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2020 | Buch

Epileptische Anfälle und Epilepsien im Erwachsenenalter

Diagnostik und Therapie

herausgegeben von: Dr. F.C. Schmitt, Prof. Dr. Hermann Stefan, Prof. Dr. Martin Holtkamp

Verlag: Springer Berlin Heidelberg

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Über dieses Buch

Das Buch bietet dem Behandler einen Überblick über die gängigen klinisch relevanten Konzepte sowie diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen in der Epileptologie. Mit seinem praxisorientierten Aufbau befähigt das Werk dazu, dieses Wissen im klinischen Kontext direkt anzuwenden.Zahlreiche Kasuistiken beantworten über die Kapitel hinweg typische Fragen zu Differenzialdiagnostik, Therapie und sozialmedizinischen Aspekten. Bei den Therapien kommen sowohl medikamentöse als auch operative Ansätze zur Sprache. Ein ballastfreies Buch, geschrieben von Epilepsie-Experten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, das sich den konkreten klinischen Aspekten widmet und dabei die entsprechenden nationalen und internationalen Leitlinien berücksichtigt.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter

Grundlagen

Frontmatter
1. Definitionen
Zusammenfassung
Ein epileptischer Anfall ist klinisch durch eine vorübergehende Änderung der Wahrnehmung und bzw. oder des Verhaltens charakterisiert, die pathophysiologische Grundlage ist eine paroxysmal auftretende, synchronisierte neuronale Entladungsaktivität. Ein epileptischer Anfall ist akut symptomatischer Genese, wenn er in engem zeitlichen und kausalen Zusammenhang mit einer prokonvulsiven systemischen Störung oder einer akuten Hirnläsion auftritt. Alles andere sind unprovozierte Anfälle. Bei unauffälligem EEG und cMRT besteht kein relevant erhöhtes Rezidivrisiko, dies ist ein isolierter unprovozierter Anfall. Bei Nachweis interiktaler epileptiformer Muster im EEG oder einer epileptogenen Läsion im cMRT ist das Wiederholungsrisiko signifikant erhöht, hier wird die Diagnose einer Epilepsie gestellt. Die korrekte Zuordnung des ersten Anfalls zu einem akut symptomatischen oder einem isolierten unprovozierten Anfall bzw. bereits zu einer Epilepsie ist wichtig für die Frage nach Beginn einer antiepileptischen Therapie und nach der Dauer des Fahrverbots.
Martin Holtkamp, Friedhelm C. Schmitt
Kapitel 2. Pathophysiologie und translationale Tiermodelle
Zusammenfassung
Das Verständnis pathophysiologischer Grundlagen der Entstehung von epileptischen Anfällen und Epilepsien ist Voraussetzung für die Entwicklung neuer Therapiekonzepte. Aus ethischen Gründen sind der Forschung an Menschen enge Grenzen gesetzt, daher muss häufig auf Tiermodelle zurückgegriffen werden. Die Entstehung eines akut symptomatischen Anfalls ist – in Abhängigkeit von der Ursache – in der Regel auf eine reversible Verschiebung im Verhältnis von Inhibition zu Exzitation zurückzuführen. Bei Epilepsien stehen eher die Mechanismen, die zur Epileptogenese beigetragen haben, im Vordergrund. Diese führen über ätiologieabhängige Wege zu einer reduzierten Anfallsschwelle, die das Auftreten von unprovozierten Anfällen erleichtert. Tiermodelle sollen zur Erforschung pathophysiologischer Mechanismen beitragen, sie dienen zudem zum Screening von neuen potenziell antiepileptisch wirksamen Substanzen. Kein Modell ist ideal, es werden je nach Fragestellung unterschiedliche Modelle eingesetzt.
Pawel Fidzinski, Matthias Dipper-Wawra
3. Epilepsie als Netzwerkerkrankung
Zusammenfassung
Neuronale Netzwerkanalysen ermöglichen die Erfassung von Konnektivitätsänderungen in großen Nervenzellverbänden. Sie verbessern das Verständnis von physiologischen Vorgängen sowie das von Iktogenese und Epileptogenese. Netzwerkanalysen liefern auch neue Ansätze zur Optimierung von diagnostischen und therapeutischen Ansätzen bei Epilepsien. Aus einer netzwerkorientierten Sicht lassen sich fokale und mehr oder weniger ausgedehnte bilaterale Anfallsaktivitäten voneinander unterscheiden. Historisch geprägte Begriffe können in einem dialektischen Prozess unter Netzwerkgesichtspunkten betrachtet werden.
Hermann Stefan, Friedhelm C. Schmitt
4. Epidemiologie
Zusammenfassung
Die Epidemiologie befasst sich mit dem Auftreten, der Verteilung, den Ursachen und Folgen von Erkrankungen in der Bevölkerung. Epilepsien zählen weltweit zu den häufigsten neurologischen Erkrankungen, es sind knapp 40 Mio. Menschen betroffen. Die Inzidenz der Epilepsie liegt in Europa über alle Alterskategorien gemittelt bei 50 pro 100.000 Personenjahre, Gipfel finden sich in den ersten Lebensmonaten und der frühen Kindheit sowie ab etwa dem 70. Lebensjahr. Bezüglich der Geschlechterverteilung zeigt die große Mehrheit der Studien eine leicht höhere Inzidenz für Männer. Die Prävalenz beträgt in Industrieländern zwischen 0,5 und 1 % der Bevölkerung; in Deutschland ist von 500.000 bis 600.000 Menschen mit Epilepsie auszugehen. Darüber hinaus wird in diesem Kapitel auf die vorhandenen epidemiologischen Kennzahlen bezüglich Risikofaktoren und Ätiologien von Epilepsien eingegangen.
Lara Kay, Adam Strzelczyk
5. Gesundheitsökonomie
Zusammenfassung
Ökonomische Aspekte gewinnen in Anbetracht der demografischen und gesellschaftlichen Entwicklung auch in der Medizin zunehmend an Relevanz. Hierfür ist v. a. der Gegensatz zwischen einer kontinuierlich steigenden Nachfrage an medizinischen Leistungen bei zugleich zunehmend beschränkten medizinischen Ressourcen verantwortlich, der sowohl im stationären als auch im ambulanten Sektor zu beobachten ist. Um auch in Zukunft eine suffiziente und zugleich effiziente medizinische Versorgung sicherstellen zu können, ist ein grundlegendes Verständnis gesundheitsökonomischer Gegebenheiten sowie krankheitsspezifischer Aspekte unabdingbar. Hohe direkte Kosten fallen im Rahmen der Erstdiagnose, aber auch beim therapierefraktären Verlauf und beim Status epilepticus an. Die indirekten Kosten sind auf Arbeitslosigkeit, Frühberentung und krankheitsbedingte Fehltage sowie eine reduzierte Lebenserwartung zurückzuführen und weisen auf Verbesserungspotenziale in der Versorgung von Menschen mit Epilepsie hin.
Adam Strzelczyk, Laurent M. Willems

Anfallstypen

Frontmatter
6. Klassifikation und Terminologie von epileptischen Anfällen
Zusammenfassung
Epileptische Anfälle können sich in sehr variabler Weise klinisch manifestieren. Frühere Unterteilungen in Grand mal vs. Petit mal wurden durch zunehmend detailliertere Klassifikationen abgelöst. Ausgehend von einer grundlegenden Einteilung von Gastaut (1969) haben Kommissionen der Internationalen Liga gegen Epilepsie (ILAE) mehrfache Überarbeitungen vorgenommen. Die seit 1981 gebräuchliche Klassifikation der ILAE (Commission..., 1981) wurde 2017 insbesondere bei fokal beginnenden Anfälle wesentlich um semiologische Aspekte erweitert. Die Einführung von Subkategorien von Anfällen basierend auf dem ersten semiologischen Zeichen hängt kritisch von der Genauigkeit der Beobachtung und Dokumentation der Anfälle ab.
Andreas Schulze-Bonhage

Epilepsie-Syndrome

Frontmatter
7. Klassifikation und Terminologie von Epilepsiearten und -syndromen
Zusammenfassung
Die Internationale Liga gegen Epilepsie hat die Epilepsien im Jahr 2017 neu klassifiziert und neue Begrifflichkeiten eingeführt. Diese Neuerungen berücksichtigen das erweiterte Wissen in Bezug auf Bildgebung, Pathophysiologie und Genetik. Änderungen in der Terminologie sollen zu einem besseren Verständnis auch bei Patienten und anderen Laien beitragen. Neben fokalen und generalisierten Epilepsiearten wurde nun die Gruppe der kombiniert fokalen und generalisierten Epilepsien eingeführt; Beispiele hierfür sind das Dravet- und das Lennox-Gastaut-Syndrom. Auf der ätiologischen Ebene werden die idiopathischen Epilepsien nun genetisch genannt, auch wenn es hier in einigen Regionen der Welt aufgrund Sorgen vor weiterer Stigmatisierung der Patienten Kritik gab. Daher darf bei einigen Syndromen weiterhin von idiopathisch generalisierter Epilepsie gesprochen werden. Die symptomatischen Epilepsien wurden nun weiter stratifiziert, die häufigste Ätiologie werden die strukturellen Epilepsien sein.
Martin Holtkamp
8. Temporallappenepilepsien
Zusammenfassung
Temporallappenepilepsien (TLE) gehören zu den häufigsten Formen der Epilepsie, in zwei von drei Fällen sind sie pharmakoresistent. TLE lassen sich grob einteilen in mesiale Formen bei Hippocampussklerose, in läsionelle Formen, die sowohl in temporomesialen als auch in temporolateralen Strukturen lokalisiert sein können, sowie in nicht-läsionelle Formen. Anfälle bei TLE beginnen oft mit fokalen, bewusst erlebten, nichtmotorischen Anfällen (früherer Begriff: Aura), diese haben einen hohen lokalisatorischen Wert und sollten dezidiert erfragt werden. Oft entwickeln sich hieraus nichtbewusst erlebte (früherer Begriff: komplex-fokale) Anfälle mit manuellen und/oder oroalimentären Automatismen; bilateral tonisch-klonische Anfälle sind – gerade unter antiepileptischer Medikation – selten. Bei Pharmakoresistenz ist die Epilepsiechirurgie ein häufig eingesetztes Verfahren mit dem Ziel von Anfallsfreiheit; dieses ermöglicht zudem histologische Diagnosen und somit ätiologisch noch spezifischere Klassifikationen.
Christoph Baumgartner
9. Frontallappenepilepsien
Zusammenfassung
Frontallappenepilepsien machen knapp ein Viertel aller fokalen Epilepsien aus, aufgrund der Mannigfaltigkeit der funktionellen Anatomie dieses größten Hirnlappens können die epileptischen Anfälle sehr vielgestaltig sein. Sie sind oft kurz, schlafgebunden und ohne Einschränkung des Bewusstseins. Typische Anfallssemiologien umfassen uni- und bilaterale klonische und/oder tonische, hyperkinetische, nicht-bewusst erlebte und oral-motorische Zeichen. Die mitunter bizarre Symptomatik kann zur Fehldiagnose von psychogenen nicht-epileptischen Anfällen führen. Durch rasche Propagation epileptischer Aktivität in benachbarte temporale Strukturen kann der Anfallsursprung fälschlicherweise in diese Region projiziert werden. Das iktale EEG ist oft nicht hilfreich, da es von deutlichen Bewegungsartefakten überlagert oder komplett unauffällig sein kann. Bei Pharmakoresistenz sollte die Option einer Resektion des Anfallsfokus geprüft werden, postoperative Anfallsfreiheit kann bei etwa jedem zweiten Patienten erreicht werden.
Barbara C. Jobst
10. Insuläre Epilepsien
Zusammenfassung
Die Diagnose von insulären Epilepsien stellt eine große Herausforderung dar, da Anfälle mit Ursprung in der Inselregion in der Regel erst symptomatisch werden, wenn sie frontale, temporale oder andere Hirnstrukturen erfasst haben. Relativ typische, frühe Anfallssymptome sind Erstickungsgefühl, periorale Parästhesien, einseitige Sensibilitätsstörungen und Dysarthrie; diese deuten auf eine Beteiligung des Operculums hin. Zudem sind das interiktale und das iktale EEG oft nicht richtungsweisend, sondern unauffällig oder deuten ebenfalls auf angrenzende Strukturen hin. Klinik und EEG führen also häufig zu Fehldiagnosen; typischerweise sind dies psychogene nicht-epileptische Anfälle und Frontal- oder Temporallappenepilepsien. Bei Pharmakoresistenz stellt die Epilepsiechirurgie eine Behandlungsoption dar; zur exakten Lokalisierung des Anfallsfokus ist fast immer eine intrakranielle EEG-Untersuchung notwendig, leider ist die Komplikationsrate nach Resektion im Vergleich zu anderen Hirnregionen recht hoch.
Barbara C. Jobst
11. Parietal- und Okzipitallappenepilepsien
Zusammenfassung
Da Parietal-und Okzipitallappenepilepsien mit ungewöhnlicheren iktalen Symptomen wie passageren Körperschemastörungen, diversen visuellen Phänomenen und Vertigo einhergehen können, werden sie nicht selten mit psychogenen nicht-epileptischen Anfällen verwechselt. Nichtinvasives Video-EEG-Monitoring ist oft nicht wegweisend, sodass bei schwer behandelbaren Verlaufsformen im Rahmen der prächirurgischen Diagnostik häufig eine intrakranielle EEG-Ableitung erforderlich ist. Wie bei Epilepsien aus dem Temporallappen werden zwei Drittel der Patienten nach Resektion anfallsfrei.
Hermann Stefan, Rainer Surges
12. Genetische generalisierte Epilepsien
Zusammenfassung
Genetische generalisierte Epilepsien umfassen eine Reihe von Epilepsiesyndromen, die maßgeblich durch das Alter bei Manifestation und den vorherrschenden Anfallstyp charakterisiert und oft auch benannt sind. Vier dieser Syndrome können bis in das Erwachsenalter persistieren; dies sind die kindliche und die juvenile Absence-Epilepsie, die juvenile myoklonische Epilepsie und die Epilepsie mit ausschließlich generalisierten tonisch-klonischen Anfällen. Genetische Ursachen sind anzunehmen, auch wenn diese in der Regel weder nachgewiesen werden können noch hinsichtlich ihrer pathophysiologischen Auswirkungen verstanden sind. Das Ansprechen auf Antiepileptika in Monotherapie ist grundsätzlich gut. Ethosuximid wirkt gut gegen Absencen, Valproinsäure gegen Myoklonien und generalisierte tonisch-klonische Anfälle. Die Prognose ist günstig; je älter Patienten werden, desto wahrscheinlicher sind sie anfallsfrei.
Bernd Vorderwülbecke, Martin Holtkamp
13. Epilepsie bei Tuberöser-Sklerose-Komplex
Zusammenfassung
Die frühzeitige Diagnosestellung einer mit Tuberöse-Sklerose-Komplex (TSC) assoziierten Epilepsie ist entscheidend, um die entsprechende Behandlung rasch einzuleiten und somit neurokognitiven Defiziten, insbesondere bei jüngeren Patienten, vorzubeugen. Das EEG stellt einen wichtigen Biomarker für das spätere Auftreten einer Epilepsie dar. Die Behandlung mit Vigabatrin kann auch bei Kindern mit subklinischen EEG-Auffälligkeiten in Erwägung gezogen werden. Die Zusatztherapie mit Everolimus bei pharmakoresistenter TSC-assoziierter Epilepsie nimmt an Bedeutung zu. Die epilepsiechirurgische Frühintervention ist bei geeigneten Kandidaten indiziert, um höhere Chancen auf postoperative Anfallsfreiheit zu gewährleisten. Die Behandlung der TSC-Patienten ist anspruchsvoll und setzt aufgrund der Multiorganerkrankung eine interdisziplinäre Betreuung an einem mit TSC erfahrenen Zentrum voraus.
Georgia Ramantani, Sandra P. Toelle
14. Epileptische Enzephalopathien im Erwachsenenalter
Zusammenfassung
Epileptische Enzephalopathien (EE) sind Erkrankungen, bei denen epileptische Anfälle oder subklinische EEG-Anfallsmuster selbst zu Entwicklungsverzögerungen oder zum Verlust zuvor erworbener kognitiver Fähigkeiten beitragen. Zwei typische EE, die in der Kindheit beginnen, aber im Erwachsenenalter persistieren und somit auch für Neurologen relevant sind, sind das Dravet-Syndrom (DS) und das Lennox-Gastaut-Syndrom (LGS). DS und LGS zeigen Besonderheiten in Bezug auf Diagnostik und Therapie, auf die in diesem Kapitel ausführlich eingegangen werden soll. So gibt es Antiepileptika (Stiripentol, Felbamat, Rufinamid), die nur bei DS oder LGS zugelassen sind und mit denen Neurologen häufig wenig persönliche Erfahrungen haben. Außerdem soll die Wirksamkeit und Verträglichkeit von Cannabidiol diskutiert werden, das im Jahr 2019 für die Behandlung von DS und LGS in Zusatztherapie zu Clobazam zugelassen worden ist.
Frank Kerling, Christophe Rauch
15. Epilepsie bei hypothalamischen Hamartomen
Zusammenfassung
Hypothalamische Hamartome sind die strukturelle Grundlage hochgradig pharmakoresistenter fokaler Epilepsien mit charakteristischen, im Kindesalter auftretenden emotionalen Anfällen und der späteren Entwicklung schwererer, propagierter Anfallstypen und einer resultierenden epileptischen Enzephalopathie mit kognitiver Verschlechterung und Verhaltensstörungen. Die Diagnose basiert auf der Konstellation von Anfallssemiologie und MRT-Befund. Bei Entwicklung stärkerer Anfallstypen stehen mittlerweile effektive minimal-invasive operative Therapieformen mit guter Verträglichkeit und Effektivität zur Verfügung. Unabhängig von der eingesetzten Behandlungsmethode führt eine Anfallskontrolle oder erhebliche Reduktion nichtemotionaler Anfallstypen in der Regel zu einer Rückbildung der epileptischen Enzephalopathie mit Verhaltensnormalisierung und verbesserter kognitiver Leistungsfähigkeit.
Andreas Schulze-Bonhage
16. Reflexepilepsien
Zusammenfassung
Reflexepilepsien sind dadurch gekennzeichnet, dass die epileptischen Anfälle stereotyp und in sehr engem zeitlichem Zusammenhang mit einem Reiz (sensorisch, motorisch oder komplex) auftreten; diese Epilepsiesyndrome sind insgesamt selten. Der häufigste Auslöser von reflektorischen Anfällen ist das Flackerlicht, das aber von Patienten in seiner Häufigkeit und Relevanz deutlich überschätzt wird. Die Pathophysiologie von Anfällen im Rahmen von Reflexepilepsien erlaubt – im Gegensatz zu unprovozierten Anfällen – oft Rückschlüsse auf die komplexen, miteinander kommunizierenden Systeme im ZNS. Die Therapie ist heterogen, besteht aber oft in der Vermeidung der Auslöser oder in der Abmilderung des Reizes, z. B. durch den Einsatz von speziellen Brillen bei fotosensiblen Anfällen.
Thomas Mayer, Martin Lutz

Ätiologien

Frontmatter
17. Genetische Epilepsien
Zusammenfassung
Genetische Faktoren spielen eine wichtige Rolle in der Entstehung von Epilepsien; sie sind aber trotz des enormen Wissenszuwachses in den letzten zwei Jahrzehnten in vielen Fällen immer noch unbekannt. Die Etablierung neuer Hochdurchsatzverfahren hat zur Identifikation zahlreicher krankheitsassoziierter Mutationen außerhalb von familiären Epilepsiesyndromen geführt. Daher ist eine genetische Diagnostik bei ausgesuchten Epilepsiesyndromen auch jenseits wissenschaftlicher Fragestellungen etabliert. Monogenetische Erkrankungen machen nur einen kleinen Anteil der Erkrankungsfälle aus. Für einige dieser Fälle können heute schon präzisionsmedizinische Therapieverfahren angeboten werden. Die Komplexität und Heterogenität der Epilepsien erfordern bei der Untersuchung kausaler zugrunde liegender genetischer Faktoren eine deutliche Vergrößerung der heute bestehenden Kollektive. Analysen zu umfassenderen polygenetischen Risikoprofilen sind in den nächsten Jahren zu erwarten.
Karl Martin Klein, Philipp S. Reif
18. Strukturelle Epilepsien
Zusammenfassung
Der Nachweis einer strukturellen ZNS-Läsion, die in Zusammenschau mit den elektroklinischen Befunden die Epilepsie eines Patienten plausibel erklärt (epileptogene Läsion), ist ein wichtiges Ziel der Diagnostik. Die Identifikation einer epileptogenen Läsion hat große Bedeutung für die Einordnung, Therapie und Prognoseabschätzung sowie die Beratung der Patienten. Eine Vielfalt struktureller Läsionen kann in ätiologischem Zusammenhang mit Epilepsien stehen und mittels moderner Bildgebung detektiert werden. Diese umfassen kongenitale Strukturveränderungen sowie peripartal und im weiteren Verlauf des Lebens erworbene Läsionen. Oftmals vergehen Jahre, bis bildgebend die Läsion erkannt wird und somit die Diagnose einer strukturellen Epilepsie gestellt werden kann. Von Patienten wird ein solcher Befund oftmals mit Interesse oder Erleichterung aufgenommen, da es nun eine Erklärung für die Epilepsie gibt.
Burkhard S. Kasper, Johannes D. Lang
19. Infektiöse Epilepsien
Zusammenfassung
Intrakranielle Infektionen führen während und nach der akuten Phase häufig zu epileptischen Anfällen, es bestehen aber beträchtliche Unterschiede in Abhängigkeit vom individuellen Erreger. Generell ist das Risiko für eine spätere Epilepsie erhöht, wenn bereits initial akut symptomatische Anfälle aufgetreten waren. Pathophysiologisch beruht die erhöhte Epileptogenität zum einen auf dem direkt auftretenden Strukturschaden durch den Infektionserreger und zum anderen auf den durch die Infektion ausgelösten sekundären entzündlichen Prozessen. Epilepsien als Folge von ZNS-Infektion sind bei jedem zweiten Patienten – und somit häufiger als bei allen Patienten mit Epilepsie – pharmakoresistent. Einige Antiinfektiva haben ein anfallsförderndes Potenzial, dennoch sollte auch nach Auftreten erster Anfälle bei ZNS-Infektion die Auswahl der Substanz nicht nach epileptologischen, sondern rein nach infektiologischen Kriterien erfolgen.
Martin Holtkamp, Felix Benninger
20. Autoimmune Anfälle und Epilepsien
Zusammenfassung
Autoimmunenzephalitiden mit Autoantikörpern (am häufigsten: Anti-NMDAR, Anti-LGI1, Anti-CASPR2, Anti-GAD, Anti-Hu) gehen häufig mit Anfällen einher; gelegentlich dominieren diese sogar das Bild. Patienten mit Antikörpern gegen intrazelluläre Antigene (Anti-GAD, Anti-Hu etc.) gehen häufig in chronische fokale Epilepsien über, die man als autoimmune Epilepsien betrachten kann. Gleiches gilt für die Rasmussen-Enzephalitis. Es handelt sich um seltene Erkrankungen. Die Diagnose stützt sich auf Anamnese, MRT, EEG, Liquor und auf den Nachweis neuraler Antikörper. Autoimmune Epilepsien mit Antikörpern gegen Oberflächenantigene reagieren gut auf Immuntherapie. Die Epilepsie aufgrund einer Rasmussen-Enzephalitis lässt sich sehr gut durch eine Hemisphärektomie in einer der modernen Varianten behandeln.
Christian G. Bien
21. Metabolische Epilepsien
Zusammenfassung
Metabolische Epilepsien sind als Erkrankungen definiert, die direkt aus einer metabolischen Störung resultieren und bei denen die Epilepsie ein Kernsymptom darstellt. Die meisten metabolischen Epilepsien manifestieren sich im Kindesalter. Eine Persistenz der Erkrankung in das Erwachsenenalter ist möglich, dann treten aber oft andere neurologische und systemische Störungen in den Vordergrund. Erstmanifestationen im Erwachsenenalter sind möglich, aber selten. Die Gruppe der progressiven Myoklonusepilepsien ist besonders häufig mit angeborenen Stoffwechselerkrankungen assoziiert. Für einige metabolische Epilepsien sind spezifische Therapieansätze verfügbar.
Kerstin A. Klotz, Friedhelm C. Schmitt
22. Epilepsien unbekannter Ätiologie
Zusammenfassung
Die Diagnosestellung Epilepsie unbekannter Ätiologie ist das Ergebnis einer umfassenden Ausschlussdiagnostik. Der Anteil dieser Diagnose an allen ätiologischen Gruppen der Epilepsien wird durch die Art und die Verfügbarkeit der eingesetzten diagnostischen Mittel mitbestimmt. Dies wird schon bei der Wahl der Sequenzen und der Feldstärke des MRT deutlich. Im Gegensatz zur unklassifizierten Epilepsie stellt die Epilepsie unbekannter Ätiologie per se keine Kontraindikation für die prächirurgische Evaluation und einen möglichen epilepsiechirurgischen Eingriff dar, auch wenn die Wahrscheinlichkeit postoperativer Anfallsfreiheit geringer ist als bei Nachweis einer epileptogenen Läsion.
Friedhelm C. Schmitt

Diagnostik

Frontmatter
23. Anamnese und körperlicher Befund
Zusammenfassung
Die Eigen- und Fremdanamnese sowie der klinische Untersuchungsbefund stellen die Schlüsselinformation bei der Untersuchung von Patienten mit Anfällen und Epilepsie dar. So kann in sehr vielen Fällen bereits die korrekte Diagnose gestellt werden. Die Anamnese ist in der Epileptologie äußerst wichtig, da sie den Einstieg in eine tragende Arzt-Patienten-Beziehung darstellt und somit bereits Bestandteil der Therapie ist. Ein Homevideo (z. B. mit einem Smartphone aufgenommen) kann die Aussagekraft fremdanamnestischer Angaben zur Anfallssemiologie deutlich verbessern. Während das Video-EEG-Monitoring der Goldstandard für die Anfallsdiagnose ist, stellen Anamnese und klinischer Untersuchungsbefund das Fundament für die Diagnose dar. Dabei sollte die Anamnese die Anfallserkrankung im gesamten Lebenskontext des Patienten erfassen.
Hermann Stefan, Friedhelm C. Schmitt
24. Klinische Lateralisations- und Lokalisationszeichen
Zusammenfassung
Eines der wesentlichen Ziele der Diagnostik von Patienten mit fokaler Epilepsie ist die Identifikation des Orts des Anfallsursprungs, dies gilt insbesondere im Rahmen der prächirurgischen Evaluation. Aus den spontanen Angaben des Patienten und gegebenenfalls Dritter, auf der Basis gezielter Erfragungen durch den Arzt und erst recht aus videodokumentierten Anfällen im häuslichen und stationären Bereich lässt sich die Semiologie von Anfällen gut charakterisieren. Die Anfallssemiologie beinhaltet oft lateralisierende und lokalisierende Zeichen, deren Identifikation bei der Epilepsiechirurgie mit einer besseren postoperativen Anfallsprognose assoziiert ist. Allerdings spiegelt die Semiologie zu Beginn des Anfalls nur die Beteiligung der symptomatogenen Zone wider; der Beginn des Anfalls kann auch in benachbarten nichteloquenten Kortexarealen liegen. Somit sind die klinischen Zeichen zu Beginn des Anfalls immer im Kontext mit anderen elektroklinischen Befunden zu interpretieren.
Susanne Knake, Katja Menzler
25. Laboruntersuchungen
Zusammenfassung
Laboruntersuchungen aus Blut bzw. Serum und Liquor stellen einen wichtigen Baustein in der Diagnostik und Differenzialdiagnostik von epileptischen Anfällen und Epilepsien dar. Allerdings ist keine der Untersuchungen beweisend für eine epileptische Genese; sie stellen bislang nur eine Unterstützung im klinischen Gesamtkontext dar. Bei der Pharmakotherapie ist die Bestimmung von Serumkonzentrationen der Antiepileptika bei der Interpretation von Nebenwirkungen und Interaktionen hilfreich. Antiepileptika haben einen Einfluss auf die Hämatopoese und können zu Veränderungen des Hormon- und des Elektrolythaushalts sowie der Metabolisierungsprozesse von Leber, Niere oder des Lipidhaushalts führen. Laboruntersuchungen können diese Veränderungen objektivieren und quantifizieren. Autoimmune Anfälle und Epilepsien können bei den entsprechenden klinischen Konstellationen mithilfe des Nachweises von Autoantikörpern in Serum und Liquor diagnostiziert werden.
Christian Tilz, Bernhard J. Steinhoff
26. Elektroenzephalografie
Zusammenfassung
Die Elektroenzephalografie (EEG) ist von den verschiedenen Untersuchungsmethoden, die zur Diagnostik von Epilepsien eingesetzt werden, neben der Magnetenzephalografie die einzig spezifische. Schon ein epileptischer Anfall kann für die Diagnose einer Epilepsie ausreichend sein, wenn im EEG ein interiktales epileptiformes Muster nachgewiesen wird. Das Routine-EEG hat zu Beginn der Erkrankung eine niedrige Sensitivität für die Detektion epileptiformer Muster. Aktivierungsmethoden wie Hyperventilation, Fotostimulation und Schlafableitungen sowie wiederholte Untersuchungen erhöhen die Sensitivität. Die hohe klinische Relevanz der Identifikation epileptiformer Muster erfordert auch eine belastbare Abgrenzung von Artefakten und Normvarianten. Daneben hat das EEG große Bedeutung in der Diagnose von Enzephalopathien und ist zentraler Bestandteil für die Beurteilung des Schlafs in der Polysomnografie.
Jan Rémi, Soheyl Noachtar
27. Strukturelle Magnetresonanztomografie
Zusammenfassung
Die Bedeutung der strukturellen Bildgebung hat durch stetige Verbesserungen der Auflösung mithilfe optimierter und neuer Sequenzen sowie durch verbesserte MRT-Scanner in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Neben der Analyse der Anfallssemiologie und dem EEG ist das MRT des Kopfs, ambulant wie stationär, nunmehr die dritte essenzielle Säule der Epilepsiediagnostik. Sie hilft insbesondere bei der ätiologischen Zuordnung von Epilepsien und kann kausale Therapienotwendigkeiten und -optionen aufzeigen. Die zuverlässige Detektion epileptogener Läsionen erfordert die Verwendung epilepsiespezifischer MRT-Protokolle, die Kenntnis epileptogener Läsionen seitens der Befunder und das Vorhandensein einer klinischen Hypothese bezüglich der Zone des Anfallsursprungs.
Susanne Knake, Jörg Wellmer
28. Neuropsychologie
Zusammenfassung
Neuropsychologische Beeinträchtigungen bei Epilepsie haben eine hohe Prävalenz, sind oftmals schon zu Beginn der Epilepsie feststellbar und können durch verschiedene personen-, krankheits- und behandlungsbezogene Einflussfaktoren bedingt sein. Das Kernziel der Neuropsychologie besteht darin, Leistung im Krankheitskontext zu erfassen, sie im Verlauf zu überwachen und bewahren zu helfen. Neben ihrer traditionellen Rolle im Bereich der prächirurgischen Epilepsiediagnostik hat sich die Neuropsychologie generell als nützliches Werkzeug zur Qualitäts- und individuellen Ergebniskontrolle medizinischer Interventionen bei Epilepsie etabliert. Eine Indikation zur neuropsychologischen Untersuchung besteht, wenn die Beantwortung der klinischen Fragestellung eine relevante Konsequenz für den Patienten, den diagnostischen Prozess oder das Behandlungskonzept haben kann. Ein praktikabler und zeitökonomischer Untersuchungsansatz ist die fragestellungsspezifische evidenzbasierte modulare Testdiagnostik.
Juri-Alexander Witt, Christoph Helmstaedter
29. Video-EEG-Monitoring
Zusammenfassung
Das Video-EEG-Monitoring (VEM) vermag, elektroenzephalographische und klinische Manifestationen epileptischer Anfälle oder anderer Ereignisse ad hoc und post hoc zu analysieren. Es ist der diagnostische Goldstandard in der klinischen Epileptologie und elementarer Teil der prächirurgischen Diagnostik. Im Folgenden werden die historische Entwicklung, die Indikationsstellungen, die praktischen Aspekte der Durchführung inklusive Fragen zur Sicherheit sowie Standards der Testung und der Befundung sowohl für das Oberflächen-VEM, wie auch für das invasive VEM dargestellt. In Zukunft werden technische Entwicklungen weitere Verbesserungen der EEG-Systeme erreichen und das Anwendungsspektrum erweitern.
Friedhelm C. Schmitt, Margitta Seeck, Felix Rosenow, Adam Strzelczyk
30. Nuklearmedizinische Untersuchungen
Zusammenfassung
Der diagnostische Einsatz nuklearmedizinischer Verfahren ist in der Epileptologie komplexeren Fragestellungen vorbehalten. Der Einsatz des interiktalen PET und des iktalen SPECT ist bei Fragen nach Lateralisation oder Lokalisation des epileptogenen Fokus im Rahmen der prächirurgischen Epilepsiediagnostik indiziert. Das PET spielt zudem eine Rolle bei der Detektion autoimmuner Epilepsien mit negativem Autoantikörperstatus. Auch bei läsionellen Epilepsien, die auf einen Tumor zurückzuführen sind, können nuklearmedizinische Untersuchungen diagnostisch hilfreich sein.
Tim J. von Oertzen, Robert Pichler
31. Quellenlokalisation
Zusammenfassung
Die Methode der Quellenlokalisation berechnet die Lage der neuronalen Generatoren von im Elektroenzephalogramm (EEG) und Magnetenzephalogramm (MEG) gemessener Aktivität. In der Epileptologie kommt das MEG zur Fokuslokalisation sowie seltener für das funktionelle Mapping zum Einsatz. Wesentliche Bestandteile sind dabei die Auswahl des Quellenmodells, der Volumenleitermodelle und des Quellenraums. Ihre Anwendung ist trotz ihres nachgewiesenen klinischen Nutzens oft nicht an einen finanziellen Mehrerlös gebunden und sie ist nicht nur zeitlich, sondern – durch die Zusammenarbeit von Neurologen, Physikern und Ingenieuren – auch personell aufwendig.
Stefan Rampp, Markus Gschwind
32. High-Density-Elektroenzephalografie
Zusammenfassung
Die Vorteile der High-density-Elektroenzephalographie(hd-EEG)-Systeme liegen in einer besseren räumlichen Abtastung und einer Verbesserung des Signal-Rausch-Verhältnisses, einer größeren Ausdehnung der abgedeckten Kortexregionen und einer präziseren Lokalisation der elektrischen Generatoren. Im klinischen Kontext der prächirurgischen Diagnostik zeigte sich eine gute Vergleichbarkeit mit verschiedenen als Goldstandard angesehenen Methoden zur Bestimmung der epileptogenen Zone, die hdEEG stellt somit – analog zur Magnetenzephalographie (MEG) – ein gut validiertes, nicht-invasives diagnostisches Instrumentarium dar.
Margitta Seeck, Markus Gschwind
33. Magnetenzephalografie
Zusammenfassung
Die Magnetenzephalografie (MEG) misst die magnetischen Felder der neuronalen Aktivität. Sie wird im Rahmen der prächirurgischen Epilepsiediagnostik zur Lokalisation der fokalen epileptischen Aktivität und für das funktionelle Mapping eingesetzt. Die Ergebnisse dienen der Planung invasiver Ableitungen und epilepsiechirurgischer Eingriffe. Studien zeigen, dass die Berücksichtigung der MEG-Lokalisationen signifikant mit höheren Raten postoperativer Anfallsfreiheit assoziiert ist. Patienten, die insbesondere von dem Verfahren profitieren, sind diejenigen mit nicht-läsionellen Epilepsien, mit großen Läsionen, mit Volumen- oder Knochendefekten, mit unklaren EEG-Befunden und mit fehlender Anfallsfreiheit nach einem ersten epilepsiechirurgischen Eingriff.
Stefan Rampp
34. Funktionelle Magnetresonanztomografie
Zusammenfassung
Die funktionelle MRT (fMRT) von Motorik und Sprache sind heutzutage übliche Methoden zur Funktionslokalisierung und dienen primär der Vermeidung operativer Morbidität. Das Gedächtnis-MRT stellte eine weitere Option zur Prädiktion von resektionsbedingten Funktionsverlusten dar, ist aber wesentlich aufwendiger und weniger verbreitet. Die simultane EEG-fMRT und die Resting-state-fMRT sind Verfahren, die in der prächirurgischen Diagnostik noch keinen etablierten Platz haben; diese Verfahren ermöglichen jedoch, mehr über Propagations- und Netzwerkeigenschaften bei verschiedenen Epilepsiesyndromen zu erfahren und sind Gegenstand der Forschung.
Niels Focke, Silke Klamer
35. Weitere funktionelle Untersuchung eloquenter Areale
Zusammenfassung
Funktionelle Untersuchungen dienen vor allem in der prächirurgischen Epilepsiediagnostik der Lateralisierung und Lokalisierung funktionstragender, eloquenter Kortexareale. Die gewonnenen Informationen helfen bei der Festlegung von Resektionsgrenzen und bei der präoperativen Abschätzung des Risikos postoperativer Defizite. Eine detaillierte präoperative Planung kann Risiken minimieren bzw. helfen, geeignete Patienten für einen epilepsiechirurgischen Eingriff zu identifizieren. Die zurzeit gängigen Methoden zur Definition eloquenter Areale, der Wada-Test, die funktionelle transkranielle Dopplersonographie und die intrakranielle EEG-Stimulation, werden in diesem Kapitel vergleichend gegenübergestellt. Zudem werden die Vor- und Nachteile neuerer nicht-invasiver funktioneller Untersuchungen diskutiert.
Susanne Knake, Katja Menzler
Kapitel 36. Apparativ unterstützte Anfallsdetektion
Zusammenfassung
Die apparativ unterstützte Detektion von epileptischen Anfällen ist wichtig zur objektiven Überprüfung der Wirksamkeit jeglicher Behandlungsmodalität in der Epileptologie, zur Prävention des „sudden unexpected death in epilepsy“, zur Vermeidung von anfallsassoziierten Verletzungen, zur Warnung der betroffenen Personen vor bevorstehenden Anfällen und zur Entwicklung von bedarfsgesteuerten Therapieformen. Eine automatische Anfallsdetektion kann durch Analyse des Oberflächen- und des intrakraniellen EEG, durch Messung physiologischer Parameter wie Herz- und Atemfrequenz und durch Erfassung von motorischen Manifestationen, z. B. mit Oberflächenelektromyografie, erfolgen. Bestimmte Parameter können ausschließlich oder besonders gut bestimmte Anfallstypen erfassen. Daher kommen zunehmend multimodale Detektionssysteme zum Einsatz. Die meisten Systeme besitzen eine sehr hohe Sensitivität von über 75 %, wobei die Spezifität noch verbessert werden muss. Die Akzeptanz eines Systems durch die Patienten ist von entscheidender Bedeutung für dessen klinische Einsatzmöglichkeit.
Christoph Baumgartner, Johannes P. Koren
37. Histopathologische Untersuchungen
Zusammenfassung
Das durch eine Resektion gewonnene Hirngewebe von Patienten mit Epilepsie sollte – wenn möglich – immer histopathologisch untersucht werden. Dadurch vertiefen sich unsere Kenntnisse typischer, aber auch seltener epilepsieassoziierter Läsionen. Am Neuropathologischen Referenzzentrum für Epilepsiechirurgie in Erlangen wurden 5603 Gewebeproben nach einem resektiven epilepsiechirurgischen Eingriff mikroskopisch untersucht und epilepsieassoziierte Läsionen in über 90 % aller Fälle detektiert. Hierbei sind die Hippocampussklerose, das Gangliogliom und die fokale kortikale Dysplasie Typ II die häufigsten Entitäten. Weiterführende wissenschaftliche Untersuchungen am betroffenen Gewebe helfen, grundlegende Pathomechanismen aufzuklären, die – letztendlich – zu neuen, personalisierten Therapien führen können.
Ingmar Blümcke
Kapitel 38. Genetische Diagnostik
Zusammenfassung
Voraussetzung für eine zielgerichtete genetische Diagnostik ist eine umfassende Phänotypisierung und korrekte syndromale Einordnung des Patienten. Im klinischen Alltag stehen von Analysen des Karyogramms bis hin zu Exomen verschiedene Analyseverfahren zur Verfügung, die auf Basis der klinischen Charakterisierung des Patienten zielgerichtet und nach dem Prinzip der Stufendiagnostik Anwendung finden. Außerhalb des wissenschaftlichen Kontexts ist die Diagnostik strikten Regularien des Gendiagnostikgesetzes unterworden. Limitationen ergeben sich durch die Restriktionen der aktuellen Abrechnungsbestimmungen, die der Heterogenität der zu analysierenden Syndrome nicht gerecht werden.
Karl Martin Klein, Philipp S. Reif

Differenzialdiagnosen

Frontmatter
39. Übersicht zu Differenzialdiagnosen
Zusammenfassung
Epileptische Anfälle müssen von einer Reihe anderer paroxysmal auftretender Entitäten abgegrenzt werden; diese umfassen Synkopen, psychogene nicht-epileptische Anfälle, transitorische ischämische Attacken, Migräneattacken, Dyskinesien und episodische Ataxien. Diese Differenzialdiagnosen teilen mitunter klinische Gemeinsamkeiten, es gibt aber auch deutliche Unterschiede in den Merkmalen, die – bei genauer Anamnese und körperlicher Untersuchung – eine diagnostische Zuordnung einigermaßen sicher erlauben.
Hermann Stefan
Kapitel 40. Synkopen
Zusammenfassung
Die wahrscheinlichsten Ursachen für einen transienten Bewusstseinsverlust sind ein bilateraler bzw. generalisierter tonisch-klonischer epileptischer Anfall und eine Synkope, wobei Letzteres häufig als epileptischer Anfall fehldiagnostiziert wird. Während es bei beiden Entitäten zu motorischen Zeichen kommen kann und die Augen geöffnet sind, ist die rasche Reorientierung nach der Bewusstlosigkeit ein deutlicher Hinweis auf eine Synkope, ausser bei älteren Patienten. Zur Vermeidung von Rezidiven sollen Synkopen möglichst rasch diagnostisch zugeordnet werden, da in Abhängigkeit der Ursache Morbidität und Mortalität erheblich sein können. Das wichtigste diagnostische Werkzeug ist die ausführliche Anamneseerhebung beim Patienten und idealerweise bei Dritten. Weitere Untersuchungsmethoden umfassen Blutdruckmessungen im Stehen und Liegen, EKG-Diagnostik und mitunter die Echokardiografie. Längere EKG-Ableitungen haben eine höhere Sensitivität zur Detektion von Rhythmusstörungen, wenn sie innerhalb von einem Tag nach der Synkope durchgeführt werden.
Mehdi Namdar, Margitta Seeck
41. Psychogene nicht-epileptische Anfälle
Zusammenfassung
Psychogene nicht-epileptische Anfälle (PNEA) stellen eine der wichtigsten Differenzialdiagnosen für epileptische Anfälle dar. PNEA sind paroxysmale Ereignisse, die in der Regel vor dem Hintergrund unterschiedlicher psychischer Störungen auftreten. Belastende Lebenserfahrungen, wie Missbrauch und Misshandlung, sind bei vielen Patienten relevante Entstehungsfaktoren. Für die Diagnosestellung ist das Video-EEG-Monitoring mit Analyse der Anfallssemiologie der Goldstandard zur Abgrenzung von epileptischen Anfällen. Eine umfassende klinisch-psychologische Untersuchung ist nötig, um zugrunde liegende Belastungsfaktoren zu identifizieren und andere psychische Erklärungen für die anfallsartigen Ereignisse auszuschließen (z. B. Blut-Spritzen-Phobie, artifizielle Störung, Simulation). Bleiben PNEA unbehandelt, ist die Prognose ungünstig. Psychotherapeutische Interventionen haben sich als wirksam erwiesen, um bei bis zu 80 % der Patienten eine erhebliche Reduktion der Anfälle oder Anfallsfreiheit zu erreichen.
Kirsten Labudda
42. Migräne
Zusammenfassung
Migräne und Epilepsie sind chronische Hirnerkrankungen, deren Symptome – Migräneattacke und epileptischer Anfall – sich paroxysmal manifestieren. Beide Entitäten teilen eine Reihe weiterer Eigenschaften in Bezug auf das klinische Bild und einige pathophysiologische Mechanismen. So können visuelle Auren bei Migräne und bei Epilepsien zu Verwechslungen führen, jedoch ist die Dauer bei Migräne deutlich länger. Auch sind periiktale Kopfschmerzen häufig; jeder zehnte Patient mit Epilepsie hat präiktale und fast jeder zweite Patient postiktale Kopfschmerzen, die oft einen migräneartigen Charakter haben. Spezielle Formen der Migräne, wie die mit einer Hirnstammaura oder mit einer hemiplegischen Symptomatik, können aufgrund ihres klinischen Bilds während der Attacke mit epileptischen Anfällen verwechselt werden und zur Fehldiagnose einer Epilepsie führen. In der Regel führt aber eine detaillierte Erhebung der Anamnese zur korrekten Unterscheidung in Migräneattacke und epileptischen Anfall.
Margitta Seeck
43. Schlafbezogene Verhaltens- und Bewegungsstörungen
Zusammenfassung
Schlafbezogene Verhaltens- und Bewegungsstörungen stellen die wesentlichen Differenzialdiagnosen zu denjenigen Epilepsiesyndromen dar, bei denen die epileptischen Anfälle ausschließlich bzw. nahezu ausschließlich aus dem Schlaf heraus auftreten. Diese schlafbezogenen Störungen sind vielfältig, sie umfassen die NREM-Arousal-Parasomnien, die REM-Schlaf-Verhaltensstörung, die periodischen Beinbewegungen im Schlaf, die schlafbezogenen rhythmischen Bewegungsstörungen, den propriospinalen Myoklonus in der Einschlafphase und den hypnagogen Fußtremor. Auch wenn die Erhebung einer detaillierten Anamnese, wie in der Neurologie üblich, sinnvoll ist, so hat diese bei schlafbezogenen Störungen erhebliche Limitationen. Die Videopolysomnografie stellt den diagnostischen Goldstandard in der apparativen Diagnostik aller schlafbezogenen paroxysmalen Störungen einschließlich der epileptischen Anfälle aus dem Schlaf dar; sie erfasst mehr Biosignale als das in der Epileptologie gebräuchliche Langzeit-Video-EEG.
Pascal Grosse

Pharmakotherapie

Frontmatter
44. Indikationen zur pharmakologischen Therapie
Zusammenfassung
Ein signifikant erhöhtes Risiko für mindestens einen weiteren epileptischen Anfall stellt die Indikation für eine antiepileptische Pharmakotherapie dar. Nach akut symptomatischen Anfällen bei Schlaganfall – Daten für andere Entitäten liegen nicht vor – beträgt das Risiko für einen weiteren Anfall in der akuten Phase 10–20 %. Daher wird in Leitlinien für diese Konstellation keine temporäre sekundärprophylaktische Behandlung empfohlen. Dennoch wird im klinischen Alltag in dieser Situation oft ein Antiepileptikum gegeben. Da das langfristige Risiko für einen unprovozierten Anfall nach einem akut symptomatischen Anfall mit 15–30 % niedrig ist, sollte ein eventuell gegebenes Antiepileptikum mit Verlegung oder Entlassung aus dem Krankenhaus wieder abgesetzt werden. Ein erster unprovozierter epileptischer Anfall bei cMRT und EEG ohne Hinweise auf ein erhöhtes Anfallsrisiko bedarf keiner antiepileptischen Behandlung. Gibt es im cMRT oder EEG Hinweise auf eine anhaltende Veränderung des Gehirns, epileptische Anfälle zu generieren, besteht die Indikation zur antiepileptischen Pharmakotherapie.
Martin Holtkamp
Kapitel 45. Antiepileptika
Zusammenfassung
Die Hauptsäule der Behandlung der Epilepsien ist die pharmakologische Therapie. Obwohl nicht die Erkrankung Epilepsie selbst behandelt wird, sondern das Symptom epileptischer Anfall verhindert werden soll, sprechen wir bei den eingesetzten Medikamenten von Antiepileptika. Es stehen aktuell mehr als 20 verschiedene Substanzen mit sehr unterschiedlichem Wirkmechanismus in Mono- und Zusatztherapie zur Verfügung. Mit den ersten beiden eingesetzten Substanzen werden etwa zwei von drei Patienten längerfristig anfallsfrei. Wird dies nicht erreicht, spricht man von Pharmakoresistenz. Patienten werden in der Konstellation häufig mit einer Kombinationstherapie aus zwei Antiepileptika behandelt. Gleichwertig mit einer suffizienten Anfallskontrolle sollen die eingesetzten Substanzen keine oder allenfalls minimale Nebenwirkungen aufweisen. Nebenwirkungen führen zu einer eingeschränkten Lebensqualität und häufig zu einer reduzierten Therapieadhärenz.
Bernhard J. Steinhoff
46. Monotherapie
Zusammenfassung
Der Einsatz von Antiepileptika in Monotherapie hat das Ziel, Anfallsfreiheit bei keinen oder minimalen Nebenwirkungen zu erzielen. Mit dem ersten Antiepileptikum werden 50–60 % der Patienten mit fokaler Epilepsie für mindestens zwölf Monate anfallsfrei. Diese Rate hat sich in den vergangenen Jahrzehnten nicht geändert, neu zugelassene Antiepileptika sind also nicht wirksamer als die bisher eingesetzten Substanzen. Neben der Wirksamkeit ist die Verträglichkeit der langfristig einzunehmenden Antiepileptika eine entscheidende Größe; beide Parameter zusammen werden durch die Retention angezeigt. Die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie empfehlen bei fokalen Epilepsien Lamotrigin und Levetiracetam als Mittel der ersten Wahl, bei generalisierten Epilepsien Valproinsäure. Wenn das erste Antiepileptikum keine Wirksamkeit zeigt oder zu relevanten Nebenwirkungen führt, muss es gegen eine andere Substanz ausgetauscht werden.
Martin Holtkamp
47. Polytherapie
Zusammenfassung
Wenn zwei sukzessiv in Monotherapie eingesetzte Antiepileptika nicht zu Anfallsfreiheit geführt haben, ist in der Regel eine Polytherapie bestehend aus zwei Substanzen indiziert. Die Wirksamkeit von Antiepileptika in Zusatztherapie wird in Zulassungsstudien ausschließlich gegenüber Placebo kontrolliert. Somit liegen keine Daten vor, die einen direkten Vergleich unterschiedlicher Antiepileptika in Zusatztherapie erlauben. Die Auswahl erfolgt also nach patientenindividuellen Aspekten der Verträglichkeit unter Berücksichtigung von Alter, Geschlecht, Komorbiditäten und Komedikation. Eine rationale Polytherapie beruht aktuell überwiegend auf mechanistischen Vorstellungen; belastbare klinische Daten, dass Substanzen mit bestimmten Wirkmechanismen gut oder weniger gut zusammen passen, gibt es nicht. Die Polytherapie bestehend aus Lamotrigin und Valproinsäure scheint jenseits der Pharmakokinetik einen synergistischen Effekt zu haben.
Martin Holtkamp
48. Konzept Pharmakoresistenz
Zusammenfassung
Nach erfolglosem Einsatz von mehr als zwei Antiepileptika sinkt die Chance auf Anfallsfreiheit mit der Gabe weiterer Antiepileptika rapide. Zahlreiche Faktoren – insbesondere die Dauer bzw. Schwere der Epilepsie – scheinen einen negativen Einfluss zu haben. In der Zusammenschau gibt es mehrere neurobiologische Hypothesen für die Entstehung von Pharmakoresistenz, wobei keine dieser Hypothesen einen alleinigen Erklärungsansatz darstellt. Bislang konnten keine klinisch relevanten Konsequenzen aus diesen Hypothesen entwickelt werden. Pharmakoresistenz ist ein bestimmender Faktor in fast allen therapeutischen Strategien in der Behandlung der Epilepsien und führt – entsprechend ihrer hohen Prävalenz – auch zu signifikanten sozioökonomischen Konsequenzen. Eine klinisch praktikable Definition für Pharmakoresistenz liegt vor und sollte Bestandteil in den Entscheidungsprozessen für diagnostische und therapeutische Schritte in der Epileptologie sein.
Friedhelm C. Schmitt
49. Beendigung der pharmakologischen Therapie
Zusammenfassung
Beratungen von Patienten über die Beendigung der antiepileptischen Therapie setzen Wissen um die Wahrscheinlichkeit von Anfallsrezidiven voraus. Unabhängig von der Epilepsieart und von der zugrunde liegenden Ätiologie erleiden etwa 40 % der Patienten innerhalb der ersten zwei Jahre und etwa 50 % der Patienten innerhalb der ersten fünf Jahre nach Absetzen der Antiepileptika ein Anfallsrezidiv. Bei der Interpretation dieser Daten muss berücksichtigt werden, dass 20–25 % der Patienten mit unveränderter Fortführung der antiepileptischen Therapie ebenfalls ein Anfallsrezidiv haben. Eine Metaanalyse aus zehn Studien zum Absetzen der Medikation konnte acht unabhängige Prädiktoren für Anfallsrezidive identifizieren. Diese erlauben eine grobe Abschätzung des Rezidivrisikos. Generell sollten Antiepileptika erst nach mindestens zweijähriger Anfallsfreiheit abgesetzt werden; es empfiehlt sich ein langsames Ausschleichen über mehrere Monate.
Martin Holtkamp

Epilepsiechirurgie

Frontmatter
50. Indikationsstellung für epilepsiechirurgische Eingriffe
Zusammenfassung
Voraussetzung für die Indikationsstellung für ein epilepsiechirurgisches Verfahren sind Pharmakoresistenz, eine klare Hypothese hinsichtlich der epileptogenen Zone und die Bereitschaft des Patienten zu einer chirurgischen Behandlung seiner Epilepsie. Ziel der chirurgischen Intervention sind Anfallsfreiheit oder – nachgeordnet – eine Reduktion von Anfallsfrequenz und -schwere. Zudem soll postoperativ kein oder allenfalls ein minimales neurologisches bzw. neuropsychologisches Defizit auftreten. Nur für die anteriore Temporallappenteilresektion, die Vagusnerv- und die Tiefe Hirnstimulation liegen Studien der Evidenzklasse 1 vor. Im Regelfall erfolgt aber in der präoperativen Beratung des Patienten eine Nutzen-Risiko-Abwägung auf Basis von Kohortenstudien, die den langfristigen postoperativen Verlauf von Anfällen und Defiziten untersucht haben. Diese Abwägung ist auch abhängig von den in Betracht kommenden operativen Methoden.
Friedhelm C. Schmitt
51. Resektionen
Zusammenfassung
Alle Patienten mit einer pharmakoresistenten fokalen Epilepsie sind potenzielle Kandidaten für einen operativen Eingriff. Die resektive Epilepsiechirurgie stellt eine sehr effektive und sichere Behandlungsoption dar. Grob lassen sich epilepsiechirurgische Eingriffe in umschriebene Resektionen (meist bei unifokalen strukturellen Läsionen) und in multilobäre Resektionen oder Hemisphärektomien (bei diffusen oder multifokalen strukturellen Läsionen) unterscheiden. Voraussetzung für einen epilepsiechirurgischen Eingriff ist eine exakte präoperative Lokalisation des Anfallsfokus. Meist ist in der nichtinvasiven Phase I – seltener erst in der invasiven Phase II – eine prognostische Aussage bezüglich der postoperativen Anfallskontrolle und eine Abschätzung des Risikos funktioneller Defizite möglich. Die Epilepsiechirurgie sollte bei Patienten mit pharmakoresistenten Epilepsien frühzeitig erwogen werden, um die negativen psychosozialen und organischen Konsequenzen einer langjährigen Anfallserkrankung zu vermeiden.
Christoph Baumgartner
52. Diskonnektive Verfahren
Zusammenfassung
Ziel der diskonnektiven Verfahren ist die Unterbrechung der Propagation von epileptischen Entladungen und somit die Reduktion der Morbidität epileptischer Anfälle. Multiple subpiale Transsektionen (MST) und Kallosotomien sind die gebräuchlichsten diskonnektiven Verfahren. Sie werden in der Regel bei Patienten mit unklarem oder diffusem Anfallsursprung, multifokaler epileptogener Zone oder Überlappung der epileptogenen Zone mit eloquenten Hirnarealen durchgeführt. Sie werden auch als palliative epilepsiechirurgische Verfahren bezeichnet, da sie – im Vergleich zu Resektionen – nicht Anfallsfreiheit, sondern eine Reduktion der Anfallsschwere erzielen. MST und Kallosotomie bieten aber bei Patienten, die für einen resektiven Eingriff nicht infrage kommen, eine gute Chance auf Verbesserung von Anfallsschwere und -frequenz. Bei der Beratung und der prächirurgischen Evaluation sollten diese – aktuell vorwiegend in der Neuropädiatrie eingesetzten Verfahren – auch bei Erwachsenen berücksichtigt werden.
Georgia Ramantani, Niklaus Krayenbühl
53. Ablative Verfahren
Zusammenfassung
Zurzeit stehen im deutschsprachigen Raum de facto nur zwei ablative Verfahren für epileptologische Indikationen zur Verfügung: die Radiofrequenz- und die stereotaktische Laserthermoablation. Beiden Methoden gemein sind die minimale Invasivität und der Vorteil des Zugangs zu tiefer gelegenen Hirnstrukturen. Der Einsatz des jeweiligen Verfahrens hängt von Lage, Konfiguration und Größe des jeweils zu abladierenden Volumens ab. Während hypothalamische Hamartome, periventrikuläre noduläre Heterotopien und fokale kortikale Dysplasien Indikationen für die Radiofrequenzthermoablation sind, stellt die stereotaktische Laserablation für eine Vielzahl epileptischer Netzwerkstörungen – allen voran für die mesiale Temporallappenepilepsie und für Epilepsien mit hypothalamischem Hamartom – eine Behandlungsoption dar. Möglicherweise führt die minimale Invasivität auch zu einer größeren Akzeptanz gegenüber irreversiblen, aber potenziell kurativen epilepsiechirurgischen Verfahren.
Friedhelm C. Schmitt, Daniel J. Curry
54. Neuromodulative Verfahren
Zusammenfassung
In Europa ist neben der zervikalen Vagusnervstimulation (VNS) nur die Tiefe Hirnstimulation des anterioren Thalamus (ANT-THS) ein zugelassenes Verfahren. Für andere Zielorte der THS gibt es keine überzeugenden Studien, um eine breite klinische Anwendung zu ermöglichen. Die zervikale VNS hat sich inzwischen bei schweren pharmakoresistenten fokalen Epilepsien, insbesondere im Rahmen epileptischer Enzephalopathien und bei Menschen mit Behinderung, etabliert. Die ANT-THS ist insbesondere bei Patienten mit Temporallappenepilepsie bzw. mit fokalen, nicht bewusst erlebten Anfällen wirksam. Vor Einsatz eines neuromodulativen Verfahrens sollte die Möglichkeit eines potenziell kurativen epilepsiechirurgischen Eingriffs erwogen werden. Die technischen Weiterentwicklungen der neuromodulativen Verfahren, wie Closed-loop-Systeme, sind in der EU entweder nicht zugelassen oder bedürfen einer Validierung ihrer Wirksamkeit.
Gabriel Möddel, Friedhelm C. Schmitt
55. Radiochirurgische Verfahren
Zusammenfassung
Radiotherapeutische Behandlungsverfahren nehmen eine Nischenstellung im Therapiearsenal der Epilepsie ein, sie können aber bei ausgewählten Patienten eine Alternative oder sogar Therapie der Wahl sein. Letzteres gilt vor allem beim hypothalamischen Hamartom. In diesem Kapitel werden die Konzepte der Radiotherapie bei Epilepsien umrissen
Burkhard S. Kasper

Komplementäre Therapieverfahren

Frontmatter
56. Ketogene Diäten
Zusammenfassung
Ketogene Diäten (KD) sind fettreiche, kohlenhydratlimitierte, protein- und energiebilanzierte Formen der diätetischen Ernährung, die den Stoffwechsel während des Fastens imitieren. Der Energiebedarf wird dabei primär aus Nahrungsfetten und daraus in der Leber gebildeten Ketonen gedeckt. Hauptindikationen der KD sind Erkrankungen des zerebralen Energiestoffwechsels sowie pharmakoresistente Epilepsien des Kindesalters, die für kurative Epilepsiechirurgie nicht infrage kommen. Die KD sind eine effektive und – bei sachgemäßer Durchführung – vergleichsweise nebenwirkungsarme Alternative; es wurden günstige Auswirkung auf Kognition und Verhalten beschrieben. In den letzten Jahren wurden weniger rigide Diätformen, wie die modifizierte Atkins-Diät, entwickelt, die eine zunehmende Anwendung auch bei Epilepsien im Jugend- und Erwachsenenalter erlauben. Jede KD muss individuell berechnet und ärztlich überwacht werden. Die Durchführung erfordert daher enge interdisziplinäre Zusammenarbeit von speziell ausgebildeten Diätologen und Epileptologen.
Martha Feucht
57. Komplextherapie
Zusammenfassung
Für die Behandlung von Patienten mit Epilepsie ist die interdisziplinäre und multiprofessionelle Komplextherapie unentbehrlich. Eine strukturierte Verzahnung von ambulanter und stationärer Versorgung ist für einen nachhaltigen therapeutischen Erfolg wichtig. Epilepsieambulanzen, Schwerpunktpraxen, Medizinische Behandlungszentren für Erwachsene mit geistiger Behinderung und Epilepsieberatungsstellen stellen mannigfaltige ambulante Behandlungs- und Beratungsangebote dar. „Comprehensive care“ im stationären Setting umfasst die Anpassung der antiepileptischen Therapie, Training für die Akzeptanz und den adäquaten Umgang mit der Erkrankung Epilepsie, Patientenschulung, Therapiekontrolle, Psychotherapie, Anfallsselbstkontrolle und Biofeedbacktraining. Gerade die wichtige ambulante Sozialberatung bei Epilepsie, die auch eine zentrale Lotsenfunktion einnehmen kann, hat keine allgemein geregelte Finanzierungsgrundlage.
Martin Lutz, Thomas Mayer
58. Psychoedukation und Psychotherapie
Zusammenfassung
Menschen mit Epilepsie haben im Vergleich zu Menschen mit anderen chronischen Erkrankungen eine niedrigere gesundheitsbezogene Lebensqualität. Abgesehen von vollständiger Anfallsfreiheit tragen psychologische und psychosoziale Variablen stärker als medizinische Variablen zu dieser niedrigen Lebensqualität bei. Von allen Behandlungsansätzen für Menschen mit Epilepsie haben insbesondere psychoedukative und psychotherapeutische Interventionen eine Verbesserung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität und eine Reduktion von psychiatrischen Symptomen zum Ziel.
Rosa Michaelis, Markus Reuber

Epileptologische Notfälle

Frontmatter
59. Anfallsserien
Zusammenfassung
Anfallsserien sind von Anfallsclustern zu unterscheiden. Erstere sind kurz aufeinanderfolgende, repetitive Aneinanderreihungen von Anfällen innerhalb von Stunden oder einem Tag mit zwischenzeitlicher Wiederherstellung aller neurologischen Funktionen; letztere treten hingegen in längeren Abständen mit z. B. monatlicher Wiederholung auf und sind in der Regel selbstlimitierend. Bei der Anfallsserie kann es sich um eine Notfallsituation handeln, da der Übergang in einen Status epilepticus (SE) droht. Prinzipiell sind die therapeutischen Empfehlungen an die des SE angelehnt, wobei die Maßnahmen der individuellen Patientensituation angepasst werden können. Wenn ein repetitives Auftreten von Anfällen anamnestisch bekannt ist, ist die Vorhaltung einer antiepileptischen Bedarfsmedikation – im Gegensatz zum einzelnen epileptischen Anfall – sinnvoll.
Tobias Knieß, Friedhelm C. Schmitt
60. Status epilepticus
Zusammenfassung
Die neue Definition und Klassifikation des Status epilepticus (SE) der Internationalen Liga gegen Epilepsie 2015 unterteilt einerseits in eine Form mit prominenter motorischer Symptomatik, die neben dem bilateralen tonisch-klonischen (konvulsiven) SE auch den fokalen motorischen, den myoklonischen, den tonischen und den hyperkinetischen SE umfasst. Diesem wird andererseits der SE ohne prominente motorische Phänomene, der nichtkonvulsive SE (NCSE), gegenübergestellt. Eine weitere Unterteilung betrifft die Bewusstseinslage. Die Inzidenz des SE steigt mit zunehmendem Alter der Patienten sowie mit der Verfügbarkeit des EEG zur Diagnose des NCSE. Die Prognose ist durch das Alter des Patienten und die Ätiologie des SE determiniert. Die Therapie erfolgt stufenweise mit Benzodiazepinen, klassischen Antiepileptika und Anästhetika.
Markus Leitinger, Eugen Trinka
61. Weitere epileptologische Notfälle
Zusammenfassung
In der epileptologischen Notfallbehandlung sind – jenseits von Anfallsserien und Status epileptici – anfallsassoziierte Verletzungen und toxische Nebenwirkungen von Antiepileptika bedeutsam, seltener treten periiktale Herzrhythmusstörungen und postiktale Psychosen bzw. Aggressionen auf. Die Stresskardiomyopathie (Takotsubo-Syndrom) und der „near“ SUDEP sind hingegen Raritäten. Eine Sonderstellung nimmt der prolongierte psychogene nicht-epileptische Anfall ein, da er oft als Status epilepticus fehldiagnostiziert und -therapiert wird. Kenntnisse bezüglich der Semiologie epileptischer Anfälle – sowohl allgemein wie auch bei dem individuellen Patienten – und die klinischen und therapeutischen Merkmale der oben genannten Entitäten sind wichtige Parameter im Kontext der epileptologischen Notfallbehandlung.
Friedhelm C. Schmitt

Komorbide Störungen

Frontmatter
62. Psychiatrische Störungen
Zusammenfassung
Die gesundheitsbezogene Lebensqualität bei einer aktiven Epilepsie wird durch Depression, Angst und Medikamentennebenwirkungen stärker als durch die Anfallshäufigkeit beeinträchtigt. Schätzungsweise 50 % der Patienten mit einer schwer behandelbaren Epilepsie erfüllen aktuell die Kriterien einer psychischen Erkrankung oder haben eine positive psychiatrische Anamnese. Einige Antiepileptika besitzen negative psychotrope Wirkungen. Bei einer gering bis moderat ausgeprägten Symptomatik von Angst- oder affektiven Störungen empfehlen die psychiatrischen Leitlinien heute Psychotherapie, gegebenenfalls in Kombination mit Psychopharmaka. Moderne Antidepressiva, wie z. B. die Gruppe der selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmer (Ausnahme: Buperidon) sowie die noradrenergen und spezifisch serotonergen Antidepressiva wirken in der Regel nicht prokonvulsiv. Bei den Antipsychotika ist hinsichtlich ihres prokonvulsiven Potenzials größere Vorsicht geboten; bewährt haben sich Haloperidol und das atypische Neuroleptikum Quetiapin.
Christian Hoppe
63. Somatische Störungen
Zusammenfassung
Die Inzidenz und Prävalenz somatischer Störungen sind bei Epilepsien erhöht. Gleichwohl führen die Heterogenität möglicher Komorbiditäten und der oft nicht eindeutige kausale Zusammenhang mit der Epilepsie häufig dazu, dass somatische Störungen nicht als assoziierte Komorbiditäten erkannt werden. Grundsätzlich können Komorbiditäten unterschieden werden in solche, die für die Epilepsie ursächlich sind, die aus der Epilepsie und ihrer Behandlung resultieren und die von ihr unabhängig sind, für die aber mit der Epilepsie gemeinsame Risikofaktoren bestehen. Dieses Kapitel befasst sich mit häufigen ursächlichen und resultierenden somatischen Komorbiditäten der Epilepsien, wie Diabetes mellitus, Osteoporose sowie neurodegenerative, autoimmune, gastrointestinale, pulmonologische, zerebro- und kardiovaskuläre Erkrankungen. Zudem finden sich bei epileptischen Anfällen und Epilepsien häufig inter-, peri- und iktale Symptome des autonomen Nervensystems.
Felix von Podewils, Bernadette Gaida
64. Somnologische Störungen
Zusammenfassung
Bei mehr als 10 % aller Patienten mit Epilepsie treten 90 % der Anfälle im Schlaf auf. Insbesondere bei Anfällen aus dem parietalen und frontalen Kortex besteht eine klare Bindung an den NREM-Schlaf. Bei genetischen generalisierten Epilepsien treten Anfälle häufig bei Vigilanzschwankungen und bei fokalen Epilepsien im NREM-Schlaf auf. Im REM-Schlaf manifestieren sich epileptische Anfälle am seltensten. Zwischen Epilepsie und Schlaf besteht eine enge Interaktion. Schlafgebundene Anfälle können im Wachen infolge der Schlaffragmentierung kognitive Fähigkeiten und die Lebensqualität negativ beeinflussen. Umgekehrt provoziert eine chronische Schlafstörung Anfälle, zum einen nachts durch eine pathologische Arousal-Dichte und zum anderen tagsüber durch Vigilanzminderungen. Therapiemodalitäten, wie Antiepileptika, Vagusnerv- und Tiefe Hirnstimulation, können durch schlafstörende Effekte diesen somnologisch-epileptogischen Teufelskreis ebenfalls verstärken. Schlafstörungen bzw. schlafbezogene Erkrankungen können den klinischen Verlauf und die Therapie einer Epilepsie negativ beeinflussen.
Berthold Voges, Friedhelm C. Schmitt

Spezielle Patientengruppen

Frontmatter
65. Jugendliche und junge Erwachsene
Zusammenfassung
Der Übergang für Jugendliche und junge Erwachsene mit Epilepsie aus der kindzentrierten Betreuung in die erwachsenenzentrierte neurologische Behandlung ist mitunter komplex und kann sich emotional schwierig für die ehemaligen Kinder und deren Eltern gestalten. Der Jugendliche muss und soll plötzlich selbstverantwortlich in Bezug auf seine Erkrankung handeln. Da die Kompetenz für den Umgang mit der Erkrankung in einem längeren Transitionsprozess erworben werden muss, beginnt dieser – als Aufgabe des Neuropädiaters – weit vor dem 18. Geburtstag. Der Transitionsprozess wird idealerweise mit einem strukturierten Transitionsarztbrief an den Neurologen mit den relevanten Fakten zu dem bisherigen Krankheitsverlauf und zu den erworbenen Kompetenzen des Patienten für den Umgang mit der chronischen Erkrankung beendet. Für Jugendliche und junge Erwachsene mit Behinderung, die bisher in einem sozialpädiatrischen Zentrum behandelt wurden, ist eine Weiterbetreuung in einem MZEB sinnvoll und anzustreben.
Gerd Kurlemann
66. Frauen im gebärfähigen Alter
Zusammenfassung
Frauen im reproduktiven Alter, die an einer Epilepsie erkrankt sind und regelmäßig Antiepileptika einnehmen, sind mit Fragen der Sicherheit der Kontrazeption und möglicher Risiken durch Anfälle und Antiepileptika während der Schwangerschaft konfrontiert. Hormonelle systemisch wirksame Kontrazeptiva sind insbesondere bei Einnahme von enzyminduzierenden Antiepileptika nicht ausreichend sicher. Hormonelle Intrauterinsysteme oder hormonfreie Barrieremethoden sind mögliche Alternativen. Systemische hormonelle Kontrazeptiva können den Abbau von Antiepileptika, wie Lamotrigin, beschleunigen und das Anfallsrisiko erhöhen. Fast alle Schwangerschaften bei Frauen mit Epilepsie verlaufen komplikationslos, einige Antiepileptika, vor allem Valproat, bergen aber ein hohes teratogenes Risiko. Manche Antiepileptika werden in der Schwangerschaft rascher verstoffwechselt, sodass deren Dosis angepasst werden muss. Stillen stellt in der Regel kein Risiko dar.
Verena Gaus, Alexander B. Kowski
67. Ältere Patienten
Zusammenfassung
Altersepilepsien manifestieren sich definitionsgemäß ab dem 65. Lebensjahr, diese sind von alternden Epilepsien abzugrenzen, die sich in früheren Lebensjahren manifestiert haben und bis ins höhere Alter persistieren. Für Deutschland wird nach den Schätzungen des Bundesamts für Statistik im Jahr 2030 erwartet, dass etwa 30 % der Bevölkerung 65 Jahre oder älter ist. Die Kenntnis der besonderen klinischen, diagnostischen und therapeutischen Gesichtspunkte der Altersepilepsien ist daher besonders wichtig.
Hermann Stefan, Hajo Hamer
68. Patienten mit geistiger Behinderung
Zusammenfassung
Die Häufigkeit von Epilepsien ist bei Patienten mit geistiger Behinderung im Vergleich zur Prävalenz der Erkrankung in der Bevölkerung deutlich erhöht. Oft sind die Ursachen für die Epilepsie und die geistige Behinderung identisch. Hier kommen Genmutationen, metabolische Erkrankungen oder erworbene Schädigungen wie die Zerebralparese infrage, wobei ein großer Teil ätiologisch ungeklärt bleibt. Die Kenntnis der Ursache kann eine syndromorientierte Therapie und prognostische Aussagen ermöglichen. Obwohl bei vielen Betroffenen eine therapieschwierige Epilepsie vorliegt, kann bei einem hohen Anteil eine gute Anfallskontrolle durch Antiepileptika, seltener auch durch Epilepsiechirurgie, erreicht werden. Ein wesentlicher Aspekt der Therapie sollte bei dieser Patientenklientel mit erschwerter Kommunikation die Verträglichkeit sein, da Nebenwirkungen oder Überdosierungen leicht übersehen werden können.
Frank Kerling, Christophe Rauch

Psychosoziale Aspekte

Frontmatter
69. Genussmittel
Zusammenfassung
Viele Patienten und Angehörige fragen den Arzt, ob der Konsum von Genussmitteln ein Risiko für das vermehrte Auftreten von Anfällen darstellt. Mitunter erhalten Patienten mit neu diagnostizierter Epilepsie von dem aufklärenden Arzt das Verbot, Alkohol zu konsumieren. Die wenigen Studiendaten, oft in niedriger Qualität, weisen jedoch darauf hin, dass der sozial übliche Konsum von Alkohol, Koffein, Nikotin und Tetrahydrocannabinol bei Menschen mit Epilepsie keine prokonvulsiven Effekte haben. Nach Konsum großer Mengen Alkohol können jedoch Anfallsrezidive auftreten – insbesondere bei genetischen generalisierten Epilepsien. Das Pharmakon Cannabidiol hat einen antiepileptischen Effekt und wird bei bestimmten pharmakoresistenten Epilepsiesyndromen eingesetzt. Amphetamine und Kokain sind prokonvulsiv und sollten allein schon aus diesem Grund insbesondere von Patienten mit Epilepsie gemieden werden.
Michael Hamerle, Martin Holtkamp
70. Kraftfahreignung
Zusammenfassung
Der Führerschein bzw. die Kraftfahreignung ist für viele Menschen, insbesondere jenseits der urbanen Ballungsräume, eine wichtige Voraussetzung für ein unabhängiges Leben. Bestimmte Erkrankungen bedingen eine temporäre oder dauerhafte Aufhebung der Kraftfahreignung. Verkehrsteilnehmer, die sich über eine krankheitsbedingte Aufhebung hinwegsetzen, können dafür mit erheblichen Konsequenzen juristisch belangt werden; dies gilt insbesondere, wenn andere Personen dabei zu Schaden kommen. Die Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung der Bundesanstalt für Straßenwesen sind eine Zusammenstellung eignungsausschließender oder eignungseinschränkender körperlicher und/oder geistiger Mängel und sollen die Begutachtung der Fahreignung im Einzelfall erleichtern. Diese Leitlinie beinhaltet detaillierte Bestimmungen zur Kraftfahreignung nach epileptischen Anfällen und bei Epilepsien in Deutschland. Abweichende Bestimmungen für Österreich und die Schweiz werden erörtert.
Günter Krämer
71. Rechtliche Aspekte
Zusammenfassung
Die rechtlichen Aspekte bei Epilepsie umfassen insbesondere die Regelungen zur Anerkennung einer Schwerbehinderung (Sozialgesetzbuch, SGB IX) des im Jahr 2018 überarbeiteten Schwerbehindertengesetzes. Falls es infolge langer oder häufiger Zeiten von Arbeitsunfähigkeit zu Einkommenseinbußen kommt, sind Regelungen im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung durch Lohnfortzahlung bzw. Krankengeld abgebildet (SGB V). Besondere Regelungen und Voraussetzungen bestehen für Ansprüche von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung (SGB VII). Bei Versicherungen der Privatwirtschaft (private Unfallversicherung, Berufsunfähigkeitsversicherung etc.) sollten Patienten mit Epilepsie besonderes Augenmerk auf mögliche Einschränkungen oder Ausschlusskriterien im Leistungskatalog der Police werfen. Für Beamte finden sich umfassende Regelungen im Bundesbeamtengesetz, die zum Teil von der sonst üblichen Sozialgesetzgebung abweichen.
Tobias Knieß
72. Rehabilitation
Zusammenfassung
Die Rehabilitation von chronisch bzw. akut schwer erkrankten oder behinderten Menschen mit dem Ziel der umfassenden Reintegration in das gesellschaftliche Leben stellt eine seit Jahrhunderten gebräuchliche therapeutisch-medizinische Maßnahme dar. In Deutschland sind neben den gesetzlichen Rentenversicherungen verschiedene Kostenträger für Rehabilitationsleistungen zuständig. Bei an Epilepsie erkrankten Menschen stellen Rehabilitationsmaßnahmen vor dem Hintergrund der Komplexität der Erkrankung und möglicher Begleitstörungen mit hoher sozialmedizinischer Bedeutung eine besondere Herausforderung dar. Bei Neuerkrankung, aber auch bei chronisch Erkrankten im erwerbsfähigen Alter sind der Erhalt des Arbeitsplatzes bzw. die Reintegration in das Erwerbsleben vordergründige Ziele rehabilitativer Maßnahmen. Durch etablierte Programme, wie die stufenweise Wiedereingliederung oder Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, stehen weitreichende Maßnahmen zur Verfügung.
Tobias Knieß
73. Berufstätigkeit
Zusammenfassung
Im Berufsleben existieren etwa 40.000 unterschiedliche Tätigkeiten. Die arbeitsmedizinische Schwere einer Epilepsie muss bei jedem Patienten individuell ermittelt werden, da sich sowohl die Ausgestaltung der Arbeitsplätze als auch die Epilepsien hinsichtlich ihrer Verläufe und Anfallsfrequenz unterscheiden. Bei detaillierter Betrachtung kann ein Arbeitsplatz auch bei pharmakoresistenter Epilepsie erhalten werden, wenn die Mehrzahl der dort notwendigen Tätigkeiten – z. B. durch gezielte Arbeitsschutzmaßnahmen – ohne erhöhte Gefährdungen ausgeführt werden können. Eine individuelle, sachgerechte Beurteilung sollte daher immer interdisziplinär unter Beteiligung eines epileptologisch versierten Neurologen, eines Arbeitsmediziners und einer Fachkraft für Arbeitssicherheit erfolgen. Wenn die direkte Verständigung zwischen den beteiligten Fachdisziplinen nicht gelingt, sollten Beurteilungen über die konkreten Einsatzmöglichkeiten am Arbeitsplatz mit gebotener Zurückhaltung formuliert werden.
Peter Brodisch
74. Selbsthilfe
Zusammenfassung
Epilepsieselbsthilfegruppen und -verbände sind in Deutschland in den 1970er-Jahren aus einem emanzipatorischen Ansatz und der Kritik an einem auf akute Erkrankungen fokussierten Gesundheitssystem sowie an einem hierarchischen Arzt-Patienten-Verhältnis heraus entstanden. Es wird zwischen gesundheitsbezogenen Selbsthilfegruppen, gesundheitsbezogenen Selbsthilfeorganisationen und Kontakt- und Informationsstellen für Selbsthilfegruppen unterschieden. Selbsthilfegruppen sind stark auf die lokale und regionale Ebene ausgerichtet. Zusammenschlüsse auf Landes- und Bundesebene haben das Ziel, politische Interessen schlagkräftiger zu vertreten. Auf der inhaltlichen Ebene sollen Selbsthilfegruppen ermöglichen, im angstfreien Raum über gesundheitsbezogene Themen zu sprechen und von den Erfahrungen anderer im positiven Sinn zu lernen. Neben der Krankheitsbewältigung besteht die Aufgabe in Unterstützung, Wissensvermittlung, Erleichterung sozialer Kontakte und Öffentlichkeitsarbeit.
Norbert van Kampen

Langzeit-Prognose

Frontmatter
75. Langzeitprognose von Anfällen und Epilepsien
Zusammenfassung
Ein akut symptomatischer Anfall ist in der Regel mit einem geringen langfristigen Rezidivrisiko assoziiert, eine über die akute Phase hinausgehende antiepileptische Therapie ist daher meist nicht indiziert. Mehr als die Hälfte der Patienten mit einer sicheren Epilepsie ist nach zehn und mehr Jahren in den letzten zwei bis fünf Jahren anfallsfrei, teilweise auch ohne antiepileptische Medikation. Bei Patienten mit Nachweis einer ursächlichen Läsion ist die langfristige Anfallsprognose schlechter. Bei den genetischen generalisierten Epilepsien nimmt das Ausmaß der Anfallsbereitschaft mit zunehmendem Lebensalter ab. Diese Daten bilden die Basis für eine adäquate Aufklärung der Patienten über die Langzeitprognose nach einem ersten epileptischen Anfall oder zu Beginn der Erkrankung Epilepsie.
Martin Holtkamp, Felix Benninger
76. Mortalität
Zusammenfassung
Populationsbezogene Studien in Ländern mit hohem Einkommen berichten bei Menschen mit Epilepsie von einer 1,6- bis 3,0-fach erhöhten Wahrscheinlichkeit eines frühzeitigen Todes im Vergleich zur Normalbevölkerung. Diese erhöhte Sterblichkeit ist von mehreren Faktoren abhängig: im Vordergrund steht die der Epilepsie zugrunde liegende Ursache, wie etwa Hirntumoren, wohingegen Epilepsien ohne identifizierbare Ursache nur ein gering erhöhtes Risiko zeigen. Weitere Einflussfaktoren einer erhöhten Sterblichkeit sind bilaterale tonisch-klonische Anfälle und Pharmakoresistenz. Dies spiegelt sich wiederum in einer bis zu zehn Jahren verringerten Lebenserwartung bei Epilepsien mit bekannter Ätiologie und bis zu zwei Jahren bei Epilepsien unbekannter Ätiologie wider. Die Rate an „sudden unexpected death in epilepsy“ beträgt 1,4 pro 1000 Personenjahre; Risikofaktoren sind häufige bilaterale tonisch-klonische Anfälle, männliches Geschlecht, Epilepsiebeginn vor dem 16. Lebensjahr, Epilepsiedauer über 15 Jahre und Polypharmakotherapie.
Claudia Granbichler
77. Langezeitprognose pharmakologischer Therapien
Zusammenfassung
Die Langzeitprognose der pharmakologischen Therapie der Epilepsien umfasst die Frage nach der Wirkung und nach Nebenwirkungen im langfristigen Verlauf. Langzeitstudien zur Wirksamkeit sind methodisch schwierig durchzuführen und daher selten. Zumindest unter den Antiepileptika früherer Generationen scheinen Lamotrigin (fokale Epilepsie) und Valproinsäure (genetische generalisierte Epilepsie) den anderen Substanzen überlegen. Da patientenspezifische Besonderheiten, wie die von Frauen im gebärfähigen Alter oder von älteren Patienten, in großen Kohortenstudien nicht berücksichtigt werden, haben solche Daten im klinischen Alltag allerdings nur eingeschränkte Aussagekraft. Insgesamt scheinen jedoch Antiepileptika der neueren Generation in der langfristigen Wirksamkeit in etwa gleichwertig mit älteren Substanzen zu sein. Somatische Langzeitnebenwirkungen treten vor allem bei enzyminduzierenden Antiepileptika auf. Für Topiramat, Phenobarbital, Zonisamid und Valproat sind negative kognitive Langzeiteffekte beschrieben; längere Nachbeobachtungszeiträume fehlen allerdings.
Kerstin A. Klotz, Friedhelm C. Schmitt
78. Langzeitprognose epilepsiechirurgischer Verfahren
Zusammenfassung
Für die Beratung zur Anfallsfreiheit und zu den zu erwartenden Defiziten nach einem epilepsiechirurgischen Eingriff sind belastbare Daten zur Langzeitprognose wichtig. Nach einem resektiven Verfahren werden – abhängig vom Resektionsort – 20–80 % der Patienten dauerhaft anfallsfrei. Die mesialen Temporallappenepilepsien haben mit etwa 50 % Anfallsfreiheit in den ersten zehn postoperativen Jahren die beste Prognose. Eine korrekte präoperative Beschreibung der epileptogenen Zone, also des notwendigerweise zu resezierenden Areals, ist also auch bei diesem gut untersuchten elektroklinischen Syndrom nur in der Hälfte der Fälle möglich. Postoperative Gedächtnisstörungen können auftreten; je höher das präoperative Leistungsniveau, desto größer ist die Gefahr für ein alltagsrelevantes Defizit. Für die neuromodulativen Verfahren gibt es im Langzeitverlauf möglicherweise eine Zunahme der antiepileptischen Wirkung. Während für die diskonnektiven Verfahren eine gute Datenlage vorliegt, ist diese bei den ablativen und radiochirurgischen Verfahren allenfalls moderat.
Katharina Ernst, Friedhelm C. Schmitt
Backmatter
Metadaten
Titel
Epileptische Anfälle und Epilepsien im Erwachsenenalter
herausgegeben von
Dr. F.C. Schmitt
Prof. Dr. Hermann Stefan
Prof. Dr. Martin Holtkamp
Copyright-Jahr
2020
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Electronic ISBN
978-3-662-59198-7
Print ISBN
978-3-662-59197-0
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-662-59198-7

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