Myopathien
und myasthene Syndrome gehören zu den seltenen Erkrankungen (betrifft höchstens eine unter
Prävalenz 1/2000 Personen) und werden durch Veränderungen in der regelrechten Funktion der Muskulatur bzw. des synaptischen Übergangs von Nerv auf Muskulatur hervorgerufen. Sie können genetisch bedingt oder erworben sein. Differenzialdiagnostisch müssen sie von anderen neuromuskulären Erkrankungen wie den Motoneuronerkrankungen
(u. a.
Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), Spinale Muskuläre Atrophie (SMA)) und den Neuropathien (in erster Linie
Polyneuropathien) abgegrenzt werden.
Die Diagnostik der Myopathien umfasst neben der klinischen Untersuchung die Bestimmung von Laborparametern (vor allem der Creatinkinase (CK)), besondere Belastungstests bzw. Tests zur Muskelstoffwechselfunktion, elektrophysiologische und bildgebende Untersuchungen der Muskulatur. Bei Verdacht auf eine genetisch bedingte Muskelerkrankung kommen molekulargenetische Untersuchungen hinzu. Zusätzlich kann die Entnahme und Aufarbeitung einer
Muskelbiopsie in Betracht gezogen werden.
Typische Beschwerden einer Myopathie sind Muskelschwächen (permanente oder fluktuierende/episodische Paresen), vorzeitige Muskelermüdungen (sog. Belastungsintoleranzen), Myalgien, Muskelsteifigkeit und auch Muskelkrämpfe. Der klinische Untersuchungsbefund zeigt in der Regel schlaffe Paresen (die anhand der Skala des Britisch Medical Reseach Concil graduiert werden, reichen von MRC 0 = Plegie stufenweise bis MRC 5 = normale, volle Kraftentwicklung), Muskelatrophien und abgeschwächte bis fehlende Muskeleigenreflexe.
Die Therapie der Myopathien ist in der Regel symptomorientiert ausgerichtet. Spezifische Therapien existieren bisher nur für wenige
Muskelerkrankungen (für immunvermittelte Myositiden, für die Pompe-Erkrankung als eine erbliche Glykogenabbaustörung, für die X-chromosomal erbliche Duchenne-Muskeldystrophien). Verschiedene Gentherapien für die kausale Behandlung von Muskeldystrophien sind derzeitig in der Erprobungsphase
Erbliche Myopathien
Zu den erblichen Myopathien werden u. a. die Muskeldystrophien, myotonen Dystrophien, Protein-Aggregat-Myopathien und Strukturmyopathien gezählt.
Muskeldystrophien sind hierbei eine klinisch heterogene Gruppe, die durch verschiedene Gen- und Protein-Defekte hervorgerufen werden und die sich im Verteilungsmuster der betroffenen Skelettmuskeln, ihrer Progressionsdynamik und der CK-Werterhöhungen deutlich voneinander unterscheiden können. Sie sind allesamt durch dystrophe Gewebsveränderungen der Skelettmuskulatur gekennzeichnet.
Die
myotonen Dystrophien führen zu Muskelschwächen in Kombination mit einer
Myotonie und werden autosomal-dominant vererbt, häufig finden sich Mitbeteiligungen anderer Organe (u. a. Herz, ZNS, Auge, endokrine Organe).
Protein-Aggregat-Myopathien werden durch verschiedene Gen- und Proteindefekt (u. a. im Desmin-, Filamin C- oder Myotilin-Gen) hervorgerufen, und führen zu namensgebenden intrazellulären Protein-Aggregaten in Muskelzellen.
Zu den erblichen
Strukturmyopathien werden verschiedene Erkrankungen (u. a. Central Core Erkrankung, zentronukleäre Myopathie, myotubuläre Myopathien) gezählt, die meist im Kindesalter auftreten und typische histopathologische Besonderheiten aufweisen (Tab.
1).
Tab. 1
Auswahl der wichtigsten erblichen Myopathien (Muskeldystrophien, Proteinaggregat-Myopathien, Strukturmyopathien, myotone Dystrophien)
Fazioskapulohumerale Muskeldystrophie | AD | Genetik (verkürzter Tandem-Repeat-Abschnitt D4Z4 auf Chromosom 4q35, selten SMYD2-Mutation) |
Okulopharyngeale Muskeldystrophie | AD, AR | Genetik |
Gliedergürtelmuskeldystrophien | LGMD D: AD LGMD R: AR | |
Dystrophinopathien | Becker, X-rez. | zuerst Genetik, bei negativer Genetik Muskelbiopsie (mit Immunhistologie, Western Blot) |
Distale Muskeldystrophien | AD, AR | Muskel-MRT, Genetik, Muskelbiopsie |
Emery-Dreifuss-Muskeldystrophien | AD, X-rez. | zuerst Genetik, ggf. Muskelbiopsie |
Protein-Aggregat-Myopathien (z. B. durch Desmin- oder FilaminC-Defekte) | AD, X-rez. | Muskel-MRT, Genetik, Muskelbiopsie |
Strukturmyopathien (z. B. zentronukleäre Mypathie, myotubuläre Myopathie, Central Core Disease) | AD, AR, X-rez. | Muskel-MRT, Genetik, Muskelbiopsie |
Myotone Dystrophien (Curschmann-Steinert, DM1; PROMM, DM2) | AD | |
Erworbene Myopathien
Zu den häufigsten erworbenen Myopathien gehören die immun-vermittelten Myopathien/Myositiden, toxischen Myopathien und die Critical Illness (Neuro)-Myopathie.
Bei den
nicht-erreger-bedingten Myositiden (
Polymyositis (PM),
Dermatomyositis (DM), Nekrotisierende Myopathie/Myositis (IMNM), Antisynthetase-Syndrom
, sporadische
Einschlusskörpermyositis, Overlap-Myositis) werden die histopathologischen Veränderungen der Skelettmuskulatur durch immunvermittelte Abläufe hervorgerufen. Sie können in jedem Lebensalter auftreten, wobei im Kindesalter fast ausschließlich die Dermatomyositis und eine Einschlusskörpermyositis nur bei Patienten nach dem 50. Lebensjahr vorkommen. Die Diagnostik erfordert klinisch-elektromyografische Untersuchungen, die Bestimmung von Myositis-spezifischen und -assoziierten
Antikörpern, eine Muskel-MRT-Bildgebung sowie eine differenzierte histologische Aufarbeitung der
Muskelbiopsie. Die Myositiden sprechen meist gut auf eine immunsupprimierende Therapie an, wobei allerdings die sIBM weitgehend therapierefraktär ist.
Eine große Gruppe erworbener Myopathien machen die toxischen Myopathien aus, die durch Medikamente hervorgerufen werden können.
Dazu zählen die
a)
nekrotisierende Myopathie (Cholesterinsenker, Cyclosporin, Labetolol, Proprofol, Alkohol),
Gutachterlich kann im Bereich der gesetzlichen und privaten Unfallversicherung das Krankheitsbild der „
erworbenen Skelettmuskelschwäche bei kritisch Kranken“ („ICU-acquired weakness“, ICUAW
) relevant werden. Hierbei wird die akute Erkrankungsphase kritisch kranker Patienten beeinträchtigt und die anschließende Rehabilitation verzögert. Es können bleibende funktionellen Einschränkungen vorkommen. Die ICUAW manifestiert sich als neu aufgetretene sensomotorische Schwäche bei Intensivpatienten, ohne dass Ursachen bis auf diese Erkrankung vorliegen. Sie wird klinisch und mit Hilfe von neurophysiologischen (
Neurografie,
EMG) bzw. histologischen (Haut-, Nerv- oder
Muskelbiopsie) Untersuchungen diagnostiziert und in drei Untergruppen eingeteilt in a)
Critical-Illness-Polyneuropathie (CIP), b)
Critical-Illness-Myopathie (CIM) und c) Critical-Illness-Polyneuromyopathie (CINM). Pathophysiologisch werden noch ungeklärte Schäden peripherer Nervenfasern (sowohl myelinisierter Nervenfasern (Aß-Fasern) wie auch der Aδ- oder C-Nervenfasern (sog. Small Fiber)) und auch Veränderungen der Muskulatur (z. B. Atrophie der Typ2-Fasern) angenommen.
Das
Post-Covid-19-Syndrom (Post-Covid-19-Condition, PCC) geht häufig mit Muskelbeschwerden und -einschränkungen einher. Es wird definiert als persistierende Symptomatik nach durchgemachter Covid-19-Infektion, die innerhalb von 3 Monaten nach Beginn der Covid-19-Infektion aufgetreten ist, für mindestens 2 Monate andauert und für die keine andere Diagnose ausgemacht werden kann. Während einer Covid-19-Infektion können sehr selten eine Myositis oder Rhabdomyolyse vorkommen mit begleitender deutlicher CK-Erhöhung, ödematösen Veränderungen im Muskel-MRT und perivaskulären Entzündungszeichen in der
Muskelbiopsie. Dagegen sind bei einer PCC Muskel-Symptome vergleichsweise häufig und können in ca. 25 % der Fälle mit persistierenden Myalgien bzw. anhaltenden muskulären Belastungsintoleranzen mit vorzeitiger muskulärer Erschöpfung vorkommen. In den allermeisten PCC-Fällen sind jedoch der klinische Befund und sämtliche zusatzdiagnostischen Verfahren (CK, Neurophysiologie, MRT, Histologie) unauffällig. Man nimmt daher an, dass in der Akutphase einer Covid-19-Infektion entzündliche Kaskaden im Muskelgewebe ablaufen, jedoch bei einer PCC nicht-organische Dekonditionierungsabläufe eine entscheidende Rolle spielen. Zur gutachterlichen Beurteilung wird auf das entsprechende Buchkapitel verwiesen.
Myasthene Syndrome betreffen die synaptische Übertragung von Nervenimpulsen auf die quer gestreifte Muskulatur. Die primäre Störung kann präsynaptisch (wie bei der Lambert-Eaton-Erkrankung oder
Botulismus) oder postsynaptisch (wie bei autoimmunogener
Myasthenia gravis oder
kongenitalen myasthenen Syndromen) lokalisiert sein. Betroffen sind die Augen-, Extremitäten-, Rumpf-, Schluck- und Augenmuskulatur. Die Myasthenia gravis wird auto-immunogen verursacht und geht typischerweise mit entsprechenden AK (AChR-, MuSK-, LRP4-AK) im
Serum einher. Der Thymus spielt eine entscheidende Rolle in der Initiierung dieser Immunabläufe. Diagnostsich kommen neurophysiologische Verfahren (u. a. 3 Hz-Serienreizung von Nerv-/Muskelpaaren), eine Thymus-Bildgebung und pharmakologische Tests zum Einsatz. Die Therapie ist symptomatisch und immunsuppressiv ausgerichtet, ggf. wird die Thymektomie eingesetzt.
Myasthene Krisen können den Verlauf einer Myasthenia gravis komplizieren und machen intensivmedizinische Maßnahmen notwendig. Zur Behandlung der myasthenen Krise werden IVIG, Plasmapherese/
Immunadsorption oder eine Steroidpulstherapie eingesetzt.
Fallvignette vorübergehende Verschlechterung einer Myasthenia gravis unter COVID-19-Infektion
Gutachterliche Bewertung: Die vorbestehende generalisierte
Myasthenia gravis wurde durch die im beruflichen Kontext erworbene COVID-19-Infektion verschlechtert. Es kam darunter zu einer vorübergehenden Verschlechterung mit einer intensivpflichtigen myasthenen Krise, die unter adäquater Therapie zur klinischen Remission führte. Bei Anerkennung der COVID-19-Infektion als Berufskrankheit ist gutachterlich eine vorübergehende Verschlimmerung eines vorbestehenden Leidens anzunehmen.
Gutachterliche Bewertung
Relevant sind die Myopathien/myasthenen Syndrome vor allem im Zusammenhang mit Begutachtungen im Schwerbehindertenrecht sowie im Bereich der gesetzlichen und privaten Rentenversicherung bzw. Berufsunfähigkeitsversicherung. Hierbei findet eine finale Begutachtung mit Beurteilung der funktionellen Einschränkungen ohne Berücksichtigung der Kausalität statt.
Durch unfall- oder berufsbezogene Faktoren können wesentliche Voraussetzungen für eine vorübergehende oder richtungsweisende Verschlimmerung einer vorbestehenden Myopathie/myasthenen Erkrankung gegeben sein.
Darüber hinaus sind Myopathien/myasthene Syndrome nur in begründeten Einzelfällen mit einem Unfall oder Beruf in einen kausalen Zusammenhang zu stellen. Bspw. können Myopathien/myasthene Syndrome durch unfallbedingte Intensivbehandlungen mit einer Critical Illness (Neuro)-Myopathie oder eine toxischen Myopathie bei unfallbedingten medikamentösen Therapiemaßnahmen (z. B. Steroide,
Antibiotika) ausgelöst werden. Diese Begutachtungen sind jedoch eher von untergeordneter Bedeutung.
GdS, MdE bzw. GdB sind in Abhängigkeit vom Schweregrad der funktionellen Einbußen einzustufen.
Durch ständige Nutzung von Hilfsmitteln (Gehstützen, Rollstuhl u. a.) kann ein vermehrter Kleiderverschleiß geltend gemacht werden.
Die muskulären Kraftgrade werden bei der Untersuchung wie folgt nach Janda eingeschätzt:
0 | Keine Kontraktion spürbar |
1 | Kontraktion sicht- oder spürbar, aber keine Gelenkbewegung auslösbar |
2 | Bewegung unter Aufhebung Schwerkraft möglich |
3 | Position kann gegen Schwerkraft gehalten werden |
4 | Bewegung gegen leichten Widerstand möglich |
5 | Bewegung auch gegen max Widerstand möglich |
Der Gutachter soll beurteilen, inwiefern motorische Restfunktionen funktionell einsetzbar sind. Sind diese nutzlos, entspricht dies gutachterlich einer kompletten Lähmung. Eine spinale Spastik kann unter Umständen auch funktionellen Nutzen haben: die Streckspastik der Beine eines Paraplegikers kann z. B. den Transfer über den Stand erleichtern.
Umgekhert kann eine gute Handfunktion bei einer Person mit Tetraplegie trotz guter Kraftgrade durch Hypästhesie und Propriozeptionsstörung erheblich eingeschränkt sein.