Abweichungen von der normalen Körperhöhe sind ein häufiger Konsultationsgrund beim Kinderarzt. Eine sachgerechte Beurteilung setzt Erfahrung in der Bewertung des Wachstums und der körperlichen Reifung des Kindes mit seiner großen natürlichen Variationsbreite voraus. Die Methoden zur Erfassung und Beurteilung des kindlichen Wachstums sind im Kap. „Klinische Untersuchung in der pädiatrischen Endokrinologie“ dargestellt.
Konstitutionelle Verzögerung von Wachstum und Pubertät
Eine Zeitvariante des Wachstums ist ein langsameres und längeres Wachstum in Kombination mit einem verspäteten Eintritt in die
Pubertät. Die Häufigkeit der konstitutionellen Verzögerung von Wachstum und Pubertät beträgt definitionsgemäß 3 % und kommt bei kleinwüchsigen, hochwüchsigen und normal großen Kindern vor. Mit dieser Problematik präsentieren sich Jungen häufiger als Mädchen. Retrospektive longitudinale Untersuchungen aus Finnland legen nahe, dass die Jungenwendigkeit bei der konstitutionellen Verzögerung von Wachstum und Pubertät auf einen Vorstellungsbias zurückgeht und diese Tempovariante des Wachstums tatsächlich bei beiden Geschlechtern gleich häufig vorkommt (Wehkalampi et al.
2008).
Der Leidensdruck der Jugendlichen mit konstitutioneller Verzögerung von Wachstum und
Pubertät ist beträchtlich, da sie nicht nur kleiner, sondern auch häufig, im Unterschied zu ihrer Altersgruppe, ohne jede pubertäre Entwicklung sind.
Die Diagnose der konstitutionellen Verzögerung von Wachstum und
Pubertät ist eine Verdachtsdiagnose bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Pubertät spontan einsetzt.
Die definitive Diagnose kann erst dann gestellt werden, wenn bei Jungen die
Pubertät nach dem Alter von 14 Jahren spontan beginnt und zwar mit einer Zunahme des Hodenvolumens über 3 ml (Prader-Orchidometer); bei Mädchen sollte die Pubertät nach dem Alter von 13 Jahren spontan mit einer Brustentwicklung des Tanner-Stadiums B2 einsetzen (Largo und Prader
1983a,
b). In den nachfolgenden klinischen Untersuchungen sollte eine spontane Weiterentwicklung der Pubertätsmerkmale bis zur vollen Geschlechtsreife dokumentiert sein (Differenzialdiagnose
Hypogonadismus).
In vielen Fällen weist die Familienanamnese auf die Diagnose hin, da nicht selten auch Eltern oder ältere Geschwister eine konstitutionelle Verzögerung von Wachstum und
Pubertät erlebt haben. Wissenschaftliche Stammbaumanalysen über mehrere Generationen erklären diese Beobachtung mit einem autosomal-dominanten Erbgang mit guter
Penetranz (Wehkalampi et al.
2008). Die Anamnese sollte daher auf jeden Fall das Menarchealter der Mutter und eine Frage nach einer späten körperlichen Entwicklung und spätem Körperwachstum des Vaters enthalten.
Über das Wachstum von Jugendlichen mit einer konstitutionellen Verzögerung von Wachstum ist leider bisher wenig systematisch geforscht worden. Wir gehen inzwischen davon aus, dass bei vielen Kindern mit dieser Tempovariante die Verminderung des Wachstums in den ersten Lebensjahren beginnt. Daten aus Finnland deuten auf einen Größenverlust von 0,6 Körperhöhen-SDS bis zum Alter von 7 Jahren hin (Wehkalampi et al.
2008). Das Wachstum ist danach besonders im pubertären Alter zum Zeitpunkt des normalen pubertären Wachstumsschubes vermindert, sodass ein besonders ausgeprägtes Abweichen der Körperhöhe von dem perzentilenparallelen Wachstum eintreten muss (zusätzlicher Verlust von ca. 1,0 Körperhöhen-SDS im pubertären Alter). Die meisten der heute verwendeten
Wachstumskurven zeigen Körperhöhen, die sich auf einen normalen Pubertätsbeginn und einen normalen pubertären Wachstumsschub beziehen, da die Daten an Normalkollektiven erhoben wurden. Sie zeigen in der Regel nicht den Wachstumsverlauf von Jugendlichen an, die später in die
Pubertät eintreten. Eine Ausnahme sind die Wachstumskurven von Tanner für nordamerikanische Kinder und Jugendliche mit verzögerter körperlicher Reifung (Tanner und Davies
1985). Die Wachstumsgeschwindigkeit der Jugendlichen mit konstitutioneller Verzögerung von Wachstum und Pubertät muss daher mit den für diese Gruppe vorliegenden
Referenzwerten von Tanner (Tanner und Davies
1985) oder mit den extrapolierten Daten von Rikken (Rikken und Wit
1992) verglichen werden. Eine pathologische Wachstumsgeschwindigkeit, die durch die konstitutionelle Verzögerung von Wachstum und Pubertät allein nicht zu erklären ist, liegt dann vor, wenn die Wachstumsgeschwindigkeit unter die für diese spezielle Gruppe mit –1 SD angegebene altersentsprechende mittlere präpubertäre Wachstumsgeschwindigkeit abfällt (Tab.
1). Eine Indikation für eine weiterführende Diagnostik inklusive einer Wachstumshormonmangeldiagnostik (häufigste Differenzialdiagnose) sollte für Jugendliche mit konstitutioneller Verzögerung von Wachstum und Pubertät erst dann gestellt werden.
Tab. 1
Normale mittlere Wachstumsgeschwindigkeiten
(cm/Jahr) bei präpubertären Jungen im Alter von 10–15 Jahren und bei präpubertären Mädchen im Alter von 8–13 Jahren, ±1 SD. (Mod. nach Rikken und Wit
1992)
8 | – | – | 5,52 | ±0,83 |
9 | – | – | 5,10 | ±0,83 |
10 | 4,94 | ±0,70 | 4,68 | ±0,82 |
11 | 4,58 | ±0,70 | 4,26 | ±0,82 |
12 | 4,22 | ±0,69 | 3,84 | ±0,82 |
13 | 3,86 | ±0,69 | 3,42 | ±0,82 |
14 | 3,50 | ±0,69 | – | – |
15 | 3,14 | ±0,69 | – | – |
In seltenen Fällen können auch Kinder und Jugendliche mit Tumoren des Zentralnervensystems (z. B. Kraniopharygeom
) einen der konstitutionellen Verzögerung von Wachstum und
Pubertät ähnlichen Wachstumsverlauf zeigen.
Ossärer Kleinwuchs
Beim ossären
Kleinwuchs verursachen Defekte regulatorischer Proteine des Knochens, seiner Matrixproteine sowie Störungen der Kalzium-Phosphat-Bereitstellung ein vermindertes Längenwachstum, eine Verformung oder eine Instabilität des Knochens.
Heute sind mehr als 436 verschiedene
Skelettdysplasien beschrieben und in einer internationalen Klassifikation in 42 nosologische Gruppen eingeteilt worden (Bonafe et al.
2015). Am bekanntesten sind die
Achondroplasie und die
Hypochondroplasie, die mit einem rhizomelen
Kleinwuchs einhergehen und durch heterozygote Mutationen im
FGFR3-Gen verursacht sind. Inzwischen können die meisten Skelettdysplasien monogenisch definiert werden, der Erbgang ist meistens autosomal-dominant oder seltener autosomal-rezessiv. Der Grad der Wachstumsstörung ist bei gleichem molekulargenetischem Defekt häufig sehr variabel, besonders bei Erkrankungen mit autosomal-dominantem Erbgang (nur ein defektes Allel). Das wesentliche klinische Kriterium der ossären Wachstumsstörung ist die differente Ausprägung der Störung in den verschiedenen Segmenten der Röhrenknochen (akromel = Hand/Fuß verkürzt vs. mesomel = Unterarm/Unterschenkel verkürzt vs. rizomel = Oberarm/Oberschenkel verkürzt) und in den verschiedenen Knochen des gesamten Skeletts (Röhrenknochen vs. Wirbelknochen vs. Kranium) (Mortier
2001). Die sichtbare Konsequenz ist eine Disproportion des Skeletts.
Die objektive Erfassung von Disproportionen des Skeletts macht eine sorgfältige auxologische Untersuchung unabdingbar.
Hier sollte neben der Körperhöhe die Sitzhöhe und die
Spannweite bestimmt und die subischiale Beinlänge (Differenz von Körperhöhe und Sitzhöhe) errechnet werden. Beim vorpubertären Schulkind entspricht die Spannweite in etwa der Körperhöhe (±3 cm) und die Sitzhöhe überragt die errechnete subischiale Beinlänge um 10 cm (±2 cm) (eigene Kalkulationen anhand von Daten aus der Züricher Longitudinalstudie). Neben diesen Berechnungen ist die Verwendung von Perzentilenkurven (z. B. Gerver), die Körpermaße zueinander in Beziehung setzen (z. B. Körperhöhe zu Sitzhöhe), hilfreich. Wo dominante Vererbung vermutet wird, sollte der betroffene Elternteil klinisch und ggf. radiologisch untersucht werden, da hier die ausgereifte Manifestation der Osteodysplasie
vorliegt, die häufig klinisch einfacher zu charakterisieren ist.
Im Unterschied zur Osteodysplasie bewirkt eine sekundäre Wachstumsstörung (wie z. B. der Wachstumshormonmangel) eine gleichmäßige Minderung des Wachstums in allen Knochen, sodass der Körperbau proportioniert bleibt.
Seltene Ausnahmen zu dieser Regel sind z. B. Flachwirbelbildung
(Platyspondylie
) bei Hypertransfusion,
Osteoporose oder nach spinaler Bestrahlung. Außerdem führt eine sekundäre Hemmung des Wachstums sehr häufig zu einer pathologischen Retardierung der Skelettreifung, die bei ossären
Wachstumsstörungen nicht regelhaft vorliegt.
Die Diagnose einer Skelettdysplasie ist durch folgende Probleme erschwert:
-
Der Schweregrad der Skelettdysplasie ist variabel, selbst bei erstgradig Verwandten.
-
Viele
Skelettdysplasien werden wegen ihrer Seltenheit nur von wenigen Spezialisten genau erkannt und klassifiziert.
-
Die Disproportion des Skeletts und die Verformung des Knochens treten gelegentlich spät im Wachstum in Erscheinung.
Letzteres trifft auf die Dyschondrosteose
(Leri-Weill-Syndrom
) zu, die nach heutigem Kenntnisstand wahrscheinlich die häufigste Skelettdysplasie des Menschen ist. Sie ist durch einen mesomelen
Kleinwuchs und eine Madelung-Deformität
der Handgelenke charakterisiert und wird dominant vererbt. Die genetische Ursache sind heterozygote Mutationen des
SHOX-Gens (Abschnitt „
Ullrich-Turner-Syndrom“). Die Madelung-Deformität ist eine ossäre Fehlbildung des Handgelenks, die durch eine distale Subluxation der Ulna nach dorsal (sog. Bajonett-Zeichen) und durch eine Supinationshemmung im Handgelenk definiert ist. Die Körperhöhenminderung durch die Dyschondrosteose (Leri-Weill-Syndrom) beträgt bei beiden Geschlechtern im Mittel 2 SD, sodass ca. 50 % der Betroffenen eine normale Körperhöhe aufweisen (Binder et al.
2004a). In minderschweren Fällen und bei jüngeren Kindern kann die Diagnose nur radiologisch und durch eine genaue auxologische Untersuchung gestellt werden (Binder et al.
2003).
Es gibt verschiedene Empfehlungen für standardisierte Röntgenaufnahmen des Skeletts bei Verdacht auf disproportionierten
Kleinwuchs, die nicht evidenzbasiert sind (s. Übersicht). Generell geht es bei diesen Untersuchungen darum, repräsentative Knochen des Skeletts zur Darstellung zu bringen, um eine Diagnose stellen zu können. Die Befundung der Radiografien sollte durch einen Experten erfolgen. Eine gezielte molekulargenetische Untersuchung des für die klinisch-radiologische Verdachtsdiagnose bekannten Kandidatengens ist für eine genaue Diagnosestellung erforderlich.
Kleinwuchs durch Wachstumshormonmangel
Zum Wachstumshormonmangel
gibt es eine evidenz- und konsensusbasierte Leitlinie für die deutsche Kinderendokrinologie. Der Text dieser im Jahre 2014 aktualisierten Leitlinie ist zu großen Teilen in die nun folgende Darstellung eingegangen (S2-Leitlinie; Binder et al.
2008, Aktualisierung 2014: AWMF Register Nr. 174/002).
Gewicht- und Größenentwicklung vollziehen sich in einem gesunden Kind harmonisch und in enger Bindung zueinander. Schlechtes Wachstum mit normaler oder gesteigerter Gewichtszunahme ist ein starker Indikator für eine endokrine Störung und bedarf der eingehenden Abklärung. Die häufigste endokrine Ursache von pathologischem Wachstum im Kindesalter ist der Wachstumshormonmangel. Dieser Mangel hat im Kindes- und Jugendalter eine geschätzte
Prävalenz von 1:4000 bis 1:30.000 (Binder et al.
2008). Bei der überwiegenden Mehrzahl der betroffenen Kinder ist die Ursache des Wachstumshormonmangels idiopathisch. Die seltenen monogenischen Formen des Wachstumshormonmangels werden autosomal-dominant oder -rezessiv vererbt und können isoliert oder in Kombination mit anderen hypophysären Hormonausfällen auftreten. Morphologische Fehlbildungen des Gehirns können mit einem Wachstumshormonmangel assoziiert sein, ausgeprägte morphologische Fehlbildungen der Hypophyse selbst sind es fast immer. Die Hypophyse und/oder der Hypothalamus können durch Trauma, Infektion, infiltrative (entzündliche oder tumoröse) Erkrankungen, kraniale Bestrahlung oder chirurgische Eingriffe so geschädigt werden, dass ein Wachstumshormonmangel erworben wird, der häufig mit anderen hypophysären
Ausfällen kombiniert ist. Die Diagnostik des Wachstumshormonmangels ist ein facettenreicher Prozess, der initial eine gründliche klinische und auxologische Untersuchung mit radiologischen und biochemischen Tests kombiniert. Die bekannten Ursachen des Wachstumshormonmangels sind in der folgenden Übersicht aufgelistet.
Beim Neugeborenen können schwere rezidivierende
Hypoglykämien Hinweis auf einen schweren konnatalen Wachstumshormonmangel sein, der meist mit dem Ausfall anderer hypophysärer Hormone assoziiert ist. Die Ausfälle können die Adrenokortikotropin(ACTH)- und Kortisolsekretion oder die Ausschüttung von thyreoideastimulierendem Hormon (TSH) und Schilddrüsenhormon betreffen. In der Hypoglykämiediagnostik des Neugeborenen müssen daher immer auch das
Wachstumshormon und das
Kortisol bestimmt werden.
Die Körperlänge des Neugeborenen mit schwerem konnatalen Wachstumshormonmangel ist in der Regel nicht auffällig, da ein auffällig verlangsamtes Wachstum meist erst nach 6–12 Monaten beobachtet wird (Wit und van Unen
1992).
Die Auxologie ist die zentrale Basis der Diagnostik des Wachstumshormonmangels. In aller Regel schließt normales Wachstum einen Wachstumshormonmangel aus.
Der auxologische Verdacht auf eine durch einen Wachstumshormonmangel bedingte Wachstumsstörung beim Klein- und Schulkind besteht, wenn
-
die Körperhöhe nach anfänglich normalem perzentilenparallelem Wachstum unter den Perzentilbereich der Zielgröße abfällt,
-
die Körperhöhe bei fehlenden früheren Wachstumsdaten unterhalb des Perzentilbereichs der Zielgröße liegt und sich bei nachfolgenden Untersuchungen weiter von dem Perzentilbereich der Zielgröße und/oder des zuletzt erreichten Perzentils entfernt,
-
die über einen Zeitraum von wenigstens 6 Monaten, am besten aber 12 Monaten gemessene Wachstumsgeschwindigkeit unterhalb des 25. Wachstumsgeschwindigkeitperzentils liegt.
Ausnahme: Bezogen auf die Beurteilung der Wachstumsgeschwindigkeit stellt die Gruppe der präpubertären Kinder und Jugendlichen mit dem anamnestischen und/oder klinischen Verdacht auf eine konstitutionelle Verzögerung von Wachstum und
Pubertät eine Ausnahme dar: Sie wachsen in der Regel langsamer als die gleichaltrige Referenzkohorte (Tab.
1).
Für die Diagnostik des Wachstumshormonmangels soll die Bestimmung des Skelettalters
nach Greulich und Pyle (
1959) oder nach Tanner et al. (
1975) zum Nachweis einer Reifungsverzögerung gegenüber dem chronologischen Alter angewendet werden, die im Alter zwischen 4 und 7 Jahren in der Regel mehr als ein 3/4 Jahr, im Alter über 7 Jahre mehr als 1 Jahr beträgt, entsprechend einer Reifungsverzögerung >1 SD.
Bei dokumentiertem Wachstumshormonmangel (s. unten) soll eine Magnetresonanztomografie (MRT) der Hypothalamus-Hypophysen-Region zum Ausschluss eines Kraniopharyngeoms, eines anderen Tumors des Zentralnervensystems oder einer hypophysären Fehlbildung durchgeführt werden. Die charakteristische Fehlbildung der Hypophyse
, die bei schwerem Wachstumshormonmangel in ca. 90 % der Fälle anzutreffen ist, setzt sich zusammen aus
Ektopie der Neurohypophyse, dünnem oder durchtrennt erscheinendem Hypophysenstiel und sehr hypoplastischer Adenohypophyse (Binder et al.
2002). Die Neurohypophyse liegt außerhalb der Sella turcica kaudal des Bodens des 3. Ventrikels. Die Pathogenese dieser Morphologie konnte bisher nur in wenigen Einzelfällen auf monogenische Defekte von Entwicklungsgenen (z. B.
Lhx4, Sox3, Hesx1) zurückgeführt werden. Der biologische Mechanismus, der zu dieser Dissoziation von Vorder- und Hinterlappen der Hypophyse führt, ist ungeklärt.
Vor der Durchführung invasiver und aufwendiger Wachstumshormonstimulationstests soll die Messung der Konzentrationen von IGF-1 und IGFBP-3 im
Serum oder
Plasma erfolgen (Binder et al.
2008), da die Produktion des wesentlichen kindlichen Wachstumsfaktors IGF-1 wie auch seines Bindungsproteins IGFBP-3 in der Leber bei Mangel an
Wachstumshormon vermindert ist.
Allerdings sind die beiden Proteine nicht im strengen Sinn Screeningparameter für den Nachweis eines Wachstumshormonmangels, da auch andere Erkrankungen und Normvarianten des Wachstums mit einer Verminderung der Konzentrationen von IGF-1 und/oder IGFBP-3 einhergehen können. Hierzu gehören u. a. die
Hypothyreose, ein Mangel an Sexualhormonen bei
Hypogonadismus, die konstitutionelle Verzögerung von Wachstum und
Pubertät, eine akute oder chronische Mangelernährung, chronische organische Erkrankungen, schwere Leberfunktionsstörungen,
Adipositas, ein schlecht eingestellter
Diabetes mellitus oder eine sekundäre Wachstumshormonresistenz im Rahmen anderer Erkrankungen (Binder et al.
2008). IGF-1- und/oder IGFBP-3-Werte <–2 SDS bezogen auf das chronologische Alter machen nach Ausschluss der o. g. interferierenden Ursachen eine Störung der Wachstumshormon-IGF-1-Achse wahrscheinlich. IGF-1- und IGFBP-3-Werte >–1 SDS machen einen Wachstumshormonmangel unwahrscheinlich, schließen ihn jedoch nicht vollständig aus (Binder et al.
2008).
Kinder, die sich unmittelbar vor der
Pubertät befinden oder übergewichtig sind, haben physiologisch eine geringere stimulierte Wachstumshormonausschüttung im Vergleich zu jüngeren, normalgewichtigen oder pubertierenden Kindern (Zadik et al.
1990; Marin et al.
1994; Molina et al.
2008).
Die Indikation zur Testung bei präpubertären Kindern (Mädchen Tanner-Stadium B1, Jungen Hodenvolumen <4 ml) sollte nur gestellt werden, wenn die Wachstumsgeschwindigkeit bei präpubertären Jungen im Alter von 10–15 Jahren und bei präpubertären Mädchen im Alter von 8–13 Jahren (<P25) unterhalb der altersentsprechenden Wachstumsgeschwindigkeit liegt (Abb.
1). Bei diesen präpubertären Kindern kann der übliche diagnostische
Cut-off-Wert (s. unten: Grenzwert für den Wachstumshormonspiegel) nur dann verwendet werden, wenn dem Wachstumshormonstimulationstest eine Vorbehandlung mit Sexualsteroiden (Priming
) vorausgegangen ist (Marin et al.
1994; Molina et al.
2008). Deshalb soll ein Priming vor Wachstumshormonstimulationstests bei präpubertären Jungen im Alter ≥10 Jahren und bei präpubertären Mädchen im Alter ≥8 Jahren durchgeführt werden, da nur dann der übliche Cut-off-Wert Gültigkeit hat. Das Priming sollte bei Jungen mit der intramuskulären Verabreichung von 50 mg Testosteron-Enantat i.m. einmalig 7 Tage vor der Testung und bei Mädchen mit der täglichen Gabe von 1 mg Östradiolvalerat p.o. in den letzten 3 Tagen vor der Testung durchgeführt werden.
Gesunde Kinder mit überdurchschnittlichem BMI (>0 SDS) haben physiologischerweise eine geringere stimulierte Wachstumshormonausschüttung als schlanke Kinder (Stanley et al.
2009).
Der Test soll nach mindestens 6-stündigem nächtlichen Fasten morgens am nüchternen, ruhenden Kind unter standardisierten Bedingungen und sorgfältiger Überwachung durchgeführt werden. Als Testsubstanzen sollten
Arginin, Clonidin,
Glukagon oder
Insulin verwendet werden (Binder et al.
2008). Als alternativer Test zu einem Stimulationstest kann auch die nächtliche Spontansekretion des
Wachstumshormons gemessen werden. Die Messung der spontanen Nachtsekretion ist nur dann sinnvoll, wenn entsprechende Erfahrungen und
Referenzwerte vorliegen. Der GHRH-Test sollte wegen seiner geringen
Sensitivität für die primäre Diagnose des Wachstumshormonmangels im Kindesalter nicht verwendet werden.
Das Ergebnis eines Wachstumshormonstimulationstests im Kindes- und Jugendalter ist dann pathologisch, wenn die höchste gemessene Wachstumshormonkonzentration einen arbiträr festgelegten
Cut-off-Wert unterschreitet, der in der Literatur mit Werten zwischen 3,3–10 μg/l (ng/ml) angegeben wird (Binder et al.
2008). Diese große Schwankungsbreite reflektiert den Mangel an geeigneten Studien zu dieser Fragestellung und die ausgeprägte Abhängigkeit der gemessenen Wachstumshormonkonzentration vom
Nachweisverfahren (Assay) (Binder et al.
2008). Zur Vereinheitlichung der Diagnostik sollte
Wachstumshormon nur mit Nachweisverfahren gemessen werden, die auf der Basis des rekombinanten 22-kD-Wachstumshormonproteins (aktueller Standard 98/574, 1 mg = 3 IU) standardisiert sind.
Ein
Cut-off-Wert für den labordiagnostischen Nachweis des Wachstumshormonmangels bei Kindern wurde erstmals in den 1960er-Jahren ermittelt und auf die Wachstumshormonaktivität von 20 mU/l bezogen. Mit der Einführung der ersten Referenzpräparation an hypophysärem
Wachstumshormon im Jahre 1969 (Standard 66/217; 1 IU = 2 mg) konnte dieser Wert auf eine Wachstumshormonkonzentration von 10 μg/l (ng/ml) zurückgeführt werden. Diese 10 μg/l (ng/ml) wurden als Cut-off-Wert bis in die jüngste Vergangenheit empfohlen. Die Einführung der rekombinanten Standards 88/624 im Jahr 1994 (1 IU = 3 mg) und 98/574 im Jahr 2000 (1 IU = 3 mg) ließ eine Verringerung des Cut-off-Werts auf 67 % dieses Wertes (entsprechend 6,7 μg/l [ng/ml]) erwarten. Unter Verwendung von strengen auxologischen Kriterien konnte dieser Cut-off-Wert als klinisch valide bestätigt werden (Binder et al.
2011). Die aktuell verwendeten
Nachweisverfahren streuen allerdings auch bei einer vergleichbaren Standardisierung noch mit etwa 20 % um den Cut-off-Wert (Hauffa et al.
2004). Unter Berücksichtigung dieses 20 %igen Streubereichs wird die Wahl eines Cut-off-Werts von 8 μg/l (ng/ml) mit den aktuellen Messmethoden empfohlen:
Das Ergebnis eines Wachstumshormonstimulationstests im Kindes- und Jugendalter soll dann als normal gewertet werden, wenn die höchste gemessene Wachstumshormonkonzentration 8 μg/l (ng/ml) überschreitet.
Dieser
Cut-off-Wert setzt die Messung mit einem
Nachweisverfahren voraus, das den Standard 98/574 (1 mg = 3 IU) für rekombinantes
Wachstumshormon als Kalibrator verwendet. Unter der arbiträren Festlegung des Cut-off-Werts von 8 μg/l (ng/ml) und bei Erfüllung der Eingangskriterien für die Testung ist von einer
Sensitivität eines einzelnen Tests von ca. 80 % und einer
Spezifität von ca. 80 % auszugehen. Dies sind Schätzwerte.
Die Diagnose des Wachstumshormonmangels soll nur dann gestellt werden, wenn bei Erfüllung der o. g. auxologischen, klinischen, radiologischen und laborchemischen Kriterien zwei pathologische Wachstumshormonstimulationstests vorliegen.
Beim Vorliegen eines der o. g. zusätzlichen Kriterien (z. B. Aplasie der Adenohypophyse
und/oder ektop lokalisierte Neurohypophyse) ist ein einziger pathologischer Wachstumshormonstimulationstest ausreichend, um die Diagnose eines Wachstumshormonmangels zu sichern. Die Verdachtsdiagnose eines Wachstumshormonmangels soll im Falle eines normalen Testergebnisses oder zweier normaler Testergebnisse verworfen und nach alternativen Ursachen der Wachstumsstörung gesucht werden. Bei Persistenz der Wachstumsstörung (auxologische, klinische, laborchemische und radiologische Kriterien für einen Wachstumshormonmangel sind erfüllt) und dem Vorliegen normaler Wachstumshormonstimulationstests kann der Nachweis einer pathologischen spontanen Wachstumshormonnachtsekretion die Diagnose eines Wachstumshormonmangels im Rahmen einer sog. neurosekretorischen Dysfunktion begründen (Spiliotis et al.
1984). Eine Wiederholung der Wachstumshormonstimulationstests (Retestung) kann 12 Monate nach normalen Testergebnissen durchgeführt werden, wenn beim Fehlen einer anderen hinreichenden Erklärung der Wachstumsstörung weiterhin der dringende Verdacht auf einen Wachstumshormonmangel besteht.
Kleinwuchs nach Bestrahlung, Chemotherapie und Knochenmarktransplantation
Mit dem zunehmenden Erfolg der Krebsbehandlung im Kindesalter erhöht sich die
Prävalenz von Wachstumsstörung, die durch kraniale, kraniospinale oder Ganzkörperbestrahlung oder ggf. Chemotherapie hervorgerufen werden (Kap. „Endokrinologische Langzeitfolgen in der pädiatrischen Onkologie“). Die Bestrahlung von
Hypothalamus und Hypophyse setzt dosisabhängig einen Defekt, der sich als Hormonmangel erst nach einem symptomfreien Intervall von Jahren bis zu einem Jahrzehnt oder länger manifestieren kann. Niedrige Bestrahlungsdosen können einen isolierten Wachstumshormonmangel, hohe Dosen multiple hypophysäre Ausfälle verursachen. In den ersten Jahren der Hormoninsuffizienz ist der Mangel häufig hypothalamisch begründet, da hier die Radiosensitivität deutlich höher ist als in der Hypophyse.
Pathologisches Wachstum kann auch durch ein vermindertes Längenwachstum der Wirbelsäule im Rahmen einer direkten Schädigung der Wachstumsfugen verursacht sein, die Kinder sind dann im Verlauf deutlich disproportioniert mit kurzem Rumpf. Kinder mit kranialer Bestrahlung in jungen Jahren neigen dazu, eine
Pubertas praecox zu entwickeln, die bei unzureichender Behandlung und frühzeitigem Epiphysenschluss ebenfalls zu einem
Kleinwuchs im Erwachsenenalter beitragen kann.
Kinder nach einer Krebserkrankung mit nachgewiesenem Wachstumshormonmangel sind Kandidaten für eine Behandlung mit
Wachstumshormon. Interessanterweise wurde gezeigt, dass Kinder nach kranialer Bestrahlung, die einen Wachstumshormonmangel entwickelten, mit dem
Insulin-Hypoglykämie-Test bereits nach 5 Jahren, mit dem Arginin-GHRH-Test aber erst nach 10 Jahren sicher diagnostiziert werden können (Darzy et al.
2003).
Die Anwendungsbeobachtung dieser Kinder unter Wachstumshormontherapie hat keine Hinweise für eine erhöhte Gefahr eines Rückfalls ergeben. Allerdings fand eine aktuelle retrospektive Studie, in der 361 Kinder in Remission mit
Wachstumshormon behandelt wurden, ein um den Faktor 2,15 (95 %
Konfidenzintervall; 1,3–3,5) erhöhtes Risiko für Zweittumoren gegenüber Kindern in Remission, die nicht mit Wachstumshormon behandelt wurden. Dieses leicht erhöhte Risiko sollte gegenüber der Bedürftigkeit einer Substitution von Wachstumshormon abgewogen werden (Ergun-Longmire et al.
2006).