsch, die Jugendlichkeit zu bewahren, somit nicht zu altern und gleichsam sich gegen den Strom der Zeit zu stemmen (Verleugnung der Reifungsprozesse).
Sisi-Syndrom und Depression
Dieses Syndrom wurde erstmals 1998 beschrieben und ist benannt nach der österreichischen Kaiserin Elisabeth (Sisi 1837–1898), die an einer depressiven Störung litt, gleichzeitig jedoch auch einen übermäßigen Schönheitskult (Haare und Figur) und sportliche Aktivitäten (Gymnastik, Reiten, Fechten, Wandern) sowie Reiseaktivitäten (Flucht aus dem Umfeld) betrieb.
Sisi ist demnach der Prototyp eines modernen depressiven Patiententypus, der seiner depressiven/dysthymen Störung und inneren Leere durch hektische Aktivität zu entfliehen versucht und nach außen hin nicht eine antriebsarme und leidende, sondern dynamische Persönlichkeit darstellt.
Die Merkmale des Sisi-Syndroms sind:
  • Sportliche Aktivitäten im Fitnessstudio oder Joggen zum Abbau von Unruhezuständen
  • Sinnsuche in Freizeitaktivitäten, besonders Reisen, einschließlich der Flucht vor einer inneren Leere
  • Streben nach idealem Äußeren
Die Betroffenen zeigen selbst im Urlaub ständig Aktivität oder verausgaben sich im Fitnessstudio bis zur totalen Erschöpfung, um dabei Selbstbestätigung zu empfinden und das Gefühl der Sinn- und Wertlosigkeit zu überdecken, die besonders beim Alleinsein manifest werden.
Botulinophilie
Seit der Einführung und Anwendung von Botulinumtoxin bei der Hyperhidrose wurde als Nebeneffekt diese Therapieform auch von Gesunden entdeckt und trotz normaler körperlicher Funktion als Lifestyle-Therapie gewünscht. Für die neue Lifestyle-Venenophilie nach Botulinumtoxin, insbesondere bei körperdysmorphen Störungen mit normwertigem, physiologischem Schwitzen und hartnäckiger Forderung nach Botulinumtoxin-Therapie, wurde die Diagnose Botulinophilie vorgeschlagen. Auch eine normwertige Gravimetrie kann die Betroffenen nicht immer von der falschen Beurteilung als Krankheit abbringen. Ein typisches Patientenzitat ist: „Aber ich schwitze doch“.
Tanorexie
Tanorexie (Bräunungssucht) bezeichnet das krankhafte und übertriebene Verlangen und Streben nach ständiger Hautbräune, die durch häufige Solariumbesuche oder Sonnenbad in der Natur erzielt werden soll. Der Begriff leitet sich aus dem Englischen to tan (bräunen) und der Anorexia nervosa (Magersucht) ab. Die psychische Konstellation ist vergleichbar zur Substanzabhängigkeit (Drogen, Medikamente, Alkohol, Nikotin) und zeigt Parallelen zu den gestörten und verzerrten Körperschemastörungen von Magersüchtigen auf. Über eine „perfekte Bräune“ wird charakteristischerweise das eigene Selbst und Schönheitsideal definiert. Die Folgen sind eine vorzeitige Hautalterung, Pigmentstörungen und langfristig das erhöhte Risiko für maligne Hautneoplasien.

Körpermodifikationen

Tätowierung, Piercing, Branding und Mensur

Ästhetische Körperveränderungen im Zusammenhang mit Modeerscheinungen werden als Lifestyle-Phänomene angesehen und gehören nicht zu den psychopathologischen Selbstverletzungen im engeren Sinne (Kap. „Psychodermatologische Krankheitsbilder“). Weiterhin hat eine Vielzahl von Körpermodifikationen einen rituellen oder religiösen Hintergrund, wie genitale Beschneidung oder Ohrstecker bei Mädchen im Vorschulalter, die selbst noch nicht einwilligungsfähig sind. Zu den traditionellen ästhetischen Eingriffen zählen beispielsweise die Erzeugung von Keloiden als Schmucknarben oder die Einbringung von Fremdkörpern bei Naturvölkern, die seit Jahrtausenden praktiziert wird. Spätere Rituale einer gewünschten Stigmatisierung umfassen die Mensur bei schlagenden deutschen Studentenverbindungen sowie modernere Trends wie Branding, Tätowierungen, Piercings (Kap. „Dyschromien, Piercings und Tätowierungen“) oder die Einbringung von Nervengiften (Botox) und Brustimplantaten (Abb. 1 und 2).
Besonders Grenzüberschreitungen des guten Geschmacks in der ästhetischen Körpermodifikation haben zu langwierigen Moraldiskussionen geführt. „Was darf man und was nicht?“
Ob man sich einen Teller in die Unterlippe einbringt (Naturvölker), ein drittes Ohr an den Unterarm anbringen lässt (Künstler Stelarc), sich zu einem Tiger (Dennis Avner) oder zukünftig zu einer Erdbeere umoperieren lässt, zeigt, dass Schönheit keine Moral und keine Tabus kennt. Die ästhetische Medizin ist abhängig vom eigenen Schönheitskonzept und gesellschaftlichen Modeströmungen.

Lifestyle-Medikamente in der Dermatologie

Freizeit, Lebensgenuss, Spaß und Selbstverwirklichung mit Attraktivität, Jugendlichkeit und Erfolg werden besonders von der jüngeren Generation als Lebensziele definiert.
Wer jedoch Normvarianten aufzeigt oder in die Jahre kommt, hat Mühe den jugendlichen Lifestyle aufrecht zu erhalten und versucht Abweichungen entgegenzuwirken. Dies hat auch immer mehr Auswirkungen auf das Gesundheitswesen. Im Bereich der gesamten Medizin und insbesondere in der Dermatologie haben dabei Lifestyle-Medikamente in den letzten Jahren eine zunehmende Bedeutung erlangt.
Lifestyle-Medikamente sollen eine trendabhängige, individuelle Lebensqualität verbessern, ohne dass eine Krankheit oder entsprechende Therapieindikation vorliegt.
Zu den Hauptgruppen von Lifestyle-Medikamenten zählen Nootropika, Psychopharmaka, Hormone und Ecodrugs, die zur Behandlung der erektilen Dysfunktion, Steigerung der sexuellen Potenz, der Raucherentwöhnung, der Abmagerung oder Zügelung des Appetits, der Regulierung des Körpergewichts sowie der Verbesserung des Haarwuchses dienen (Tab. 2).
Tab. 2
Häufige Lifestyle-Medikamente
Arzneimittel
Indikation
Lifestyle-Anwendung oder Missbrauch
Botulinumtoxin Methantheliniumbromid
Hyperhidrosis
Abstellen des normalen belastungsabhängigen Schwitzens, körperdysmorphe Störung, Soziophobie, Schamstörung
Isotretinoin
Beseitigung einer normalen Seborrhoe
Traum nach ewiger Jugend
Metformin, Crestor, Simvastatin, Orlistat, Sibutramin
Anorexia nervosa, Sisi-Syndrom
Minoxidil, Finasterid
Androgenetische Alopezie
Körperdysmorphe Störung bei regelrechtem Befund
Modafinil
Müdigkeit
Paroxetin, Fluoxetin
Depressive Störung
Schüchternheit, Scham
Sildenafil, Tadalafil
Ewige Potenz und 100 % kontrollierbare Erektion
Somatotropin
Hypophysärer Kleinwuchs
Jungbrunnen, Doping
Testosteronmangel
Midlife Crisis
In der Dermatologie steht die Einnahme von Lifestyle-Medikamenten zur Beeinflussung kosmetischer Befunde im Vordergrund, die meist lediglich Folge natürlicher Alterungsprozesse der Haut sind.
Besonders abzulehnen ist die Lifestyle-Anwendung von verschreibungspflichtigen Medikamenten („Medikamente für Gesunde“), deren Einnahme medizinisch nicht indiziert ist. Es handelt sich um einen Medikamentenmissbrauch im erweiterten Sinne mit teilweise erheblichem Nebenwirkungsrisiko oder fahrlässigem Missbrauch und Überdosierung.
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