Oxidativer Stress wird ausgelöst durch endogene und exogene Störungen der Energie- und Metabolismushomöostase. Trotz zahlreicher Korrelationen von oxidativem Stress und pathologischen Zuständen ist in vielen Fällen nicht gesichert, ob es sich um kausale Zusammenhänge oder nur um Korrelationen, Mitbeteiligungen („cofounder“) oder sekundäre Veränderungen handelt. Außerdem sind Bildung, Wirkung und Entfernung (Degradation oder Scavenging durch
Antioxidantien) der ROS auf bestimmte Kompartimente beschränkt, sodass der extrazelluläre Raum und die Urinausscheidung oft keine Interpretation erlauben. Wichtig ist auch die Höhe und der zeitliche Verlauf des oxidativen Stresses, da unter physiologischen Verhältnissen reaktive Sauerstoffspezies auch wichtige Signal- und Botenstofffunktionen besitzen (Inflammation, Angiogenese, Proliferation). Sowohl sehr niedrige als auch hohe Konzentrationen von ROS sind schädlich, die Wirkungskurve ist nicht linear, sondern hat einen U-förmigen Verlauf, was als Hormesis/Mitohormesis bezeichnet wird (Ristow und Schmeisser
2011) und eine Form der Präkonditionierung darstellen kann.
Oxidativer Stress und die resultierenden Zellschäden sind bei chronischen Erkrankungen vorhanden.
In jüngerer Zeit wird intensiv der Einfluss von oxidativem Stress auf neurodegenerative Erkrankungen untersucht, denn die Schädigung von Proteinen, DNA und Signalwegen sowie die Ablagerungen von Plaques bei Demenzerkrankungen (Alzheimer- und Parkinson-Krankheit sowie bei
amyotropher Lateralsklerose) sind mit oxidativem Stress assoziiert oder werden davon ausgelöst.
Diabetische Neuropathien und
Nephropathien haben Zeichen von oxidativem und Carbonylstress, wobei sowohl die Glykoxidation als auch die Bindung der „advanced glycation end products“ (ε-Carboxymethyllysin,
Pentosidin) an den AGE- Rezeptor reaktive Sauerstoff- und Stickstoffspezies induzieren. Das frei permeable H
2O
2 aktiviert über NFκB verschiedene
Zytokine, Endothelin-1, vaskulären endothelialen Wachstumsfaktor und TGF-β (Baynes und Thorpe
1999). Die Wirkung von oxidativem Stress auf Entstehung, Progression oder Hemmung von Karzinomen ist noch weitgehend ungeklärt und von Art, Genetik, Lokalisation und Entwicklungszustand des Karzinoms abhängig. Einerseits werden Transkriptionsfaktoren (NFκB, AP-1 und „hypoxy-induced factor-1“) für Entzündungen, Proliferation, Angiogenese und Metastasierung induziert und DNA geschädigt (Oxidation, Strangbrüche, „cross-links“), andererseits aber auch die Expression von
Tumorsuppressorgenen (p53, Retinoblastomprotein und PTEN [„phosphatase and tensin homolog“]) gesteigert. Auch Radio- und Chemotherapie werden wahrscheinlich durch den ausgelösten oxidativen Stress unterstützt und Resistenzen beseitigt, während normale Zellen weniger sensitiv gegenüber erhöhten ROS sind.
Oxidativer Stress ist auch bei akuten Erkrankungen deutlich vorhanden und ist als prognostischer Indikator bei
Sepsis, multiplem Trauma,
Schlaganfall und akuten Herzinfarkt, Ischämie und Reperfusion verwendbar. Im Notfall und auf Intensivstation bleibt nicht so viel Zeit, die einzelnen reaktiven Sauerstoffspezies spezifisch zu erfassen. Die Messung des totalen Redoxpotenzials (zukünftig möglichst als POCT) und der Redoxkapazität ist deshalb für Erfassung und Monitoring des oxidativen Stresses und der Prüfung der eingesetzten Pharmaka notwendig. Eine andere Möglichkeit ist die automatisierte Messung der „advanced oxidation protein products“ (AOPP, Dityrosin, Carbonylproteine und
Pentosidin) bei 340 nm mit Chloramin T als Standard (Selmeci et al.
2005). Bewährt haben sich Messungen der Ratio der reduzierten und oxidierten Formen von
Harnsäure/Allantoin, Askorbinsäure,
Glutathion und Ubichinon (Kandár
2016). Weitere Messungen zum oxidativen Stress s. u.
Reaktive Sauerstoffspecies.