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Pädiatrie
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Publiziert am: 08.05.2019

Therapie genetisch bedingter Krankheiten

Verfasst von: Johannes Zschocke
Genetische Krankheiten sind in ihrer Manifestation oft variabel und können durch andere genetische und nichtgenetische Faktoren beeinflusst werden. Dies ist auch die Grundlage der Therapie. Abhängig von der Krankheit bzw. der krankheitsauslösenden Mutation stehen kausale Behandlungsoptionen auf drei Ebenen zur Verfügung: 1. Therapieansätze auf der Ebene der Zell- und Organfunktion sollen die funktionelle Homöostase eines Organs oder des Organismus wiederherstellen; 2. Therapieansätze auf Proteinebene sollen ein fehlendes Genprodukt (z. B. ein Enzym) ersetzen oder ein fehlerhaftes Protein korrigieren bzw. in der Funktion unterstützen; 3. Therapieansätze auf der Ebene der genetischen Information sollen die fehlerhafte genetische Information korrigieren oder fehlende genetische Information ersetzen. In den letzten Jahren sind für zahlreiche genetische Krankheiten effiziente Therapien entwickelt worden, welche beispielhaft vorgestellt und erläutert werden.

Therapieoptionen – Grundlagen

Nahezu alle Krankheiten bzw. Krankheitskomplikationen im Kindesalter werden durch genetische Faktoren beeinflusst. Durch die rasche Entwicklung genetischer Analyseverfahren ist es möglich geworden, genetische Varianten als Grundlagen von Krankheit und Individualität zu identifizieren und zu testen. Dabei werden monogene von multifaktoriellen Krankheiten unterschieden:
  • Monogene Krankheiten werden primär durch krankheitsrelevante Veränderungen (Mutationen) in einem einzelnen Gen verursacht.
  • Multifaktorielle Krankheiten entstehen durch die Einwirkung verschiedener genetischer und nichtgenetische Faktoren.
Eine genetische Kausalität ist allerdings nicht immer leicht zu beweisen, denn viele monogene Krankheiten werden in ihrer klinischen Manifestation von anderen genetischen und nichtgenetischen Faktoren modifiziert. Diese Beeinflussbarkeit ist auch die Grundlage für therapeutische Interventionen. Abhängig von der Krankheit bzw. der krankheitsauslösenden Mutation stehen kausale Behandlungsoptionen auf drei Ebenen zur Verfügung:
1.
Therapieansätze auf der Ebene der Zell- und Organfunktion sollen die funktionelle Homöostase eines Organs oder des Organismus wiederherstellen.
 
2.
Therapieansätze auf Proteinebene sollen ein fehlendes Genprodukt (z. B. ein Enzym) ersetzen oder ein fehlerhaftes Protein korrigieren bzw. in der Funktion unterstützen.
 
3.
Therapieansätze auf der Ebene der genetischen Information sollen die fehlerhafte genetische Information korrigieren oder fehlende genetische Information ersetzen.
 
Diese kausalen Therapieansätze werden ergänzt durch symptomatische Maßnahmen auf der Ebene des klinischen Phänotyps, mit denen bereits entstandene Krankheitsmerkmale oder Komplikationen korrigiert bzw. vermieden werden. Für die allgemeine symptomatische Therapie genetischer Krankheiten wird auf die verschiedenen Einzelkapitel verwiesen.
In den letzten Jahren sind für zahlreiche genetische Krankheiten effiziente Therapien entwickelt worden, welche allerdings oft mit Therapiekosten von vielen 100.000 € pro Patient und Jahr einhergehen und dadurch das öffentliche Gesundheitssystem vor langfristig noch ungelöste Herausforderungen stellen.

Kausale Therapiestrategien auf Ebene der Zell- und Organfunktion

Eingriff in Stoffwechselwege

Die diätetische Modifikation von Stoffwechselwegen ist die Grundlage der Therapie bei zahlreichen angeborenen Stoffwechselkrankheiten. Entwickelt wurde sie erstmals für die Phenylketonurie (PKU, Kap. „Aminoazidopathien“), die häufigste genetische Störung des Aminosäurenstoffwechsels in Europa. Der autosomal-rezessiv erbliche Funktionsverlust des Enzyms Phenylalaninhydroxylase aufgrund von Mutationen im PAH-Gen führt dazu, dass die Aminosäure Phenylalanin (Phe) nicht mehr in Tyrosin (Tyr) umgewandelt werden kann. Die dadurch stark erhöhte Konzentration von Phe bei gleichzeitigem Mangel von Tyr bzw. davon abgeleiteten Molekülen (Neurotransmitter, Melanin u. a.) verursacht nach der Geburt eine progrediente Entwicklungsstörung, neurologische Auffälligkeiten und in der Folge eine schwere geistige Behinderung. Phe ist eine essenzielle Aminosäure, die aus dem Abbau von exogenem oder körpereigenem Protein entsteht. Zur Therapie wurde vom deutschen Kinderarzt Horst Bickel in Manchester eine stark eiweißreduzierte Diät mit Substitution von Tyrosin und den anderen Aminosäuren außer Phe entwickelt. Dadurch lassen sich die Phe-Werte im Körper an den Normbereich heranführen sowie der Mangel des Enzymproduktes bzw. der diätetische Eiweißmangel ausgleichen. Ein Beginn der diätetischen Therapie im Neugeborenenalter erlaubt eine völlig normale Entwicklung mit normaler Intelligenz und normalem Schul- und Berufserfolg ohne wesentliche neurologische Symptome. Das Konzept einer Restriktion von Substraten, welche bei einem monogen erblichen Enzymdefekt anstauen, bzw. der Substitution von mangelnden Produkten einer beeinträchtigten Enzymreaktion, wird bei zahlreichen angeborenen Stoffwechselkrankheiten angewendet.
Im Gegensatz zur PKU, bei der die chronische Hirnschädigung klinisch im Vordergrund steht, führen andere angeborene Stoffwechselkrankheiten zu akuten Symptomen im Sinne einer Stoffwechselentgleisung. Dies kann durch den Mangel an biochemischen Energieträgern, z. B. bei den Fettsäurenoxidationsstörungen als Ursachen von Fastenhypoglykämien (Kap. „Fettsäurenoxidationsstörungen“) , oder primär durch den Anstau toxischer Metabolite verursacht sein, z. B. bei den Harnstoffzyklusdefekten oder den Organoazidopathien (Kap. „Harnstoffzyklusstörungen“ und Kap. „Organoazidurien“). Typische Auslöser sind katabole Stoffwechsellagen, bei denen die exogene Versorgung mit Energieträgern beeinträchtigt ist, was zur Mobilisierung von Lipiden aus dem Fettgewebe sowie zum Abbau körpereigenen Proteins führt. Das zentrale Element der Notfallbehandlung ist die Umkehr der katabolen Stoffwechsellage durch Glukoseinfusion sowie die Vermeidung von im Abbau beeinträchtigten Substanzen. Darüber hinaus kann in der akuten Situation eine apparative Entgiftung, z. B. durch Hämodialyse notwendig sein. Die Langzeittherapie besteht auch hier aus diätetischen Maßnahmen. Bei manchen Krankheitsbildern ist auch eine medikamentöse Entgiftung von sich anstauenden Substanzen möglich. Ein Beispiel dafür ist die Gabe von Natriumphenylbutyrat bei den Hyperammonämien. Die Substanz wird im Körper zu Phenylazetat umgewandelt, welches in der Leber an die Aminosäure Glutamin gekoppelt werden kann. Dadurch entsteht das gut wasserlösliche Phenylacetylglutamin, welches mit dem Urin ausgeschieden wird und dadurch die Stickstoffbelastung des Körpers reduziert. Den gleichen Wirkmechanismus hat Natriumbenzoat, welches durch Bindung an Glyzin zu Hippursäure umgewandelt und ebenfalls mit dem Harn ausgeschieden wird.
Auch beim Glukose-6-phosphat-Dehydrogenase-Mangel (Favismus, Kap. „Anämien bei Kindern und Jugendlichen“) ist das Vermeiden von schädlichen Substanzen das wichtigste Behandlungsziel. Der Enzymdefekt führt in den Erythrozyten über die verminderte Umwandlung von NADP in NADPH zu einer reduzierten Bereitstellung von antioxidativ wirksamem Glutathion und bei Aufnahme von dicken Bohnen (Fava-Bohnen) oder anderen Substanzen mit oxidativer Wirkung zu einer akuten Hämolyse.
Ein anderer therapeutischer Ansatz wurde für die Tyrosinämie Typ I (Kap. „Aminoazidopathien“) entwickelt. Diese Stoffwechselstörung beruht auf dem Mangel der Fumarylacetoacetase, dem letzten Enzym im zytosolischen Abbau von Phenylalanin und Tyrosin. Durch die fehlende Enzymfunktion akkumulieren die hoch toxischen Substanzen Succinylaceton, Succinylacetoacetat und Maleylacetoacetat. Unbehandelt kommt es unter anderem zu einer schweren Leber- und Nierenschädigung mit einem hohen Risiko für das Auftreten eines hepatozellulären Karzinoms sowie zu neurologischen Ausfällen. Therapeutisch wird das ursprünglich als Herbizid entwickelte Medikament Nitisinon (NTBC) gegeben, welches effizient das im Stoffwechselweg weiter oberhalb liegende Enzym 4-Hydroxyphenylpyruvat-Dioxygenase hemmt, das zweite Enzym im Abbau von Tyrosin (defizient bei der Tyrosinämie Typ III). Der Anstau der oben genannten toxischen Metabolite wird durch Nitisinon effizient verhindert, allerdings muss zusätzlich eine Phenylalanin- und Tyrosin-reduzierte Diät eingehalten werden, um Komplikationen der stark erhöhten Tyrosinkonzentration im Körper zu vermeiden

Eingriff in zelluläre Signalwege

Zahlreiche monogene Krankheiten werden durch Störungen von zellulären Signalkaskaden verursacht, welche sich pharmakologisch beeinflussen lassen.
Ein Beispiel ist das Marfan-Syndrom (Kap. „Hereditäre Bindegewebskrankheiten bei Kindern und Jugendlichen“), welches durch heterozygote Funktionsverlust-Mutationen des für das Matrixprotein Fibrillin kodierenden Gens FBN1 verursacht wird. Fibrillin hat nicht nur wichtige strukturelle Funktionen in elastischen Fasern und Ligamenten des extrazellulären Bindegewebes, sondern über die Bindung diverser Wachstumsfaktoren auch eine Rolle in der Steuerung der Zellproliferation und anderer zellulärer Prozesse. Von zentraler Bedeutung ist hierbei der transformierende Wachstumsfaktor beta (Transforming Growth Factor, TGFβ), welcher in seiner Vorläufer-Form (latentes TGFβ) über spezielle Bindungsproteine (LTBPs) an Fibrillin gebunden ist. Eine Verminderung bzw. strukturelle Veränderung von Fibrillin führt über nicht vollständig geklärte Mechanismen auch zu einer Aktivierung des TGFβ-Signalwegs, was als Mitursache für manche Symptome des Marfan-Syndroms angesehen wird, wie Aortenwurzelerweiterung oder Mitralklappenprolaps.
Progrediente Gefäßveränderungen mit einem hohen Risiko für eine (oft frühe) Aortendissektion sowie manche Marfan-ähnliche körperliche Auffälligkeiten finden sich auch beim Loeys-Dietz-Syndrom (Kap. „Hereditäre Bindegewebskrankheiten bei Kindern und Jugendlichen“), welches durch heterozygote Mutationen in den Genen der beiden TGFβ-Rezeptoren TGFBR2 und TGFBR1 verursacht wird. Paradoxerweise kommt es auch hier zu einer Aktivierung des TGFβ-Signalwegs. Beide Krankheitsbilder führen auch zu einer Aktivierung der durch den AT1-Rezeptor (AT1R für das Hormon Angiotensin II) vermittelten Signalkaskade, welche mit dem TGFβ-Signalweg interagiert. Ein kausaler Therapieansatz beim Marfan-Syndrom und anderen Störungen des TGFβ-Signalwegs ist die Gabe des AT1R-Blockers Losartan, welcher in die TGFβ- und AT1R-vermittelten Signalkaskaden eingreift und die Progression einer Aortendilatation reduzieren oder verhindern kann.
Ebenfalls durch pharmakologischen Eingriff in einen zellulären Signalweg behandelt werden Tumoren bei der tuberösen Sklerose (Kap. „Genodermatosen bei Kindern und Jugendlichen“). Die Krankheit wird autosomal-dominant durch Mutationen der Gene TSC1 und TSC2 vererbt, die Hamartin und Tuberin kodieren. Diese Proteine bilden einen Komplex zur Kontrolle von mTOR (mammalian target of rapamycin). mTOR hat eine zentrale Bedeutung für Zellwachstum und -proliferation, unter anderem über den vaskuloendothelialen Wachstumsfaktor VEGF. Rapamycin (Sirolimus) und seine Analoge (z. B. Everolimus) hemmen mTOR, unterdrücken die von ihm kontrollierte Signalkette und können das Wachstum der die tuberöse Sklerose charakterisierenden Tumoren blockieren. Nach Absetzen des Medikaments kommt das Tumorwachstum allerdings wieder zurück.
Ein weiteres Beispiel für die therapeutische Modifikation von Signalwegen wird aktuell für die Achondroplasie (Kap. „Osteochondrodysplasien“) evaluiert. Ursache dieser Skelettdysplasie ist eine spezifische Missense-Mutation des Rezeptors für Fibroblasten-Wachstumsfaktor Rezeptor 3 (FGFR3), welche zu einer konstitutiven Aktivierung auch ohne Bindung von FGFs an den Rezeptor führt. Die daraus resultierende Aktivierung der STAT- und MAPK-Signalwege hemmt die Proliferation und Differenzierung von Chondrozyten. CNP, das natriuretische Peptid C, wirkt gegenregulatorisch und senkt durch Inhibition des MAPK-Signalwegs dessen hemmende Wirkung auf Knorpelzellen. Ein modifiziertes CNP-Präparat zur Wachstumssteigerung bei Achondroplasie befindet sich in klinischer Erprobung.

Kausale Therapiestrategien auf Proteinebene

Protein- bzw. Pepitdsubstitution

Die exogene Zufuhr eines Proteins bzw. Peptids, welches aufgrund einer monogenen Krankheit vom Körper nicht selbst hergestellt werden kann, ist eine a priori einleuchtende Behandlungsstrategie. Allerdings ist in der Regel eine parenterale, oft intravenöse Zufuhr notwendig, und es besteht grundsätzlich das Risiko einer Immunreaktion, wenn ein Protein als nicht körpereigen erkannt wird. Mit dem Auftreten von Antikörpern ist insbesondere dann zu rechnen, wenn aufgrund von Nullmutationen mit vollständigem Verlust der Genfunktion das entsprechende Protein vom Körper gar nicht (auch nicht in mutierter Form) hergestellt wird. Krankheitsspezifisch besteht die zentrale Herausforderung darin, das fehlende Protein dorthin zu bekommen, wo es benötigt wird. Vergleichsweise einfach ist dies bei Proteinen bzw. Peptiden, welche zellulär freigesetzt eine systemische Wirkung haben, wie beispielsweise Insulin bei monogenen Formen des Diabetes mellitus (Kap. „Diabetes mellitus bei Kindern und Jugendlichen“) oder Gerinnungsfaktoren bei Hämophilie (Kap. „Hämorrhagische Diathesen bei Kindern und Jugendlichen“). Für die kausale Therapie des hereditären Angioödems (Kap. „Komplementsystem und Komplementdefekte“) aufgrund eines Mangels des C1-Esterase-Inhibitors im klassischen Komplementsystem (Funktionsverlustmutationen in SERPING1) stehen C1-INH-Präparate aus humanem Blutplasma bzw. rekombinant hergestellt zur Verfügung.

Enzymersatztherapie von erblichen Stoffwechselstörungen

Die Substitution intrazellulär notwendiger Proteine wurde für die Enzymersatztherapie von erblichen Stoffwechselstörungen, speziell lysosomalen Speicherkrankheiten (Kap. „Mukopolysaccharidosen“ und Kap. „Sphingolipidosen“) entwickelt. Rekombinant hergestellte, intravenös applizierte Enzyme werden über rezeptorvermittelte Endozytose zellulär aufgenommen und in die Lysosomen transportiert, wo sie die fehlende Enzymfunktion ersetzen. Dieses zum Teil hoch wirksame Verfahren ist für eine zunehmende Zahl von Krankheiten zugelassen (Tab. 1), allerdings aktuell mit Kosten zwischen 200.000 und 800.000 € pro Patient und Jahr. Die Enzyminfusion muss wöchentlich bis zweiwöchentlich erfolgen und bedarf einer adäquaten Überwachung zur Erkennung und Behandlung von allergischen Reaktionen. Die Ausbildung von Antikörpern kann die Effizienz der Therapie beeinträchtigen, führt jedoch nicht notwendigerweise zum vollständigen Verlust der therapeutischen Wirksamkeit, und der Antikörpertiter kann im Verlauf wieder abnehmen (immunologische Toleranz). Das konzeptionell größte Problem ist der fehlende Transport der infundierten Proteine über die Blut-Liquor-Schranke, sodass eine Enzymersatztherapie für die zerebralen Manifestationen der Krankheiten unwirksam ist. Beim Morbus Hurler (Mukopolysaccharidose I) beispielsweise kann die Enzymersatztherapie Wachstum, Mobilität und Lungenfunktion verbessern, verhindert jedoch nicht den für die Krankheit typischen kognitiven Abbau. Eine intrathekale Applikation des fehlenden Enzyms ist für die Behandlung der neuronalen Zeroidlipofuszinose 2 (NCL2) zugelassen, der Nutzen unter Abwägung mit Aufwand, Komplikationen und Kosten ist jedoch umstritten.
Tab. 1
In Europa zugelassene primäre Enzymersatztherapien für genetische Krankheiten (Stand 2018)
Krankheit
Präparate
Applikation
Pompe
Alglucosidase alfa (Myozyme®)
i.v.
Gaucher
Imiglucerase (Cerezyme®), Velaglucerase alfa (Vpriv®)
i.v.
Fabry
Agalsidase alfa (Replagal®), beta (Fabrazyme®)
i.v.
Hurler/Scheie (MPS I)
Laronidase (Aldurazyme®)
i.v.
Hunter (MPS II)
Idursulfase (Elaprase®)
i.v.
Morquio A (MPS IVA)
Elosulfase alfa (Vimizim®)
i.v.
Maroteaux-Lamy (MPS VI)
Galsulfase (Naglazyme®)
i.v.
Wolman
Sebelipase alfa (Kanuma®)
i.v.
Asfotase alfa (Strensiq®)
s.c.
Zeroidlipofuszinose (NCL2)
Cerliponase alfa (Brineura®)
intrathekal
MPS Mukopolysaccharidose

Pharmakologische Chaperone

Monogene Krankheiten, die auf dem Funktionsverlust eines Proteins beruhen, können durch viele unterschiedliche Mutationen verursacht werden. Oft liegen Missense-Mutationen vor, welche das relevante Gen nicht vollständig zerstören, sondern zur Produktion eines veränderten Proteins mit potenzieller Restfunktion führen. Dies erklärt oft einen attenuierten Phänotyp, d. h. ein vergleichsweise weniger schweres Krankheitsbild. Das Ausmaß der Restfunktion ist dann davon abhängig, ob das mutierte Protein durch Fehlfaltung rasch abgebaut wird, oder ob es stabilisiert und dadurch in der Funktion länger erhalten werden kann. Hierbei spielen Chaperone eine zentrale Rolle, d. h. Substanzen, welche die korrekte Faltung und Assoziation von Proteinen ermöglichen bzw. beschleunigen. Pharmakologische Chaperone sind therapeutisch eingesetzte Moleküle, welche an spezifische ungefaltete Proteine binden, die Faltungsdynamik in die korrekte Richtung verschieben und auch mutierte Proteine stabilisieren können. Zu den wichtigen pharmakologischen Chaperonen gehören Vitamine und Kofaktoren. So kann bei manchen Patienten mit Methylmalonazidurie aufgrund eines Methylmalonyl-CoA-Mutasemangels (Kap. „Organoazidurien“) eine zusätzliche orale Gabe des Kofaktors Cobalamin (Vitamin B12) die biochemischen Befunde und den klinischen Verlauf verbessern. Bei Patienten mit milder Phenylketonurie (PKU, Kap. „Aminoazidopathien“) führt der Kofaktor Tetrahydrobiopterin (BH4) oft zu einer erhöhten Enzymfunktion durch Stabilisierung des mutierten Proteins. Das BH4-Präparat Sapropterin (Kuvan®) ist als medikamentöse Therapie der BH4-responsiven PKU zugelassen (Jahreskosten bei Erwachsenen meist über 100.000 €), ist jedoch entsprechend des Wirkmechanismus bei schweren Formen der PKU aufgrund von homozygoten oder compound-heterozygoten Nullmutationen unwirksam. Gleiches gilt für Migalastat (Galafold®), welches als orales Medikament zur Behandlung des Morbus Fabry (Kap. „Neurodegenerative Erkrankungen der grauen Hirnsubstanz“) bei bestimmten Mutationen zugelassen ist (Jahreskosten 250–300.000 €). Pharmakologische Chaperone können auch in Kombination mit Enzymersatztherapie dazu verwendet werden, das zugefügte Enzym zu stabilisieren und dadurch dessen Blutkonzentration zu steigern.

Aktivierung bzw. Regulation von Membrankanälen

Ein direkter Einfluss auf die Proteinfunktion liegt auch bei Substanzen vor, welche genetisch veränderte Membrankanäle aktivieren bzw. regulieren. Ein klassisches Beispiel ist die pharmakologische Modifikation des KATP-Kanals der pankreatischen β-Zelle. Dieser Kanal hat eine zentrale Funktion in der Regulation der Insulinfreisetzung. Inaktivierende heterozygote oder homozygote Mutationen in einer der Untereinheiten des KATP-Kanals führen zu einer übermäßigen Freisetzung von Insulin und zum kongenitalen Hyperinsulinismus (Kap. „Genetische Defekte des Monosaccharidstoffwechsels“). Dieser spricht oft auf eine Behandlung mit oralem Diazoxid an, welches den KATP-Kanal selektiv aktiviert (öffnet) und dadurch die Ausschüttung von Insulin hemmt. Umgekehrt verursachen aktivierende Mutationen im KATP-Kanal einen permanenten neonatalen Diabetes mellitus (Kap. „Diabetes mellitus bei Kindern und Jugendlichen“). Hier werden orale Sulfonylharnstoffe eingesetzt, welche den KATP-Kanal selektiv hemmen und die Insulinausschüttung steigern.
Als spezifisches Medikament für die orale Therapie der Mukoviszidose (Kap. „Zystische Fibrose (Mukoviszidose) im Kindes- und Jugendalter“) ist Ivacaftor (Kalydeco®) zugelassen. Es wirkt bei bestimmter Mutationen (speziell p.Gly551Asp/p.G551D), bei denen das mutierte Protein in die Zellmembran eingebaut wird. Dann kann Ivacaftor spezifisch den CFTR-Kanal aktivieren und damit den Chloridtransport verbessern. Bei Nullmutationen ist das Medikament unwirksam. Die Jahreskosten belaufen sich aktuell auf 250–300.000 € pro Patient. Für die spezifische Therapie der sehr häufigen CF-Mutation p.F508del wurde das pharmazeutische Chaperon Lumacaftor entwickelt, welches den Transport des mutierten Proteins aus dem endoplasmatischen Retikulum zur Zellmembran fördert und als Kombinationspräparat mit Ivacaftor (Orkambi®) zugelassen wurde.

Kausale Therapiestrategien auf der Ebene der genetischen Information

Transplantation

Während kausale Therapien auf Proteinebene nur vorübergehend wirken und die entsprechenden Präparate daher regelmäßig gegeben werden müssen, sucht die Therapie auf der Ebene der genetischen Information eine langfristige genetische Heilung. Ein möglicher Ansatz ist der Ersatz des relevanten Organs durch die Transplantation eines gesunden Spenderorgans. Beispielhaft dafür ist die Lebertransplantation beim homozygoten LDL-Rezeptormangel, welche zu einer dauerhaften Senkung der Cholesterinwerte im Blut führt. Auch die Transplantation allogener hämatopoetischer Stammzellen bei hämatologischen Krankheiten bzw. Immundefizienzen ersetzt primär die fehlenden Zellfunktion im betroffenen Organ. Bei bestimmten lysosomalen Speicherkrankheiten werden Stammzellen transplantiert, welche die dem Patienten fehlenden Enzyme produzieren und ersetzen. Im Gegensatz zur Enzymersatztherapie wirken sie auch im Gehirn und können zerebrale Manifestationen zumindest teilweise verhindern, da Mikrogliazellen des Gehirns teilweise durch Spenderzellen ersetzt werden. Allerdings ist dieser Prozess relativ langsam und unvollständig. Eine Wirksamkeit ist in der Regel nur dann zu erwarten, wenn die Stammzelltransplantation vor dem Auftreten erster Symptome stattfindet und die transplantierten Zellen ausreichende Mengen des fehlenden Enzyms produzieren. Gentherapeutisch veränderte autologe Stammzellen mit hoher Expression des transfizierten Gens wurden bei der Therapie z. B. der metachromatischen Leukodystrophie erfolgversprechend eingesetzt.

Somatische Gentherapie

Die großen Hoffnungen, welche seit Beginn der 1990er-Jahre in die somatische Gentherapie, also das Einfügen von Nukleinsäuren in die Körperzellen eines Individuums, gesetzt wurden, erfüllen sich nur langsam. Ziel ist die nebenwirkungsfreie genomische Integration und dauerhafte Expression einer Gensequenz im relevanten Organ des Empfängers. Ein möglicher Ansatz besteht darin, den eigentlichen Gentransfer außerhalb des Körpers (ex vivo) an vorher den Patienten entnommenen Zellen durchzuführen und die veränderten Zellen anschließend wieder zurückzugeben. So werden bei Kindern mit schwerem kombinierten Immundefekt (SCID, Kap. „Immundefizienz und Darmkrankheiten bei Kindern und Jugendlichen“) und anderen Krankheiten autologe hämatopoetische Stammzellen transplantiert, welche ex vivo mithilfe eines retroviralen Vektors (Transportvehikel zur DNA-Übertragung) transformiert worden waren. Allerdings führte bei einem Teil der so behandelten Kinder die Integration des Gens in der Nähe des Promotors eines Protoonkogens nach wenigen Jahren zur Entwicklung einer zum Teil tödlich verlaufenden Leukämie. Durch Weiterentwicklung des Verfahrens wurde diese Komplikation weitgehend ausgeschlossen. Seit 2016 ist Strimvelis® als ex vivo Gentherapie bei ADA-SCID (SCID aufgrund eines Adenosin-Deaminasemangels) durch Transfer des ADA-Gens in autologe hämatopoetische Stammzellen in Europa zugelassen.
Eine noch größere Herausforderung ist die In-vivo-Gentherapie, also die unmittelbare Behandlung eines Patienten durch Transfer von genetischem Material in einem geeigneten Vektor in den Körper. Hier geht es nicht nur darum, dass das transferierte genetische Material in ausreichender Menge die Zielzellen des Patienten erreicht und dauerhaft exprimiert wird, sondern natürlich auch um das Vermeiden von Komplikationen des eigentlichen Gentransfers. Einen Rückschlag erhielten die Bemühungen 1999 durch den Tod des 18-jährigen Jesse Gelsinger, bei dem die experimentelle Gentherapie eines Ornithin-Transcarbamylasemangels mit Verabreichung einer übergroßen Menge von Adenoviren als Vektor zu einem Multiorganversagen und Tod führte. 2018 wurde Voretigene neparvovec (Luxturna®) als subretinal injizierbares Gentherapeutikum für RPE65-assoziierte Lebersche kongenitale Amaurose 2 in den USA zugelassen. Es ist zu erwarten, dass die gezielte Editierung/Reparatur mutierter Gene mittels CRISPR/Cas9 die Möglichkeiten der gezielten Gentherapie stark erweitern wird.

Modifikation der Transkription bzw. Translation

Ein gentherapeutischer Ansatz ohne Veränderung der Erbinformation ist die Modifikation der Transkription bzw. Translation spezifischer Mutationen. Nusinersen (Spinraza®) ist ein modifiziertes Antisense-Oligonukleotid zur Behandlung der durch Mutation des Gens SMN1 bedingten spinalen Muskelatrophie (SMA) Typ 1 (Kap. „Spinale Muskelatrophien“). Es bindet an die prä-mRNA des SMN2-Gens, das sich vom SMN1 Gen durch ein herausgespleißtes Exon 7 unterscheidet und ein instabiles Protein produziert, das die Entwicklung motorischer Neurone nicht fördert. Nusinersen hemmt den Spleißmechanismus und erhält Exon 7 in SMN2, das dann ausreichende Mengen des vollständigen SMN-Proteins kodiert. Da das Medikament die Blut-Liquor-Schranke nicht überschreitet, muss es intrathekal verabreicht werden. Die Kosten pro Applikation liegen bei über 100.000 €; im 1. Jahr sind 6 und danach jährlich 3 Applikationen notwendig.
Ein anderer Mechanismus liegt dem Medikament Ataluren (Translarna®) zugrunde. Es kommt bei genetischen Krankheiten in Frage, die durch Nonsense-Mutationen mit vorzeitigem Stopp-Codon entstehen. Durch Ataluren wird das vorzeitige Stopp-Codon mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit von den Ribosomen nicht als solches erkannt und es wird eine andere tRNA verwendet. Dies ermöglicht das ribosomale Durchlesen der gesamten mRNA und die Produktion eines Proteins von voller Länge. Das Medikament erhielt 2018 in Europa eine positive Zulassungsempfehlung für durch Nonsense-Mutationen verursachte Muskeldystrophie Duchenne (Kap. „Progressive Muskeldystrophien und fazioskapulohumerale Muskeldystrophie“), der tatsächliche klinische Nutzen ist jedoch umstritten. Die Entwicklung von Ataluren für die Therapie der Mukoviszidose wurde 2017 wegen mangelnder Effizienz eingestellt.