Eine ganzheitliche Betreuung während Schwangerschaft und Geburt umfasst nicht nur die optimale, evidenzbasierte somatische Überwachung der Schwangeren, sondern auch die Berücksichtigung und das Einbeziehen der psychosozialen Perspektive. Dies ist umso wichtiger als die Peripartalzeit und die in diesem Kontext gemachten Erfahrungen einen prägenden Einfluss auf das ganze weitere Leben der Schwangeren und ihres Partners haben können. Bei der Betreuung von werdenden Eltern haben alle beteiligten Fachleute – ÄrztInnen, Hebammen, Pflegefachfrauen – immer wieder Anteil an den beglückendsten, aber auch an den erschütterndsten Momenten, mit denen man im Klinikalltag konfrontiert sein kann. Dabei kommt der Beziehung zwischen ÄrztInnen, Hebammen und Schwangeren eine zentrale Bedeutung zu. In ihr kann das Vertrauensverhältnis entstehen, das notwendig ist, damit die Patientin mit etwaigen Ängsten und dem zeitweiligen Kontrollverlust umgehen kann. Je nach Patientin, Situation und Zeitpunkt während des Schwangerschaftsverlaufs sind die Haltung und die Vorgehensweise von ÄrztInnen und Hebammen mehr partnerschaftlich oder mehr fürsorglich geprägt.
Betreuung während der Schwangerschaft
Im
1.
Trimenon ist eine eventuelle Ambivalenz der Schwangerschaft gegenüber zu berücksichtigen. Bei Feststellung einer Schwangerschaft sollte immer danach gefragt werden, was diese für die Frau bedeutet: Ist sie geplant, erwünscht, wie ist die aktuelle Partnerschafts- und Lebenssituation, welche Gefühle löste die Vermutung bzw. der Nachweis einer Schwangerschaft aus? Das Gespräch sollte Raum bieten für eventuelle Gefühle der Ablehnung und der Besorgnis. Die Frau sollte nicht das Gefühl haben, freudiger Erwartung sein zu müssen. Stellt sich heraus, dass ein
Schwangerschaftskonflikt besteht, ist die Frau ergebnisoffen und wertfrei zu beraten. Ziel eines solchen Beratungsgesprächs ist es, die Frau dahingehend zu begleiten und zu unterstützen, dass sie für sich eine informierte, reflektierte und selbstbestimmte Entscheidung im Hinblick auf das Austragen der Schwangerschaft oder den
Schwangerschaftsabbruch treffen kann. Dafür bedarf es einer patientinnenzentrierten Gesprächsführung und eines lösungs- und kompetenzorientierten Ansatzes.
Ist die Schwangerschaft erwünscht, sollte frühzeitig auf die Angebote der Pränataldiagnostik (PND) hingewiesen werden, damit die Schwangere Zeit hat, sich mit ihrem Partner zusammen Gedanken darüber zu machen.
Im
2. Trimenon werden die Kindsbewegungen spürbar und die Beziehungsaufnahme der Schwangeren mit ihrem Kind konkretisiert sich. Bei vielen Schwangeren ist klar ersichtlich ist, dass sie in einem Dialog mit ihrem Kind stehen. Bei denjenigen, bei denen dies weniger offensichtlich ist, ist es sinnvoll, danach zu fragen. Bekundet die Frau Mühe damit, kann sie einerseits ermuntert werden, sich mehr darauf einzulassen, sollte sie andererseits aber auch darin unterstützt werden, ihren individuellen Weg zu finden. Bei expliziter Distanziertheit hingegen ist nach Symptomen einer Depression zu suchen (s. Abschn.
5.1). Im 2. Trimenon sollten auch die Planung des Lebens mit dem Kind sowie berufliche und soziale Fragen thematisiert werden. Hinweise auf mögliche Auswirkungen der Peripartalzeit auf Partnerschaft und Sexualität können Fehlvorstellungen und Problemen entgegenwirken (Serati et al.
2010). Die Nachfrage nach den Vorstellungen betreffend den Entbindungsort kann für die Schwangere (und ihren Partner) hilfreich sein, um sich über die eigenen Vorstellungen bezüglich technischer Sicherheit und dem Bedürfnis nach Geborgenheit klar zu werden. Es sollte darauf geachtet werden, dass Frauen in speziellen Konstellationen, wie z. B. Adoleszente oder Schwangere ohne Partner ihrer Situation und ihren Bedürfnissen entsprechende Beratung und Unterstützung erhalten.
Im 3. Trimenon steht die Vorbereitung auf die Geburt im Vordergrund. Die Schwangere sollte nach ihren Erwartungen gefragt werden. Bestehen noch keine konkreten Vorstellungen, kann die Frau bzw. das Paar ermuntert werden, solche zu entwickeln. Im Idealfall bestehen klare Vorstellungen bei gleichzeitiger Offenheit und Neugier für den Geburtsverlauf mit allem, was er an Unvorhersehbarem mit sich bringen kann. Es versteht sich von selbst, dass dieser Idealfall in Abhängigkeit der Persönlichkeiten der Schwangeren und ihres Partners und der Begleitumstände sicher nicht immer erreicht werden kann. Planung und Vorbereitung helfen, Ängste zu mindern und einem befürchteten Kontrollverlust entgegenzuwirken.
Vorgeburtliche Aufklärung darüber, was die Frau bei der Geburt erwartet, fördert das Vertrauen, dass der eigene Körper dieser Aufgabe gewachsen sein wird, und steigert das Kohärenzgefühl. Ein höheres Kohärenzgefühl erwies sich in einer Studie als prädiktiv für eine komplikationslose Entbindung (Oz et al.
2009).
Was die Wünsche und Vorstellungen anbelangt, so ist immer auch zu berücksichtigen, dass der jeweilige kulturelle Hintergrund eine entscheidende Rolle spielt. Bei Paaren mit Migrationshintergrund ist es entsprechend wichtig, die Bedürfnisse individuell zu erfassen und soweit möglich zu berücksichtigen.
In den letzten 20 Jahren ist die Sectiorate in den deutschsprachigen Ländern von knapp einem Viertel auf fast ein Drittel aller Geburten angestiegen und in zunehmendem Maße werden auch
Kaiserschnitte auf Wunsch ohne medizinische Indikation vorgenommen (OECD
2015). Heutzutage besteht weitgehender Konsens, dass einer Schwangeren, die nach ausführlicher Beratung und Darlegung der Vorzüge einer Vaginalgeburt und der Nachteile einer Sectio, weiterhin an ihrem Anliegen festhält, dies nicht vorenthalten werden sollte. Dies gilt insbesondere für den Fall, dass eine Frau dies wünscht wegen einer traumatisch erlebten vorangehenden Geburt. Ist diese Erfahrung noch nicht ausreichend verarbeitet, besteht die Gefahr einer erneuten Traumatisierung mit den entsprechenden Folgen (s. Abschn.
4.5.2). Zudem hat eine Studie gezeigt, dass Frauen, die sich infolge eines Traumas eine Sectio wünschten, im Anschluss daran mit ihrer Entscheidung und der gemachten Erfahrung zufrieden waren (Traub
2021). Gleichzeitig sprechen die sich bei wiederholten Kaiserschnitten ergebenden Komplikationen während Schwangerschaft und Geburt dafür, präventiv aktiv zu sein. Dazu eignen sich einerseits Information und Beratung, denn der Wunsch nach einem Kaiserschnitt basiert nicht selten auf Fehlvorstellungen, etwa jener, dass dieser Geburtsmodus besser sei für das Kind. Andererseits sind Ansätze wichtig, die eine Traumatisierung unter der Geburt vermeiden helfen. Wenn es zu einer Traumatisierung gekommen ist, ist es wichtig, diese frühzeitig zu erkennen und Hilfe bei der Verarbeitung zu bieten (s. auch Abschn.
4.5.2).
Geburtsbetreuung
Eine Geburt ist für die werdenden Eltern ein zentrales Lebensereignis und für die Schwangere eine physische und psychische Ausnahme- und Belastungssituation. In Anbetracht dessen ist es nicht ausreichend, wenn sich GeburtshelferInnen darauf konzentrieren, dass die Entbindung in technischer Hinsicht erfolgreich verläuft, sondern sie sollten auch die emotionale Ebene und das subjektive Erleben bei der Betreuung berücksichtigen. Nur mit einer solchen biopsychosozialen Herangehensweise wird neben der optimalen medizinischen Versorgung auch dem psychischen Wohlergehen der Gebärenden gebührend Rechnung getragen.
Wie die Gebärende die Betreuung erlebt, ist ganz entscheidend für ihre Zufriedenheit mit der Geburt. Ein positives Geburtserleben wiederum fördert ihr Wohlbefinden und ein gutes Bonding mit dem Kind. Ein negatives Geburtserleben dagegen ist assoziiert mit Schwierigkeiten beim
Stillen,
posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS), Geburtsangst, längerem Intervall bis zur nächsten Schwangerschaft, Stress in einer darauffolgenden Schwangerschaft und dem Wunsch nach einer Sectio (Edozien
2017b).
In den letzten Jahrzehnten lässt sich bei der Geburtsbetreuung eine Entwicklung beobachten, die auch den gesellschaftlichen Wandel widerspiegelt. Der Technikeuphorie in den 1970er-Jahren folgte eine u. a. durch die Frauenbewegung der 1980er-Jahre ausgelöste Hinwendung zur natürlichen und „sanften Geburt“, entsprechende Konzepte gehen auf Frederick Leboyer und Ferdinand Lamaze zurück. Mit der Globalisierung in den 1990er-Jahren und dem Aufkommen der
evidenzbasierten Medizin wurden schließlich die Grundlagen für die heutigen Betreuungskonzepte geschaffen. Es geht darum, ein geburtshilfliches Angebot und nicht in erster Linie ein feststehendes Programm zu haben. Gemeinsam mit der Schwangeren kann flexibel eine passende Form ausgewählt werden. Dies ist die Grundlage für eine ganzheitliche, biopsychosoziale Geburtsbetreuung, bei der die Bedürfnisse der Gebärenden berücksichtigt werden. Dafür ist es wichtig, sie vor und während der Geburt proaktiv nach ihrer Meinung zu fragen. Eine kontinuierliche Rückversicherung während des Geburtsverlaufs, gibt der Gebärenden und ihrem Partner das Gefühl, verstanden und wahrgenommen zu werden.
Komponenten der biopsychosozialen Geburtsbetreuung
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Geborgenheit vermittelnde Umgebung
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Personenzentrierte und kultursensitive Betreuung
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Adäquate und situationsangepasste Informationsvermittlung
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Einbeziehen bei Entscheidungen
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Empathische, einfühlsame Betreuung
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Kontinuierliche Betreuung
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Einbeziehen des Partners
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Optimale und ganzheitliche Schmerzbekämpfung
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Optimales Management bei mangelhaftem Geburtsfortschritt
Viele Geburtskliniken haben die Komponenten einer ganzheitlichen Geburtsbetreuung teilweise oder weitgehend in ihr Angebot integriert, und Befragungen von Frauen zu ihrer Geburt weisen darauf hin, dass ein großer Prozentsatz sich z. B. ausreichend in die Entscheidungsprozesse involviert fühlt (Edozien
2017b). Dennoch war in den letzten Jahren das Thema „
Gewalt unter der Geburt“ in den Medien zunehmend präsent. Gemäß der World Health Organization (WHO) ist darunter eine Reihe respektloser, missbräuchlicher oder vernachlässigender Behandlungen während der Entbindung zu verstehen, die die Rechte der Frauen verletzen und diese auch davon abhalten können, zukünftig Angebote der Schwangerenvorsorge in Anspruch zu nehmen (WHO
2014). Studien v. a. aus Entwicklungsländern lassen vermuten, dass mangelhafte Berücksichtigung der Bedürfnisse der Gebärenden in erster Linie durch fehlendes oder schlecht ausgebildetes Personal zustande kommt. Dies ist im deutschsprachigen Raum sicher weniger ein Problem, aber auch hier kann sich der zunehmende ökonomische und Leistungsdruck im Klinikalltag negativ auf die geburtshilflichen Teams auswirken. Frauen, die von Gewalterfahrungen berichten, äußern im Allgemeinen, dass sie sich nicht gehört, nicht wahrgenommen und ausgeliefert fühlten. Im Wissen, dass heutzutage nicht selten übertriebene Ansprüche und nicht erfüllbare Wünsche an die Geburtshilfeteams herangetragen werden, sollten solche Berichte ein Signal sein, die eigene Herangehensweise immer wieder kritisch zu beleuchten.
Betreuung postpartal
Eine biopsychosoziale Herangehensweise impliziert, dass die Wöchnerin sich mit eventuellen körperlichen Beschwerden ernst- und wahrgenommen fühlt, dass ihrer emotionalen Verfassung Rechnung getragen und dass sie in ihrer Interaktion mit dem Kind unterstützt wird.
In den ersten Stunden und Tagen nach der Geburt steht der Beziehungsaufbau zwischen dem Neugeborenen und der Mutter bzw. den Eltern im Zentrum. Der unmittelbare körperliche Kontakt mit dem Kind nach der Geburt soll ermöglicht und gefördert werden. Ist das Bonding in dieser Form wegen einer Sectio oder einer geburtshilflichen Komplikation nicht möglich, dann ist es allerdings essenziell, die Frau zu entlasten und ihr Möglichkeiten aufzuzeigen, wie der fehlende körperliche Erstkontakt „kompensiert“ werden kann. Die Frau ist überdies mit körperlichen Veränderungen und Herausforderungen konfrontiert. Das können Wundschmerzen, Nachwehen und vor allem auch der Milcheinschuss und das Ingangkommen des
Stillens sein. Gerade diesen Prozess gilt es in geeigneter Form zu unterstützen, d. h. zu motivieren, aber nicht Druck auszuüben. Die Frau kann sich sonst rasch überfordert fühlen und Insuffizienzgefühle entwickeln.
Ganz entscheidend ist auch, das Geburtserleben anzusprechen. Mit einer offenen Frage – z. B. „Wie fühlen Sie sich jetzt, wenn Sie an die Geburt zurückdenken?“ – kann Raum geschaffen werden, damit die Frau sich frei äußern und gegebenenfalls auch widersprüchliche Eindrücke und Ambivalenz zulassen und zum Ausdruck bringen kann. Nicht selten lassen sich damit Missverständnisse klären und Enttäuschungen relativieren, womit wiederum Versagensgefühlen entgegengewirkt werden kann. Dies ist vor allem auch in präventiver Hinsicht zum Vorbeugen einer PTBS wesentlich (s. auch Abschn.
4.5.2). Generell und insbesondere dann, wenn Unzufriedenheit mit dem Geburtsverlauf bekundet wird, ist es wichtig, auch den Partner anzusprechen und einzubeziehen.
Im
Wochenbett können sich verschiedene Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Versorgung des Säuglings oder auch gesundheitlichen Problemen des Kindes ergeben. Dies ruft in der Regel große Sorgen und Ängste bei den Eltern hervor. Insgesamt und gerade in solchen Situationen ist eine interdisziplinäre und interprofessionelle Zusammenarbeit aller in die Betreuung Involvierter essenziell. Widersprüchliche Aussagen und Einschätzungen können Verwirrung und zusätzliche Verunsicherung fördern und das nötige Vertrauen untergraben. Mit guter Absprache in und zwischen den Teams kann dem entgegengewirkt werden; gleichzeitig trägt der Austausch in der Regel auch zur Entlastung der Betreuenden bei.