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Pädiatrie
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Publiziert am: 26.04.2019

Dysostosen

Verfasst von: Andrea Superti-Furga
Dysostosen sind Fehlbildungen einzelner Knochen oder Knochengruppen. Sie sind das Ergebnis einer gestörten Morphogenese in der frühen Embryonalzeit. Im Unterschied zu Dysplasien ist die pathologische Entwicklung bereits vor der Geburt abgeschlossen, und die fehlgebildeten Organe sind histologisch normal. Dysostose und Dysplasie können kombiniert auftreten, wenn ein Gen sowohl die pränatale Morphogenese als auch postnatal die Entwicklung und das Wachstum steuert. Ein Beispiel ist die Fibrodysplasia ossificans progressiva, die sich bei der Geburt mit einer Hypoplasie der Großzehen, oft auch des Daumens, und postnatal mit ektopischer Knochenbildung in Muskel und Bindegewebe manifestiert. Dies kann durch die gestörte Funktion eines Signalgens erklärt werden, welches sowohl die Morphogenese als auch die postnatale Gewebshomeostase beeinflusst.
Definition und Klassifikation
Dysostosen sind Fehlbildungen einzelner Knochen oder Knochengruppen. Sie sind das Ergebnis einer gestörten Morphogenese in der frühen Embryonalzeit (Kap. „Osteochondrodysplasien“). Im Unterschied zu Dysplasien ist die pathologische Entwicklung bereits vor der Geburt abgeschlossen, und die fehlgebildeten Organe sind histologisch normal. Dysostose und Dysplasie können kombiniert auftreten, wenn ein Gen sowohl die pränatale Morphogenese als auch postnatal die Entwicklung und das Wachstum steuert. Ein Beispiel ist die Fibrodysplasia ossificans progressiva, die sich bei der Geburt mit einer Hypoplasie der Großzehen, oft auch des Daumens, und postnatal mit ektopischer Knochenbildung in Muskel und Bindegewebe manifestiert. Dies kann durch die gestörte Funktion eines Signalgens erklärt werden, welches sowohl die Morphogenese als auch die postnatale Gewebshomeostase beeinflusst.
Die embryonale Entwicklung der mesenchymalen Skelettanlagen spielt sich unter einer intensiven Wechselwirkung mit derjenigen von anderen mesodermalen und ektodermalen Strukturen ab. Abhängig von der räumlichen und zeitlichen Expressionsbreite der ursächlich beteiligten Signalgene oder exogenen Ursachen kommen Dysostosen isoliert oder häufig in Kombination mit anderen Dysostosen und Fehlbildungen an anderen Geweben oder Organen vor. Vielzahl und Komplexität der an der Entwicklung beteiligten Gene und Steuerungsprozesse lassen eine pathogenetische Klassifikation nur teilweise zu. Die Dysostosen werden daher nach anatomischen Gesichtspunkten geordnet.
Ätiologie
Primäre Dysostosen entstehen durch Mutationen von Entwicklungsgenen. Sekundäre Dysostosen sind seltener und entstehen durch Einwirkung exogener Faktoren, die nur in Einzelfällen erkannt werden können (z. B. Thalidomid, Varizellen, vaskuläre Disruptionen) und öfters unbekannt bleiben. Die relative Bedeutung exogener und genetischer Faktoren ist noch unklar, weil genetische Faktoren in der Vergangenheit unterschätzt, exogene Faktoren hingegen überschätzt wurden. Es ist zu erwarten, dass bei sporadisch auftretenden und bislang exogenen Faktoren zugeschriebenen Formen eine genetische Grundlage, auch in Form somatischer Mutationen, nachgewiesen werden wird.

Schädel

Kraniosynostosen

Definition
Der Begriff Kraniosynostose bezeichnet den vorzeitigen Verschluss einer Schädelnaht, der Begriff Kraniostenose die Einengung des Schädelinnenraums als Folge einer Kraniosynostose. Der angloamerikanische Sprachgebrauch kennt diese Unterscheidung nicht und verwendet beide Begriffe synonym für vorzeitigen Nahtverschluss.
Physiologie
Das randständige Wachstum der desmalen Knochenschuppen ist durch eine aktive Wachstumszone gegeben, die weder anatomisch noch funktionell restlos aufgeklärt ist. Diese Wachstumszone wird ähnlich wie andere Wachstumsfugen durch Signalproteine gesteuert (wie TGFβ1 [transforming growth factor beta 1], FGFRs [fibroblast growth factor receptors], TWIST-Transkriptionsfaktor und andere), aber auch durch die Zugspannung, die durch den Druck des Liquors sowie durch den Wachstumsdruck des Gehirns entsteht. Mutationen in den für Signalproteine kodierenden Genen führen zu charakteristischen genetischen Kraniosynostosen.
Der molekulare Mechanismus des Nahtverschlusses ist komplex und weitgehend unbekannt. Weisen die genetischen Kraniosynostosen auf die Einflüsse lokal exprimierter Genprodukte, so bestimmen auch zahlreiche extraossäre Faktoren Zeitpunkt und Mechanismus des Nahtverschlusses. Die Bedeutung einer nachlassenden Nahtspannung durch den Wachstumsstillstand des Gehirns zeigt der vorzeitige allgemeine Nahtverschluss bei Mikroenzephalie.
Ätiologie, Klassifikation
Die Kraniosynostose ist ein multikausales Phänomen, keine Krankheitseinheit. Primäre Kraniosynostosen entstehen durch endogene Störungen des Wachstums der Nähte. Beispiele sind Mutationen von Genen, die unmittelbar das Knorpel-Knochenwachstum beeinflussen (Tab. 1).
Tab. 1
Klassifikation exemplarischer Dysostosen in Anlehnung an die Klassifikation der International Society of Skeletal Dysplasias. (nach Bonafé et al. 2015). Da laufend neue Erkenntnisse erzeugt werden, soll diese Tabelle zur Orientierung dienen; unbedingt Primärliteratur und Online-Databasen, wie OMIM (www.omim.org) konsultieren
Kondition
Klinik
Erbgang
OMIM-Nr.
Gen
Bemerkung
Kraniosynostosen (isoliert und syndromal) und kraniale Dysostosen
Pfeiffer-Syndrom
Kraniosynostose, breite Daumen und Großzehen
AD
101.600
FGFR1, FGFR2 Fibroblast growth factor receptor 1, 2
 
Kraniosynostose, ausgeprägte Syndaktylien, Schwerhörigkeit
AD
101.200
FGFR2 Fibroblast growth factor receptor 2
 
Kraniosynostose, Proptose der Augen, +/- Chonalstenose
AD
123.500
FGFR2 Fibroblast growth factor receptor 2
 
Kraniosynostose Typ Muenke
Isolierte Synostose der Koronalnaht, manchmal einseitig
AD
602.849
FGFR3 Fibroblast growth factor receptor 3
Spezifische P250R-Mutation in FGFR3
Kraniofrontonasales Syndrom
Breite Stirn, verstrichene Nasenwurzel, große vordere Fontanelle, Hypertelorismus
XLD
304.110
EFNB1 Ephrin B1
 
Saethre-Chotzen-Syndrom
Kraniosynostose, vor allem Koronalnaht; Ptose; Ohrmuscheldysplasie; kleinwuchs
AD
101.400
TWIST-Transkriptionsfaktor
 
Kraniofaziale Dysostosen
Mandibulo-faziale Dysostose (Treacher-Collins, Franceschetti-Klein)
Ohrmissbildung/-atresie, Lidkolobom, Mandibulahypoplasie
AD
154.500
TCOF1, treacle gene Funktion unklar, möglicherweise Zusammenhang mit Mikrotubuli
Seltenere rezessive Formen bekannt
Oro-fazio-digitales-Syndrom Typ 1 (OFD1)
Lippen- und Gaumenspalte, Synpolydaktylie
XLR
311.200
CXORF5 Funktion unklar, möglicherweise Zusammenhang mit Mikrotubuli
 
Akrofaziale Dysostose Typ Nager
Ohrmissbildung/-atresie, Mandibulahypoplasie, Radiusstrahldefekte
AD/AR
154.400
SF3B4-Gen
 
Hemifaziale Microsomie, Goldenhar-Syndrom und Okulo-aurikulo-vertebrales(OAV)-Spektrum
Einseitige Mikrotie, Lidkolobom, epibulbäre Dermoide, Hypoplasie der Gesichtshälfte, Mundasymmetrie, Wirbelkörpermissbildungen, Herzfehler
SP/AD
164.210
Unbekannt – wohl heterogen, einige Fälle auf genetischer Basis, viele nicht
 
Dysostosen der Wirbelkörper und der Rippen
Spondylokostale Dysostose (mindestens 4 Typen, inklusive des sog. Jarcho-Levin-Syndroms)
Schwere Wirbelkörpermissbildungen, fehlende oder fusionierte Rippen
AR
277.300, 608.681, 609.713, 613.686
Dll3 Delta-like 3
MESP2 Mesoderm posterior (expressed in) 2
LFNG Lunatic fringe
HES7
 
Spondylokostale Dysostose, dominanter Typ
Leichtere Missbildungen von Wirbelkörpern und Rippen
AD
 
Unbekannt
 
Currarino-Syndrom
Präsakrales Teratom mit Agenesie/Deformität des Steißbeins
AD
176.450
HLXB9 Homeobox gene HB9
 
Klippel-Feil-Anomalie mit Larynxmissbildung
Dominant vererbtes Klippel-Feil-Syndrom (Abschn. 2.1) mit Missbildung des Larynxknorpels und Dys- oder Aphonie
AD
118.100
GDF6, GDF3
Klinisch wie genetisch heterogen
Brachydaktylien (mit und ohne extraskeletale Erscheinungen)
Brachydaktylie Typ A1
Mäßige Verkürzung aller Finger mit Brachymesophalangie
AD
112.500
IHH Indian Hedgehog
 
Brachydaktylie Typ A2
Verkürzung des Fingers II mit Brachymesophalangie II
AD
112.600
BMPR1B Bone Morphogenetic Protein Receptor 1B
 
Brachydaktylie Typ A3
Brachyklinodaktylie V mit kurzer/fehlender Mittelphalanx
AD
112.700
Unbekannt
 
Brachydaktylie Typ B
Kurze Finger mit kurzen/fehlenden distalen Phalangen und fehlenden Fingernägeln
AD
113.000
ROR2 Receptor Tyrosone Kinase-like Orphan Receptor 2
 
Brachydaktylie Typ C
Verformung und abnorme Segmentation der Finger II und III, normaler (somit überlanger) Finger IV; sehr variabel
AD, AR
113.100
GDF5 Growth and Differentiation Factor 5
 
Brachydaktylie Typ D
Kurze und breite Endphalangen der Daumen und Großzehen
Ad
113.200
HOXD13 Homebox D13
 
Brachydaktylie Typ E
Verkürzung einzelner oder mehrerer Metakarpalia und Metatarsalia, sehr variabel
AD
113.300
HOXD13 Homebox D13
Viele Fälle nicht durch OHXD13 bedingt; oft auch snydromal, z. B. bei AHO
Feingold-Syndrom (Mikrozephalie-okulo-digito-ösophageales-duodenales-Syndrom
Intestinalatresie, Mikrozephalie, Blepharophimose, schwere Brachyklinodaktylie V
AD
164.280
MYCNn MYC-Oncogen
 
Hand-Fuß-Genitale-Syndrom
Verkürzung und Verkrümmung von Fingern und Zehen, Uterusduplikatur, Hypospadie
AD
140.000
HOXA13 Homebox A13
 
Albright’sche hereditäre Osteodystrophie (AHO)
Rundes Gesicht, Entwicklungsverzögerung, leichter Kleinwuchs, kurze Metakarpalia
AD
103.580
GNAS1 Guanine nucleotide binding protein of adenylate cyclase - subunit 1
Allelisch zu polyostotische fibröse Dysplasie und progressive ossäre Heteroplasie
Rubinstein-Taybi-Syndrom
Besondere Fazies, breite Daumen und Großzehen, Entwicklungsverzögerung
AD
180.849
CREBBP CREB-binding Protein
 
Reduktionsdefekte und Hypoplasien
Acheiropodie
Fehlen von Händen und Füßen
AR
200.500
LMBR1-Gen
Sehr selten
Cornelia-DeLange-Syndrom
Faziale Dysmorphie, Mikrozephalie, Hypodaktylie, prä- und postnataler Kleinwuchs
AD
122.470
NIPBL Nipped-B-like
 
Reduktionsdefekte des radialen Strahls (Radius, Daumen) mit Herzfehler (variabel)
AD
142.900
TBX5 T-Box gene 5
 
Okihiro-Syndrom
Reduktionsdefekte des radialen Strahls mit Duane-Anomalie der Augen, Nierenmissbildungen und Analatresie
AD
607.323
SALL4 SAL-like 4
 
Roberts-Syndrom
Schwere Reduktionsdefekte der Extremitäten (Phokomelie, Pseudothalidomid-Syndrom), Lippen-Kiefer-Gaumenspalte
AR
268.300
ESCO2 Homolog of Establishment of Cohesion 2
 
Tetra-Amelie-Syndrom Typ 1 und Typ 2 (TETAMS1, TETAMS2)
Fehlen der gesamten Extremitäten
AR
273.395;
618.021
WNT3-Gen (TETAMS 1);
RSPO1-Gen (TETAMS2)
Beides sehr selten; RSPO1-Form mit Lungenhypoplasie
Ektrodaktylie-ektodermale-Dysplasie-Gaumenspalten-Syndrom (EEC, mindestens 3 Typen)
Charakterisitische Fehlbildung der Finger und Zehen (Ektrodaktylie) mit Gaumenspalte und Haut- und Haaranomalien 8ektodermale Dysplasie)
AD
604.292
129.900
602.077
P63 (TP63)Tumorprotein p63
Allelisch zu: Ankyloblepharon-ectodermal-dysplasia-cleft-lip/palate(AEC)-Syndrom; ADULT-Syndrom
Spalthand-Spaltfuß-Syndrom (SHFM, mindestens 4 Typen)
Schwere Spaltbildung an Händen und Füßen, Oligodaktylie
AD
605.289
183.600
313.350
600.095
606.708
P63 (TP63)Tumorprotein p63 Dactylin, Dactylin
 
Gliedmaßen-Becken-Hypoplasie-Aplasie-Syndrom (Al-Awadi-Raas-Rothschild)
Variable Hypo- bis Aplasie einzelner Extremitäten (auch symmetrisch) mit Beckendeformierung
AR
276.820
WNT7a-Gen
 
Femoral-hypoplasia-unusual-facies-Syndrom
Variable ausgeprägte Hypo-/Aplasie der Femura, auffällige Fazies mit hypoplastischen Alae nasi
SP
134.780
Möglicherweise nicht genetisch
Als klinische Entität nicht unumstritten
Femur-Fibula-Ulna-Syndrom
Kombination von Hypo-/Aplasien von Femur (besonders proximal), Fibula und Ulna an einer oder mehreren Extremitäten, oft einseitig, manchmal beidseitig oder gekreuzt
SP
228.200
Keine Evidenz für genetische Vererbung
 
Thrombocytopenia-absent-radius-Syndrom
Radiushypoplasie bis Phokomelie, Genua vara und Thrombozytopenie
AR
274.000
RBM8A-Gen; meistens gemischte Heterozygotie mit einer Deletion auf 1q12 und Punktmutation (siehe Originalliteratur)
Siehe unten Radio-ulnare Synostose mit amegakaryozytischer Thrombozytopenie
Cousin-Syndrom
Skapula-Hypoplasie, Beckenhypoplasie, humero-radiale Synostose, kraniofaziale Dysmorphie
AR
260.660
TBX15-Gen
 
Polydaktylien und Syndaktylien
Präaxiale Polydaktylie (mindestens 4 Typen)
Duplikation von Daumen und Großzehen, manchmal Heptadaktylie, variabel ausgeprägt
AD
174.400
SHH Sonic Hedgehog;
GLI3 Gli-Kruppel Family Member 3
 
Greig-Zephalopolysyndaktylie-Syndrom
Makrozephalie mit Polydaktylie und/oder Syndaktylie
AD
175.700
GLI3 Gli-Kruppel Family Member 3
 
Synpolydaktylie
Syndaktylie der Finger III und IV mit partieller Duplikation von Finger IV, Polydaktylie der Füße
AD
186.000
HOXD13 Homeobox D13
 
Townes-Brocks-Syndrom (Renal-ear-anal-radial-Syndrom)
Daumenduplikation, Ohrdeformität, Analatresie, Nierenmissbildungen
AD
107.480
SALL1 SAL-like 1
 
Akrokallosales Syndrom (Schinzel)
Agenesie des Corpus callosum mit Mittellinienzysten und Polydaktylie
AR
200.990
KIF7
Allelisch mit einer Form des Joubert-Syndroms und mit dem Hydroletalus-Syndrom Typ 2
Postaxiale Polydaktylie
Polydaktylie der Hände und/oder der Füße mit zusätzlichen Fingern und Zehen auf der ulnaren/fibularen Seite, variable Ausprägung
SR, AR
  
Relativ häufig und wohl heterogen, einige familiäre Fälle mit vermutlich rezessiver Vererbung
Gelenkbildungsdefekte und Synostosen
Multiple-Synostosen-Syndrom (mindestens 2 Typen)
Brachydaktylie mit fusionierten Phalangen, Synostose von Hand- und Fußwurzelknochen, Ellbogen-Synostose, Synostose der Gehörknöchelchen mit Schwerhörigkeit
AD
186.500
NOG Noggin
GDF5 GDF5-Wachstumsfaktor
 
Proximale Symphalangie (mindestens 2 Typen)
Wie oben, milder ausgeprägt
AD
185.800
NOG Noggin
GDF5 GDF5-Wachstumsfaktor
 
Radio-ulnare Synostose mit amegakaryozytischer Thrombozytopenie
Proximale Synostose von Radius und Ulna mit Supinationsdefekt, schwere Thrombozytopenie mit charakteristischem Knochenmarkbefund
AD
605.432
HOXA11 Homeobox A11
Siehe oben Thrombocytopenia-absent-radius-Syndrom
AD autosomal-dominant, AR autosomal-rezessiv, XLD X-chromosomal-dominant, XLR X-chromosomal-rezessiv, SP sporadisch
Sekundäre Kraniosynostosen entstehen durch Einwirkung von Faktoren, die indirekt – über mechanische, metabolische, oder hormonelle Auswirkungen – in das Schädelwachstum eingreifen.
Ursachen sekundärer Kraniosynostosen
  • Intrauterine Kompression des Nahtbereichs
    • „Physiologisch“: Druck des Kopfes gegen mütterliches Os pubis
    • Zwillingsschwangerschaft
    • Uterusdeformität, Uterustumor
    • Fetal bedingte Dymotilität mit chronischer Fehlstellung
  • Primär zerebrale Fehlentwicklung
  • Metabolische Ursachen
  • Hämatologische Ursachen
  • Teratogene Ursachen
Betrachtet man alle Formen der Kraniosynostosen (isolierte, multiple und syndromale), so kann eine genetische Diagnose erst in etwa einem Viertel der Fälle gestellt werden, und zwar vornehmlich bei den syndromales Formen.
Isolierte Kraniosynostosen sind vorzeitige Verschlüsse einzelner Nähe ohne sonstige morphologische oder funktionelle Auffälligkeiten des Kindes. Sie sind nur selten primärer Natur, d. h. genetisch bedingt. Eine Ausnahme ist das Muenke-Syndrom (isolierter Verschluss der Koronalnaht; Tab. 1, Abb. 1d), das auch asymmetrisch auftreten kann. Syndromale Kraniosynostosen sind mit anderen morphologischen oder funktionellen Anomalien assoziiert. Beispiel einer syndromalen Form ist die Akrozephalosyndaktylie (siehe unten, Apert-Syndrom).
Diagnose
Einige der wichtigsten Schädeldeformierungen und die zugrunde liegenden Nahtsynostosen sind in Abb. 2 dargestellt. Multiple frühzeitige Synostosen beim Foet können zum Extrembild des Kleeblattschädels führen mit einer trilobären Vorwölbung des Gehirns durch die offene Sagittalnaht und seitliche Schädelnähte. Eine Kraniosynostose lässt sich klinisch aus der charakteristisch entstehenden Schädeldeformität erkennen. Die diagnostische Bestätigung mittels Röntgenaufnahmen oder CT-Untersuchung kann, besonders bei milderen Fällen, schwierig sein, weil sich die Nähte nicht immer gut darstellen lassen. Wenn die klinische Diagnose fraglich ist, kann das Röntgenbild nur selten die Diagnose klären. Im Zweifelsfalle ist die klinische Diagnose ausschlaggebend.
Differenzialdiagnose
Die konstante Rückenlagerung eines bewegungsarmen Säuglings kann zur symmetrischen Abflachung des Hinterkopfs und damit zur Brachyzephalie bei noch offenen Nähten führen. Eine chronisch einseitige Drehung des Kopfes beim liegenden Säugling resultiert in einer dorsalen Plagiozephalie, d. h. einer asymmetrische Abflachung des Hinterkopfes. Die konstante Kopfdrehung kann anatomisch bedingt sein, z. B. durch eine geburtstraumatische Verkürzung des M. sternocleidomastoideus. Doch auch viele gesunde Säuglinge haben eine Lieblingsseite, drehen sich beispielsweise von der Wand weg. Nur selten liegt einer dorsalen Plagiozephalie ein einseitiger Verschluss der Lambdanaht zugrunde. Umgekehrt ist eine anteriore Plagiozephalie meist Folge eines einseitigen Verschlusses der Koronarnaht, öfter angeboren als lagebedingt.
Verlauf
Während lagebedingte Plagiozephalien sich nach dem 1. Lebensjahr mindestens teilweise zurückbilden können, nimmt die Schädeldeformität bei primären Kraniosynostosen ohne operative Korrektur zu. Sie führt in erster Linie zu kosmetischen und, damit verbunden, zu sozialen Problemen. Abhängig von der Art und Zahl der synostosierten Nähe ist darüber hinaus mit physischen Komplikationen zu rechnen (Augenproptose, evtl. Optikusatrophie, Behinderung der oberen Atemwegen, manchmal Hypoakusie). Rein empirisch beobachtet liegt bei ca. 5–10 % aller Kinder mit Verschluss nur einer Naht eine geistige Behinderung vor – eher aufgrund assoziierter zerebraler Defekte denn als Folge ungenügenden Schädelwachstums. Bei Verschluss mehrerer Nähte (dann wohl genetisch bedingt) steigt die Häufigkeit auf 35–50 %. Infolge des zu kleinen Schädelinnenraums kann der intrakranielle Druck ansteigen mit den üblichen neurologischen Folgen. Andere Begleiterscheinungen, vor allem bei vorzeitigem Verschluss mehrerer Nähte, sind Exophthalmus, Strabismus, Sprach- und Resonanzstörungen, Hörstörungen.
Therapie
Die Behandlung erfordert die neurochirurgische Eröffnung des Schädeldachs mit Exzision der verschlossenen Naht sowie Maßnahmen zur Rezidivprophylaxe. Weil die morphologischen und funktionellen Folgen der Kraniosynostosen auch durch fehlendes Wachstum der Schädelbasis, nicht nur der Schädelkalotte, bedingt sind, sind häufig umfassendere Plastiken des Gehirn- und Gesichtsschädels oder der Schädelbasis erforderlich (z. B. fronto-temporale Vorverlagerung bei Crouzon- und Pfeiffer-Syndrom). Bei leichter Trigonozephalie durch vorzeitigen Verschluss der Sutura metopica kann zunächst der Spontanverlauf abgewartet werden. Lagebedingte Plagiozephalien korrigieren sich unter konservativer Lagerungstherapie. Die Behandlung mit gepolsterten Kopfaufsätzen („Plagiozephalie-Helm“), die den Druck gleichmäßig verteilen sollen, kann effektiv sein, hat sich aber nicht allgemein durchgesetzt.

Crouzon-Syndrom

Beim Crouzon-Syndrom, einer der häufigen Formen der primären Kraniosynostosen, sind mehrere Nähte gleichzeitig betroffen. Bereits kurz nach der Geburt fällen die auffällige Kopfform mit Turrizephalie, der Exophthalmus bei kurzem Ober- und relativ großem Unterkiefer und die besondere Nase auf. Neben der auffälligen Fazies und Kopfform können Hydrozephalus (kleines Foramen magnum), Atemstörungen (Druck auf Hirnstamm sowie enge obere Luftwege oder Choanalstenose) und Optikusatrophie vorkommen. Chirurgisch können die betroffenen Nähte exzidiert werden. Oft ist auch eine Verlagerung der Stirn und des Mittelgesichtes notwendig.
Ursache des Crouzon-Syndroms sind verschiedene dominante Mutationen im FGFR2-Gen. Eine besondere Variante (Crouzon-Syndrom mit acanthosis nigricans) ist mit einer spezifischen Mutation im FGFR3-Gen assoziiert. Das Crouzon-Syndrom wird dominant vererbt, die meisten Fälle sind jedoch sporadisch und meist durch Neumutationen des väterlich vererbten FGFR2-Allels bedingt: Ein höheres väterliches Alter spielt bei der Entstehung dieser Neumutationen eine entscheidende Rolle.

Akrozephalosyndaktylie (Apert-Syndrom)

Die Akrozephalosyndaktylie Typ Apert ist ein Beispiel für Kraniosynostosen als Teil eines genetisch bedingten, polytopen Symptomkomplexes. Formell genetisch wird sie autosomal-dominant vererbt, die meisten Fällen sind jedoch neu auftretende heterozygote Punktmutationen des Gens für den FGFR2-Rezeptor, die bereits in der frühen Embyrogenese zu Syndaktylien (fehlende Apoptose der Interdigitalbereiche) und zur Anlagestörung der Schädelnähte führen. Die Inzidenz wird auf ca. 1:120.000 geschätzt.
Klinische Zeichen
Hauptmerkmale sind eine bei der Geburt erkennbare Akrozephalie (Abb. 1a), maxilläre Hypoplasie mit Exophthalmos, ausgedehnte Syndaktylie der Finger mit knöcherner Syndaktylie und einheitlichem Nagel des 2.–4. Fingers, Weichteilsyndaktylie der Zehen, evtl. mit Polydaktylie. Nicht selten finden sich assoziierte Fehlbildungen von Hirn, Herz und anderen Organen.
Verlauf und Therapie
Kinder mit Apert-Syndrom sind häufig geistig behindert, wobei die Schwerhörigkeit mitspielen kann. Frühe Kraniotomie in den ersten Lebensmonaten – auch bei fehlenden Zeichen der Kraniostenose – bessert die durchschnittliche Entwicklungsprognose bei Kindern ohne assoziierte Hirnfehlbildung. Eine chirurgische Korrektur der Handfehlbildung wird in den ersten Lebensjahren angestrebt.
Andere Mutationen der Fibroblastenwachstumsfaktor-Rezeptoren 1, 2 und 3 resultieren in weiteren hereditären Kraniosynostose-Syndaktylie-Formen (Tab. 1) sowie in Skelettdysplasien. Überlappung zwischen und variable Expression innerhalb der klinischen Syndrome machen die eindeutige diagnostische Zuordnung eines Einzelfalles manchmal schwierig bzw. überflüssig. Wichtig bleibt die Aufklärung der molekularen Grundlage zur genetischen Beratung.

Kraniofaziale Dysostosen

Die mandibulofaziale Dysostose (Treacher-Collins- oder Franceschetti-Klein-Syndrom, Tab. 1) ist eine meistens autosomal-dominant vererbte, komplexe Störung der Entwicklung der kranialen Gaumenbögen. (Ähnliche, rezessiv-bedingte Formen sind bekannt, daher ist die genetische Analyse von Bedeutung.) Klinisch bestehen Verformung der Ohrmuschel (Mikrotie) mit Atresie des Gehörganges, Hypoplasie von Jochbein und Unterkiefer und Kolobom des Unterlides bei normaler Intelligenz. Bei der häufigeren dominanten Form (TCOF1-Mutationen) kann die klinische Ausprägung bei gleicher Genmutation sehr unterschiedlich sein (Cave! Genetische Beratung). Seltenere, klinisch ähnliche Formen mit anderen molekularen Ursachen, z. T. rezessiv, sind neuerdings beschrieben worden. Therapeutisch muss man an Hörstörung, plastische Chirurgie (Ohrmuscheln, Unterkiefer, Kolobom) sowie psychosoziale Unterstützung denken.
Beim klinisch ähnlichen, ebenso häufigen Goldenhar-Syndrom (auch Okulo-auriculo-vertebrales-Spektrum, OAV; Tab. 1) assoziieren in wechselnder Vollständigkeit Ober- und Unterkieferhypoplasie, hemifaziale Mikrosomie, epibulbäre Dermoide und Oberlidkolobome, Ohrfehlbildungen, Anomalien von Zähnen, Speicheldrüsen, Gaumen und Pharynx mit ZNS-Fehlbildungen (Mikrozephalie, Hydrozephalie, Enzephalozelen, Balkenaplasie u. a.). Der axiale mesodermale Entwicklungsfeldkomplex ist kausal heterogen. Autosomal-dominante und autosomal-rezessive Vererbung wurden beschrieben, doch der Nachweis einer zuverlässigen molekularen Grundlage ist bisher ausgeblieben und die meisten Fälle sind sporadisch. Es wird ein empirisches Wiederholungsrisiko von etwa 3 % angenommen.

Axiales Skelett

Vertebrale Segmentationsanomalien

Segmentationsdefekte entstehen durch die Störung des embryonalen Prozesses der Somitenbildung, für den eine Reihe von Signalgenen (zum Teil mit rhythmischer Expression) verantwortlich ist. Sie resultieren in zum Teil grotesken Missbildungen der Wirbelkörper (Halbwirbel, Wirbelkörperspalten und Fusionen), manchmal auch der Rippen (Verformung, Fusion oder Fehlen). Klinisch bestehen dann Verkürzung und Verkrümmung der Wirbelsäule. Neurologische Ausfälle durch Rückenmarkskompression sind jedoch selten.
Abb. 3 zeigt Beispiele spondylokostaler Entwicklungsdefekte. Für einige Formen der vertebralen Entwicklungsdefekte sind verantwortliche Gendefekte bekannt. Ein relativ großer Anteil der Fälle ist wohl nicht genetisch bedingt. So kann auch die Zuordnung von Einzelfällen zu einer der diagnostischen Gruppen schwierig sein. Sind die ossären Anomalien mit Fehlbildungen von Ösophagus, Herz, Zwerchfell, Urogenitalsystem assoziiert, so ist an eine nichtgenetische Genese, d. h. an eine teratogene Disruption morpho-genetischer Entwicklungsfelder (Kap. „Angeborene körperliche Anomalien: Definition und Klassifikation“) zu denken. Die relativ häufig auftretende Kombination vertebraler Anomalien mit analen, kardialen, tracheoösophagealen, renalen und Gliedmaßendefekten wird als VACTERL-Assoziation bezeichnet und ist nicht erblich. Kombiniert mit Hydrozephalus (VACTERL plus) handelt es sich um ein meist X-chromosomal-, seltener autosomal-rezessiv vererbtes Leiden. Bei einigen komplexen, VACTERL-ähnlichen Fällen ist die Rolle von Genmutationen im Syntheseweg von Nicotinamid-Adenin-Dinuckleotid (NAD, Niacin) hervorgehoben worden. Im genetischen Mausmodell konnte die Verabreichung von Niacin während der Schwangerschaft die Fehlbildungen verhindern.
Der isolierte Befall der Halswirbelkörper zeigt sich durch Verkürzung und eingeschränkte Beweglichkeit des Halses mit tiefem Haaransatz und Pterygium: Klippel-Feil-Sequenz. Diese ist meistens nicht familiär, eine genetische Grundlage wurde bisher nicht gesichert (Ausnahme: Klippel-Feil-Sequenz mit Larynxmissbildung, Tab. 1). Manchmal ist die Klippel-Feil-Sequenz mit hochstehenden Schulterblättern kombiniert. Ein kongenitaler Schulterhochstand mit fibröser Fixierung des Schulterblattes an die Wirbelsäule mit oder ohne Wirbelkörperanomalien fällt unter den Begriff der Sprengelschen Deformität.
Bei der spondylokostalen Dysplasie (SCD) bestehen schwere Wirbelkörper- und Rippenmissbildungen (Abb. 3), die zwar zu einer Verkürzung des Rumpfes, aber überraschenderweise kaum zu anderen klinischen Folgen führen; neurologische Ausfälle und andere Missbildungen treten nur selten auf. Für die SCD sind mindestens 5 Genloci bekannt, wobei die DLL3-bedingte Form weitaus am häufigsten ist (Tab. 1).
Kongenitale Wirbelkörperdefekte kommen darüber hinaus im Rahmen zahlreicher Krankheitsbilder vor, manchmal im Rahmen des okulo-aurikulo-vertebralen Spektrums (OAV-Spektrum oder Goldenhar-Syndrom; Abschn. 1.1), häufig auch nur mit angeborenen Herzfehlbildungen.

Sequenz der kaudalen Regression

Es handelt sich um einen Entwicklungsdefekt des kaudalen Pols des Embryo, der gehäuft bei Kindern diabetischer Mütter auftritt. Die Häufigkeit ist ungewiss, weil die Disruption in der Vergangenheit oft mit genetischen Missbildungen verwechselt wurde (s. unten). Die Kinder sind klinisch zu klein mit relativ langen Armen. Schwäche und Atrophie der Gesäß-Beckenboden- und Beinmuskulatur kommen vor. Neurologische Ausfälle reichen von leichten Blasenentleerungsstörungen bis zur kompletten Beinparese. Radiologisch fehlen Teile der kaudalen Wirbelsäule. Das Becken ist schmal, die Oberschenkel können fehlen (Femurhypoplasie, evtl. in Kombination mit Mikrogenie, Gaumenspalte und hypoplastischen Alae nasi: Femur-Facies-Syndrom). Das seltene, rezessiv vererbte Cousin-Syndrom (TBX15-Mutationen) kann klinisch ähnlich imponieren. Der Name „kaudale Regression“ ist arbiträr, weil es unbekannt ist, ob es sich um eine primäre Anlagestörung oder doch um eine frühe „Rückbildung“ handelt; das erste ist wohl wahrscheinlicher.

Extremitäten

Gliedmaßendefekte treten isoliert, multipel sowie im Rahmen von Fehlbildungssyndromen auf. Sie können von den klinisch kaum relevanten Fingerverkürzungen (Brachydaktylien) bis zum Fehlen der Hände und Füße (Acheiropodie) oder der ganzen Extremität (Phokomelie, Amelie) reichen. Für eine Klassifikation einiger häufigeren Formen, Tab. 1.
Isolierte Reduktionsdefekte kommen in einer Häufigkeit von ca. 5:10.000 vor. Sie sind oft nicht erblich, wobei die relative Bedeutung exogener und genetischer Faktoren noch unklar ist. Genetische Faktoren wurden in der Vergangenheit unterschätzt, exogene Faktoren hingegen überschätzt (Abb. 4). Exogene Ursachen sind u. a. Thalidomidingestion (historisch: 1959–1962, selten später), intrauterine Varizellen-Infektion sowie Amnionrupturen mit Amputationen, Bildung von Amnionbändern und Schnürfurchen.
Als grobe Faustregel gilt, dass symmetrisch ausgeprägte Extremitätenfehlbildungen eher auf genetische Ursachen hinweisen, während vorwiegend asymmetrisch ausgeprägte Mehrfachdefekte oft nicht vererbt zu sein scheinen. Der nicht ganz seltene Femur-Fibula-Ulna-Komplex beispielsweise vereinigt Hypoplasie oder Aplasie von Ulna, Fibula und Femur und wird nicht vererbt. Andererseits zeigt die Ähnlichkeit der Thalidomid-Embryopathie mit dem autosomal-rezessiv vererbten Roberts-Syndrom (SC-Pseudothalidomid-Syndrom; siehe unten) oder auch mit dem Al-Awadi-Raas-Rothschild Syndrom (Abb. 4) die Schwierigkeit, primäre von sekundären Fehlbildungskomplexen zu unterscheiden. Mit zunehmender Erfahrung mit genetischen Untersuchungen werden auch immer mehr Beispiele von genetisch bedingten Fehlbildungen mit ausgeprägter asymmetrischer Ausprägung nachgewiesen. Im Einzelfall wird die Diagnose auch dadurch erschwert, dass die klinische Ausprägung von Individuum zu Individuum auch innerhalb einer Familie stark unterschiedlich sein kann. Es ist wichtig, dass der Kinderarzt die Diagnosegruppen kennt und erkennt, und eine fachärztliche Untersuchung durch den erfahrenen klinischen Genetiker veranlassen kann.
Pathogenese und Therapie
Die Pathogenese der genetischen Dysostosen und Reduktionsdefekte ist uneinheitlich, beruht aber auf Störungen der Differenzierung einzelner Zellgruppen sowie auf gestörtem Proliferations- und Apoptoseverhalten, die schließlich zum plus oder minus am Endorgan führen. Die Therapie der genetischen Extremitätendefekte ist nicht kausal und deswegen komplex. Im Mittelpunkt steht die orthopädische Versorgung mit einer Kombination von rekonstruktiver Chirurgie und Orthesen/Prothesen. Dennoch darf das Kind als Ganzes nie hinter der Organspezifizität übersehen werden. Ziel ist die körperliche und psychologische Selbstständigkeit des Kindes und seine bestmögliche Integration in die Gesellschaft, nicht die perfekte Korrektur des anatomischen Defektes per se.
Zu den sog. Reduktionsdefekten gehört die Gruppe der schweren Spalthand-Spaltfuß-Missbildungen (split-hand-foot-malformation, SHFM), die durch die tiefe Spaltbildung durch die Mitte von Händen und Füßen mit Oligodaktylie gekennzeichnet ist. Sie ist genetisch heterogen. Klinisch und genetisch verwandt ist die Gruppe der Ektrodaktylie-ektodermale-Dysplasie-Gaumenspalte-Syndrome. Hier sind schwere Reduktionsdefekte der Finger und Zehen mit Gaumenspalte mit breiter Nasenspitze und ektodermaler Dysplasie (reduzierter Tränenfluss, Keratitis, dünnes Haar) kombiniert. Tetra-Amelie (fehlende Ausbildung sämtlicher 4 Extremitäten) und Acheiropodie (fehlende Hände und Füße) sind sehr selten, nicht jedoch das Roberts-Syndrom (auch als Pseudo-Thalidomid-Syndrom bekannt) mit Phokomelie und Gaumenspalte. Das klinisch sehr variable TAR-Syndrom (Radiusaplasie mit Thrombozytopenie) ist zwar rezessiv, meistens aber durch eine gemischte Heterozygotie aus der Kombination einer Deletion (1q21) und einer Punktmutation bedingt. Alle diese Krankheitsbilder sind autosomal-rezessiv vererbt. Dominant vererbt sind hingegen eine Gruppe von „kardiomelen“ Syndrome: Das relativ häufige und klinisch recht variable Holt-Oram-Syndrom (angeborener Herzfehler, häufig ASD oder VSD, und Defekte des radialen Strahls: vom fingerartigem Daumen bis zur Daumen-und Radiusaplasie) sowie das ähnliche Okihiro-Syndrom (wie Holt-Oram, zusätzlich Duane-Anomalie der Augen und Nierenmissbildungen).
Die Hand ist als komplexe Struktur mit vielen einzelnen Knochen, Wachstumsfugen und Gelenken gegenüber Entwicklungsstörungen besonders empfindlich. Polydaktylien sind häufig. In isolierter Form bleiben sie oft ohne weitere Folgen (postaxial, d. h. auf der ulnaren Seite, häufiger als präaxial), oft aber sind sie auch als Teil eines komplexeren Syndroms wie des Greig-Syndroms (Polysyndaktylie mit Makrozephalie), des akrokallosalen oder Schinzel-Syndrom (Polydaktylie mit Agenesie des Corpus callosum, ZNS-Mittellinienzysten, Entwicklungsverzögerung und andere Zeichen), des Townes-Brocks-Syndroms (präaxiale Polydaktylie, Nierenmissbildung, Analatresie, Ohrmuschelmissbildung und verschiedene andere fakultative Zeichen) oder der asphyxierende Thoraxdysplasie Jeune (Abb. 5). Brachydaktylien sind ebenso häufig. Sie können isoliert sein (dann nach radiografischen Kriterien klassifiziert: Brachydaktylien Typ A bis E mit Untergruppen) oder auch syndromal auftreten, wie z. B. beim Hand-Fuß-Genitale-Syndrom (Verkürzung und Krümmung der Finger und Zehen, insbesondere des 1. Strahls, mit Duplikatur des Genitaltraktes beim Mädchen oder Hypospadie beim Jungen) oder beim Rubinstein-Taybi-Syndrom (diskrete Daumen- und Fingerdysmorphien mit Mikrozephalie und geistiger Behinderung).
Die Entwicklung der Gelenke ist ebenfalls biologisch komplex, weil sie sowohl auf eine Zellbildung als auch eine Apoptose gewisser Zellgruppen basiert. Gendefekte können die Gelenkentwicklung stören und somit zu Synostosen führen. Beispielhaft sei hier das Syndrom der multiplen Synostosen genannt, bei dem neben Synostosen verschiedener Knochen an Händen, Füßen und Ellbögen auch eine Schwerhörigkeit infolge der Synostose der Gehörknöchelchen auftritt (Abb. 6).
Weiterführende Literatur
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