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DGIM Innere Medizin
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Publiziert am: 12.12.2014

Sichelzellerkrankung

Verfasst von: Christine Kurschat, Manfred Pollok und Thomas Benzing
Die Sichelzellerkrankung, eine autosomal-rezessiv vererbte Erkrankung, ist häufig bei Menschen afrikanischen Ursprungs anzutreffen. Sie ist durch vasookklusive Episoden gekennzeichnet und betrifft v. a. die Milz, den Knochen, das ZNS und die Nieren.

Definition

Die Sichelzellerkrankung tritt häufig bei Menschen afrikanischen Ursprungs auf und wird autosomal-rezessiv vererbt. Im äquatorialen Afrika sind 10–40 % der Einwohner heterozygote Genträger. In der β-Kette des humanen Hämoglobins (Tetramer aus 2 α-Ketten und 2 β-Ketten) ist ein Glutamin an Position 6 gegen Valin ausgetauscht, statt des normalen α2β2-Tetramers wird das Sichelhämoglobin HbS α2/βS2 gebildet (Thein 2011). Durch diesen Austausch einer Aminosäure wird die Löslichkeit des Hämoglobins stark herabgesetzt, so dass eine Aggregation und Polymerisation der deoxidierten Hämoglobinmoleküle bei Abfall des pO2 unter 40–45 mm Hg, Acidose oder Dehydratation eintreten kann. Die ausgefallenen Hämoglobinkristalle reduzieren die Verformbarkeit der Erythrozyten. Lichtmikroskopisch sind HbS-haltige Erythrozyten oft einer Sichel ähnlich (Abb. 1). Dies führt zu einer verringerten Lebensdauer durch frühzeitigen Abbau der Erythrozyten (17 Tage statt 110–120 Tage) und zu häufigen Kapillarverschlüssen mit nachfolgender Organschädigung, bevorzugt unter hypoxischen Bedingungen. Eine Sichelzellanämie tritt bei Patienten auf, die entweder homozygot für HbS sind (60–70 % der Fälle), oder neben HbS ein weiteres abnormes Hämoglobin besitzen wie Hämoglobin C (HbC mit Austausch von Glutamin gegen Lysin in Position 6 der β-Globinkette, ca. 20 % der Fälle), β + bzw. β°-Thalassämie (veränderte bzw. völlig fehlende β-Kette) oder seltene Hämoglobinvarianten wie Hämoglobin D oder O (Austausch von Glutamin an Position 121). Die Sichelzellerkrankung betrifft v. a. Milz (funktionelle Splenektomie), Knochen (Osteonekrosen), ZNS (Schlaganfälle) und in weniger als 5 % die Nieren (Sichelzellnephropathie). Die Lebenserwartung bei Sichelzellerkrankung ist durch häufige Infekte und Gefäßverschlüsse reduziert. Heterozygote HbS-Träger (HbS immer um 40 %) bleiben klinisch unauffällig.

Pathophysiologie

Die Sichelzellerkrankung ist durch episodisch auftretende vasookklusive Krisen gekennzeichnet, die durch verschiedene Faktoren wie Hypoxie, Infektionen, Hypovolämie, Hypothermie, Acidose oder Hyperosmolarität ausgelöst werden. Bei Dehydratation kann die intrazelluläre HbS-Konzentration ansteigen und die Löslichkeitsgrenze überschritten werden, so dass eine Sichelzellbildung einsetzt.
Eine Plasmodieninfektion senkt den intraerythrozytären pH-Wert, wodurch die Sichelzellbildung vermehrt auftritt. Das ausgefällte HbS schädigt die Membran der intraerythrozytären Parasiten; zusätzlich wird deren Überleben durch einen Kaliumverlust aus den Erythrozyten als Folge der Sichelbildung beeinträchtigt. Die Freisetzung von Hämoglobin in die Zirkulation beschleunigt den Abbau von NO und verstärkt durch Wegfall der Vasodilatation die Stase in den kleinen Blutgefäßen. Die parasitierten Erythrozyten werden durch die Sichelbildung bevorzugt eliminiert. Höhere HbF-Konzentrationen hemmen das Wachstum der Parasiten.
Die Adhäsion von Sichelzellerythrozyten an Endothelzellen ist im Vergleich zu normalen Erythrozyten gesteigert, insbesondere, wenn Endothelzellen bereits durch Zytokine wie TNF-α, Interleukin 1β oder Interferon γ aktiviert sind. Hierdurch wird die kapilläre Passage zusätzlich verlangsamt und die Polymerisation von HbS und die Sichelung der Erythrozyten weiter verstärkt. Das Ausmaß der Polymerisation hängt vom Grad der Hypoxie, der intrazellulären Hämoglobinkonzentration und der Anwesenheit von fetalem Hämoglobin (HbF) ab. Die Expression von HbF wird normalerweise nach Beendigung der Fetalperiode abgeschaltet, kann aber bei Patienten mit Sichelzellerkrankung aufgrund des fehlerhaften HbS in unterschiedlichem Ausmaß weiterbestehen.

Epidemiologie

Die Sichelzellerkrankung wurde erstmals in Westafrika beschrieben. Die hohe Prävalenz von HbS in dieser Region ist mit einem Überlebensvorteil bei einer Malariainfektion verbunden, denn HbS schützt vor einer Malariainfektion. Heutzutage ist die Sichelzellerkrankung nicht nur in weiten Teilen Afrikas, sondern weltweit anzutreffen, z. B. im Mittelmeerraum, dem Mittleren Osten, in Indien, in der Karibik, in Nordamerika und Nordeuropa. In Nigeria liegt die Prävalenz des Sichelzellgens bei ca. 25 %, in Nordamerika bei Menschen afrikanischer Herkunft bei 8 %. Fünf Haplotypen (Benin-, Senegal-, Kamerun-, Bantu- und Arab-Indian-Haplotyp) werden differenziert, deren Erkrankungsverlauf durch die Höhe der HbF-Konzentration bestimmt wird. Der senegalesische Haplotyp ist mit einer höheren HbF-Konzentration verbunden und hat daher eine bessere Prognose, der Benin-Haplotyp hat eine schlechte Prognose. Frauen mit Benin-Haplotyp haben höhere HbF-Spiegel als Männer und somit einen günstigeren Verlauf.

Klinik

Das Leitsymptom der Sichelzellerkrankung ist die anfallsweise auftretende Organischämie mit nachfolgender Organschädigung durch vasookklusive Episoden (s. Tab. 1). Die klinischen Symptome sind altersabhängig, treten teilweise bereits in frühester Kindheit auf und sind individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt (Meier u. Miller 2012; Stuart u. Nagel 2004). Das häufigste Symptom ist ein periodisch auftretender Knochenschmerz. In den ersten Lebensjahren präsentiert sich dieser Schmerz als Daktylitis oder als Hand-Fuß-Syndrom, später können sich avaskuläre Knochennekrosen vor allem des Femur- und des Humeruskopfes entwickeln. Die chronisch-hämolytische Anämie prädisponiert zu Pigmentgallensteinen (96 %). Bei 30 % der Männer manifestiert sich ein Priapismus aufgrund der verkürzten NO-Wirkdauer. 6–8 % der Patienten erleiden einen Schlaganfall. Zusätzlich kann es zu einem akuten Herzinfarkt, zu chronischen Beinulzera und zu einer chronischen Lungenerkrankung mit pulmonal-arterieller Hypertonie kommen. Mikrovaskuläre Verschlüsse in den Vasa recta des Nierenmarks führen zu einer Einschränkung der Konzentrationsfähigkeit der Nieren; seltener werden Papillennekrosen beobachtet.
Tab. 1
Klinische Manifestationen einer Sichelzellerkrankung
Akute schmerzhafte Episoden
Häufig Extremitäten, Rücken, Brust, Abdomen
Infektionen
Streptokokkus pneumoniae, Haemophilus influenzae, H1N1, Parvovirus, E. coli, Staphylococcus aureus, Salmonellen
Neurologische Komplikationen
Schlaganfall, neurokognitive Störungen, Epilepsie
Kardiale Komplikationen
Renale Komplikationen
Hyposplenismus
Milzinfarkte, Infektanfälligkeit
Knochenkomplikationen
Knocheninfarkte und Nekrose (Hände, Füße, Femur)
Beinulcera
Medialer oder lateraler Malleolus, oft beidseits
Hepatobiliäre Komplikationen
Akute Leberischämie, Cholestase, Cholelithiasis
Lungenkomplikationen
Interstitielle Fibrose, pulmonal-arterielle Hypertonie
Wachstumsverzögerung und verzögerte Pubertät
 
Priapismus
 
Proliferative Sichelzellretinopathie
 
Patienten mit Sichelzellanämie sind anfällig für Infektionen, da über multiple Milzinfarkte eine Autosplenektomie erfolgt. Bakterielle Infektionen, besonders mit kapselbildenden Organismen wie Pneumokokken, können tödlich verlaufen. Salmonelleninfektionen nehmen fast linear mit dem Alter zu, Klebsiellen- und E.-coli-Infektionen finden sich meist jenseits des 10. Lebensjahres. Fieber tritt häufig bei Patienten mit Sichelzellerkrankung auf, oft begleitet von Schmerzkrisen oder Angina pectoris-ähnlichen Symptomen.
Die klinische Manifestation der Erkrankung ist sehr unterschiedlich und hängt von der betroffenen Organprovinz ab. Die heterozygote Form der Sichelzellerkrankung, in der nur ein Allel von der Mutation betroffen ist, ist durch einen benignen Verlauf gekennzeichnet. Homozygote Patienten (HbSS) haben meist eine schwerere Erkrankung im Vergleich zu Patienten mit einem HbC-Allel (HbSC), ebenso sind Patienten mit Sichelzellanämie und Thalassämie bei HbS-β°-thal schwerer betroffen als Patienten mit HbS-β+-thal. Der Bantu-Haplotyp ist durch das höchste Maß an Organschäden und somit durch eine schlechtere Prognose gekennzeichnet als die restlichen Haplotypen. Der Verlauf der Erkrankung wird ebenfalls durch die Menge an fetalem Hämoglobin (HbF) bestimmt, das normalerweise nur in fetalen Erythrozyten vorhanden ist, aber bei der Sichelzellerkrankung zusätzlich exprimiert wird. Ebenfalls spielen individuelle Endothelfaktoren bei der Ausprägung der Erkrankungsschwere eine Rolle. Das Ausmaß der endothelialen Adhäsion der Sichelzellerythrozyten sowie die Menge an zirkulierenden aktivierten mikrovaskulären Endothelzellen korreliert mit der Schwere der Erkrankung.

Diagnostik

Biochemische Diagnostik

Bei Überträgern der Sichelzellerkrankung finden sich keine Abnormalitäten des Blutbildes, die Überlebenszeit der Erythrozyten ist nicht verkürzt. Bei der homozygoten Sichelzellerkrankung liegt eine schwere nomochrome und normozytäre Anämie vor (Hämoglobinwerte zwischen 6 und 8 g/dl), die mit einer Retikulozytose von 3–15 % vergesellschaftet ist. Das indirekte Bilirubin und die Serumlaktatdehydrogenase (LDH) sind erhöht, das Haptoglobin stark erniedrigt bzw. nicht nachweisbar. Im Blutausstrich sieht man u. U. Sichelzellen, eine Polychromasie bei Retikulozytose und Howell-Jolly-Körperchen bei Hyposplenie aufgrund rezidivierender Milzinfarkte. Eine Leukozytose und Thrombozytose kann ohne Hinweis auf eine Infektion vorliegen (West et al. 1992). Bei Überträgern sind Sichelzellen nur im Ausnahmefall im Blutausstrich zu finden, da hierfür der pO2 unter 15 mm Hg absinken muss.
Die Diagnose einer Sichelzellerkrankung wird gesichert durch den Nachweis signifikanter Anteile von HbS mittels isoelektrischer Fokussierung, durch Zelluloseacetat- bzw. Citrat-Agar-Elektrophorese oder durch die Abwesenheit eines normalen β-Globinketten-Gens. Wegen der beachtlichen Prävalenz und der hohen Mortalität werden inzwischen alle Neugeborenen in den USA auf das Vorliegen einer Sichelzellerkrankung gescreent und bei Hinweis auf eine Hämoglobinopathie nach 6 Wochen erneut getestet. Das fetale Hämoglobin ist in diesem Alter noch deutlich erhöht. Patienten, die mit Hydroxycarbamid (Hydroxyurea) behandelt werden, können HbF-Werte von 15 % oder mehr erreichen.

Genetische Diagnostik

Eine genetische Untersuchung ist zur Diagnosestellung einer Sichelzellerkrankung in der Regel nicht notwendig.

Differenzialdiagnostik

Die Sichelzellerkrankung hat vielfältige Differenzialdiagnosen, da sie sich klinisch sehr heterogen manifestieren kann.

Therapie

Die Therapie der Sichelzellerkrankung ist rein symptomatisch und soll das Auftreten von Komplikationen vermindern. Die Rate an tödlich verlaufenden Pneumokokkeninfektionen bei Kleinkindern kann durch eine tägliche Prophylaxe mit Penicillin gesenkt werden. Bei Kindern wird eine Impfung gegen Pneumokokken, Haemophilus influenzae Typ B, Neisseria meningitidis, Hepatitis B und Influenza empfohlen. Bei unklarem Fieber sollen frühzeitig Antibiotika verabreicht werden.
Hydroxyharnstoff, Azacytidin und Decitabin können den HbF-Anteil erhöhen und reduzieren die Schmerzkrisen als Folge der Vasookklusion (Platt 2008). Etilefrin wird bei Priapismus eingesetzt. Bei einer Sichelzellkrise sollte der Patient mit Sauerstoff therapiert werden und intravenös Flüssigkeit zur Rehydrierung erhalten. Patienten profitieren zusätzlich von der Gabe von Erythrozytenkonzentraten. Eine Blutaustauschtransfusion wird wegen des geringen Nutzens nicht mehr empfohlen. Eine allogene Stammzelltransplantation führt zu einer Heilung der Sichelzellerkrankung und ist mit einer 80–85 %igen Wahrscheinlichkeit eines rezidivfreien Überlebens verknüpft. Die Patienten, die am meisten von einer Stammzelltransplantation profitieren, sind junge und präsymptomatische Patienten. Die allogene Stammzelltransplantation wird derzeit nur bei ausgewählten Patienten empfohlen.

Verlauf und Prognose

Die Lebenserwartung von Patienten mit Sichelzellerkrankung ist durch Infektionen und Endorganschäden, v. a. bei symptomatischem Verlauf, deutlich reduziert, auch wenn sich in den letzten Jahrzehnten das Überleben von Kindern signifikant verbessert hat. Endorganmanifestationen wie Osteonekrosen, prätibiale Ulzera oder eine Retinopathie sind mit einem schwereren Krankheitsverlauf verbunden. Das Mortalitätsrisiko ist bei niedriger HbF-Konzentration, Nierenversagen, akutem Koronarsyndrom und Krampfanfällen besonders erhöht, während eine ausgeprägte Hämolyse mit weniger Sichelzellkrisen und Endorganschäden assoziiert ist. Die Patienten mit Sichelzellanämie versterben in 48 % an Infektionen, in 10 % an einem Schlaganfall und in 4 % an einem Nierenversagen (Tab. 2). Bei jüngeren Patienten ist die häufigste Todesursache in der Regel eine Infektion, bei älteren Patienten eher der Endorganschaden. In der Schwangerschaft kann es zu Spontanaborten, einer fetalen Wachstumsverzögerung und einem niedrigen Geburtsgewicht kommen. Bei 50 % der Schwangeren treten Komplikationen wie thrombembolische Ereignisse, akute Brustschmerzen, Harnwegsinfektionen, Pyelonephritiden oder eine Präeklampsie auf.
Tab. 2
Todesursachen bei Patienten mit Sichelzellanämie
Ursache
Anteil (%)
Infektionen
48
Schlaganfall
10
Therapiekomplikationen
7
Milzkomplikationen
7
Thrombembolie
5
Nierenversagen
4
Pulmonal-arterielle Hypertonie
3
Literatur
Meier ER, Miller JL (2012) Sickle cell disease in children. Drugs 72:895–906PubMedCentralPubMed
Platt OS (2008) Hydroxyurea for the treatment of sickle cell anemia. N Engl J Med 358:1362–1369PubMedCrossRef
Stuart MJ, Nagel RL (2004) Sickle-cell disease. Lancet 364:1343–1360PubMedCrossRef
Thein SL (2011) Milestones in the history of hemoglobin research (in memory of professor Titus H.J. Huisman). Hemoglobin 35:450–462PubMedCrossRef
West MS, Wethers D, Smith J, Steinberg M (1992) Laboratory profile of sickle cell disease: a cross-sectional analysis. The Cooperative Study of Sickle Cell Disease. J Clin Epidemiol 45:893–909PubMedCrossRef
http://​www.​ist-ev.​org. Zugegriffen am 08.07.2013