Typische perioperative Risiken und Diagnostik
Im perioperativen Verlauf sind sowohl die auf Grund des
Diabetes entstandenen chronischen Veränderungen als auch mögliche akute Komplikationen zu berücksichtigen. Dabei sind zu berücksichtigen:
1.
Akute stoffwechselbedingte Komplikationen:
-
Hyperosmolare
Entgleisungen bei Menschen mit Typ-2-DM [
8],
-
-
2.
Komplikationen durch diabetesbedingte Folgeerkrankungen
:
-
makrovaskulär (KHK, Karotisstenosen,
paVK),
-
-
neuropathisch (Polyneuropathiesyndrom, autonome Neuropathie [
12]).
Die im postoperativen Verlauf bei jedem Patienten auftretende metabolische Störung, das
Postaggressionssyndrom, ist in seiner Ausprägung u. a. vom Ausmaß des operativen Traumas abhängig. Es liegt bei diesem Syndrom sowohl eine Erhöhung des Insulinspiegels als auch eine relevante Erhöhung der antiinsulinär wirkenden Faktoren, wie z. B. der
Kortikosteroide, der endogenen
Katecholamine und insbesondere des
Glukagon vor.
Der Patient mit
Diabetes mellitus ist in dieser Situation durch den bestehenden relativen oder absoluten Insulinmangel
besonders gefährdet, da die katabole Reaktion ausgeprägter ist als bei einem Patienten ohne Diabetes mellitus [
11].
Dazu kommen die aus den Folgeerkrankungen
resultierenden, v. a. das Herz-Kreislauf-System betreffenden, Gefahren. Diabetiker sind in der Regel multimorbide Patienten.
Perioperative kardiovaskuläre Komplikationen sind bei Patienten mit
Diabetes mellitus 2- bis 4-mal häufiger als bei gleichaltrigen Patienten ohne Diabetes mellitus. Ursache ist insbesondere die kardiale Auswirkung der autonomen Neuropathie
, die sich in verschiedenen Symptomen zeigen kann: Ruhetachykardie, Verlust der Variabilität der Herzfrequenz, orthostatische Hypotension, verlängertes QT-Intervall, stumme Ischämien und eine Belastungsintoleranz [
12]. Auch die Endothelfunktion ist beim Diabetiker gestört, oft auch die Reaktivität der Gehirngefäße auf Änderungen des pCO
2 [
13,
14]. Dazu kommen auf Grund von arteriosklerotischen Veränderungen meist eine
koronare Herzerkrankung, zerebrovaskuläre Perfusionsstörungen, eine Verschlechterung der Nierenfunktion sowie des Nervensystems und der Sinnesorgane. Typisch ist auch das Vorliegen eines metabolischen Syndroms.
Pulmonale Komplikationen, postoperative lokale oder systemische Infektionen sowie eine verzögerte Wundheilung sind häufig auftretende Probleme. Bei hohen Blutzuckerspiegeln resultieren für die Diabetiker eine Störung der Funktion der neutrophilen Zellen, eine verstärkte Cytokinsynthese und eine verminderte Synthese von
Komplement, wodurch insgesamt eine Verstärkung der Entzündungsreaktion erfolgt und eine höhere Wahrscheinlichkeit für Infektionen resultiert [
15]. Ein Einfluss der Wirkung von
Insulin oder Metformin auf die Morbidität und Letalität von Patienten mit
Sepsis konnte jedoch bisher nicht nachgewiesen werden [
16].
Perioperative Risiken
Neben den metabolischen Problemen sind die Folgeerkrankungen des
Diabetes mellitus zu beachten. Wegen der häufig bestehenden Versteifungen der Gelenke („
stiff joint syndrome“) ist neben allgemeinen Lagerungsproblemen auch mit einer erschwerten Reklinierbarkeit des Kopfe und der Larynxregion sowie einer eingeschränkten Mundöffnung zu rechnen. Die Inzidenz der schwierigen Intubation ist daher bei Diabetikern gegenüber einem Patienten ohne Diabetes mellitus erhöht [
21]. Einen Hinweis hierauf gibt das sog. „prayer sign
“: Der Patient ist nicht in der Lage, die vor der Brust gefalteten Hände komplett zusammenzuführen. Maßnahmen zum Management der erschwerten Intubation (z. B. Videolaryngoskopie, Intubationshilfen) sollten daher vorbereitet sein (Kap. „Intubation bei schwierigem Atemweg“).
Bei 20–40 % der Patienten mit
Diabetes liegt eine autonome Neuropathie
vor. Dabei treten gehäuft Probleme des Herz-Kreislauf-Systems auf. So kann es bei Lagerungen in Kopf-hoch-Lage (z. B. „Beach-chair-Lagerung“) auf Grund einer orthostatischen Fehlregulation
zu einer Minderperfusion der oberen Körperregionen, auch des Kopfe, kommen. Bei der Durchführung von
Regionalanästhesien ist ebenfalls mit einer deutlichen orthostatischen Regulationsstörung zu rechnen. Die durch die Neuropathie induzierte Gastroparese
bedingt eine verzögerte Magenentleerung mit der Gefahr der Aspiration in der Ein- und Ausleitungsphase der Anästhesie.
Postoperativ ist die Inzidenz von Apnoen und Asystolien insbesondere bei übergewichtigen Männern >60 Jahren erhöht. Da Patienten mit
Diabetes mellitus meist keine pektanginösen Beschwerden haben („stumme Ischämie“), muss bei Patienten mit akuter Dyspnoe immer auch ein
Myokardinfarkt ausgeschlossen werden (
EKG,
Troponin, evtl.
Echokardiographie; Abschn.
1.1).
Eine fast regelhaft übersehene Komplikation ist das symmetrische, sensible Polyneuropathiesyndrom. Durch diese Gefühlsstörung fehlen auch beim wachen Patienten die reflektorischen Eigenbewegungen bei Druckbelastung des Gewebes. Bei langer Operationsdauer in unveränderter Lage auf dem OP-Tisch werden bei Allgemein- und bei
Regionalanästhesien in den meist chronisch minderdurchbluteten Geweben schneller als bei Patienten ohne
Diabetes mellitus fokale Ischämien ausgelöst mit der Folge von unbemerkten Gewebeläsionen [
22].
Deshalb muss die Lagerung der Patienten sowohl während der Operation selber als auch im gesamten perioperativen Zeitraum besonders sorgfältig durchgeführt werden.
Bei Diabetikern ist auf Grund der chronischen Mangeldurchblutung der Gewebe auch überdurchschnittlich häufig mit Wundheilungsstörungen und Infektionen zu rechnen.
Anästhesiologisches Management
Die Wahl des Anästhesieverfahrens hängt von Art, Schwere und Dauer des Eingriffs sowie Art und Schwere des
Diabetes mellitus sowie dessen Folgeerkrankungen ab. Ziel ist es, perioperativ eine möglichst stabile Stoffwechselsituation zu erhalten bzw. rasch postoperativ wiederherzustellen sowie das Postaggressionssyndrom und die begleitende Entzündungsreaktion so gering wie möglich zu halten. Ein perioperativer Stresszustand, z. B. durch eine unzureichende
Schmerztherapie, muss auf jeden Fall vermieden werden.
Patienten mit
Diabetes mellitus sollten möglichst früh am Tag operiert werden, um die Nüchternphase kurz zu halten. Bei Glukosesteuerung mittels funktioneller Insulintherapie ist die Tageszeit der Operation beliebig frei wählbar. Der Blutzuckerspiegel sollte präoperativ kontrolliert werden, bei längerem Warten auf die Operation auch schon außerhalb des OP. Ist ein operativer Eingriff erst am Ende des OP-Programmes möglich, so muss beim insulinpflichtigen Diabetiker mit der Insulintherapie bereits präoperativ begonnen werden, um die metabolische Situation des Patienten stabil zu halten.
Regionalanästhesie
Regionalanästhesieverfahren haben den Vorteil, dass der Patient schnell postoperativ wieder normal essen und trinken kann und durch eine effektive Schmerzausschaltung das perioperative Stressniveau niedrig gehalten wird. Die präoperativen Nüchternheitsgrenzen müssen jedoch auch bei Patienten mit
Diabetes mellitus und vorgesehener
Regionalanästhesie eingehalten werden, da immer wegen technischer oder medizinischer Probleme die Durchführung einer
Allgemeinanästhesie erforderlich werden kann.
Weisen die Patienten bereits Zeichen einer autonomen Neuropathie auf (z. B. Schweißsekretionsstörungen, „trockener Fuß“, trophische Störungen der Haut, Pulsstarre, Orthostase), ist insbesondere bei rückenmarknahen Anästhesieverfahren mit spezifischen Problemen zu rechnen. So sind die Patienten nicht in der Lage, die durch die Anästhesie bedingten Folgen der Sympathikolyse durch eine kompensatorische Vasokonstriktion in anderen Strombahnbereichen sowie durch eine Steigerung des Herzminutenvolumens zu kompensieren. Häufig ist auch die Temperaturregulation gestört, sodass besonders sorgfältig auf die perioperative Aufrechterhaltung der Normothermie geachtet werden muss.
Eine Auslösung der Verstärkung einer
Polyneuropathie durch eine
Regionalanästhesie ist nicht zu befürchten. Vielmehr sollte bei geeigneten Operationen die Anwendung einer Katheterregionalanästhesie mit der Möglichkeit der postoperativen Fortführung der Regionalanästhesie zur Analgesie gezielt erwogen werden. Zu beachten ist jedoch, dass ein signifikant höheres Risiko für eine Infektion bei einer Katheterregionalanästhesie besteht als beim Patienten ohne
Diabetes mellitus. Die Infektionsprophylaxe bei der Katheteranlage und im weiteren Verlauf auch die Kontrolle des Katheters müssen deshalb besonders sorgfältig durchgeführt werden [
23].
Patienten mit ausgeprägter, polyneuropathiebedingter Reduktion der Schmerzrezeptoren benötigen bei Eingriffen an der unteren Extremität ggf. überhaupt keine Schmerzausschaltung, auch bei großem Debridement bzw. Zehenresektionen.
Der Bedarf an
Lokalanästhetika liegt bei einem lange bestehenden
Diabetes niedriger als beim Normalpatienten, die Wirkdauer ist häufig verlängert. Die Dosierung muss deshalb vorsichtig erfolgen und individuell angepasst werden.
Allgemeinanästhesie
Es gibt keine Anästhesieverfahren, die einen besonderen Vorteil beim Diabetiker aufweisen. Die Durchführung einer TIVA ist ebenso möglich wie eine balancierte Anästhesie mit
Inhalationsanästhetika. Entscheidend ist die Aufrechterhaltung einer stabilen vegetativen Situation: hypertone und hypotone Phasen müssen ebenso vermieden werden wie eine Tachykardie. Aber auch bei einer autonomen Neuropathie kommt es häufig, aber nicht zwangsläufig, zu einer hämodynamischen Instabilität [
12,
24].
Auf Lachgas sollte bei Patienten mit autonomer Neuropathie wegen der potenziell negativen Wirkung auf das Nervensystem verzichtet werden. Bei Patienten, die Metformin einnehmen, tritt häufig ein Vitamin-B
12-Defizit auf, sodass es hierdurch zu einer weiteren neurologischen Verschlechterung kommen kann [
25].