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Die Urologie
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Publiziert am: 20.09.2022

Medikamentöse Therapie im Alter – spezielle Aspekte der Urologie

Verfasst von: Petra A. Thürmann
Nicht wenige der urologischen Patienten befinden sich im fortgeschrittenen Lebensalter. Dieser Umstand muss auch bei der Therapie mit Arzneimitteln berücksichtigt werden. Folgende Faktoren spielen hierbei eine wesentliche Rolle:
  • Multimorbidität
  • Polypharmazie mit einem erhöhten Risiko für unerwünschte Wechselwirkungen
  • Verlangsamte renale Elimination
  • Allgemein höheres Risiko für Arzneimittelnebenwirkungen
Bei vielen Arzneistoffen ist die Bedeutung der altersbedingten renalen Eliminationseinschränkung zu beachten. Hinzu kommen Probleme bei Wechselwirkungen mit der übrigen Medikation des Patienten, die sich meist in Form von Nebenwirkungen manifestieren. Spezielle Unverträglichkeiten im Hinblick auf Kognition und Stürze bestehen bei vielen Arzneistoffen und können für die Lebensqualität und Selbständigkeit der Patienten entscheidend sein. Der negative Einfluss anticholinerg wirkender Medikamente auf das Denkvermögen ist nicht zu unterschätzen und kann Patienten ungewollt in die Demenz gleiten lassen.

Multimorbidität und Polypharmazie

Harninkontinenz bei Frauen und bei Männern, die benigne Prostatahyperplasie und auch das Prostatakarzinom sind Beispiele für urologische Erkrankungen, die meist im fortgeschrittenen Lebensalter auftreten (s. Kap. „Einführung in die geriatrische Urologie“). Patienten im Alter über 65 Jahren haben oftmals mehr als eine chronische Erkrankung, Herz/Kreislauferkrankungen sind bei beiden Geschlechtern sehr häufig anzutreffen, Diabetes mellitus etwas häufiger bei Männern, Schmerzen und Depressionen eher bei Frauen (Schäfer et al. 2012). Daraus resultiert die Verordnung zahlreicher Medikamente, oftmals von unterschiedlichen verordnenden Ärzten.
Nimmt ein Patient fünf oder mehr verschiedene Wirkstoffe pro Tag ein, so spricht man im Allgemeinen von einer Polypharmazie.
Analysen der Verordnungen von Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung zeigen, dass 38 % der über 60-Jährigen von einer Polypharmazie (nach der vorgenannten Definition) betroffen sind, wobei 30–40 % der über 80-jährigen Männer und Frauen zwischen 6 und 10 Medikamenten täglich einnehmen (Kostev und Jacob 2018). Man kann also erwarten, dass viele Patienten einen oder mehrere Blutdrucksenker (an erster Stelle ACE-Hemmer und Betablocker) anwenden, Männer sehr häufig einen Cholesterinsenker und einen Thombozytenaggregationshemmer erhalten, wohingegen Frauen eher Schilddrüsenhormone, Analgetika und Psychopharmaka einnehmen. Diese Polypharmazie muss einerseits bei der Verordnung durch den Urologen beachtet werden, spielt andererseits auch bei operativem Vorgehen eine nicht zu unterschätzende Rolle: man denke nur an das erhöhte Blutungsrisiko beispielsweise unter Thrombozytenaggregationshemmern oder oralen Antikoagulanzien, oder die erhöhte Infektionsneigung unter Immunsuppressiva bei Patienten mit chronisch entzündlichen Erkrankungen.
Nicht nur der Medikamentencocktail, auch das einzelne Arzneimittel kann im Alter anders wirken als bei jüngeren Patienten (Berthold und Steinhagen-Thiessen 2009). Das kann zum einen auf der langsameren Ausscheidung renal eliminierter Wirkstoffe (z. B. Morphin) beruhen, zum anderen auf der höheren Empfindlichkeit für bestimmte pharmakologische Effekte aufgrund der eingeschränkten Fähigkeit des alternden Organismus, sich auf neue Einflüsse (z. B. Blutdrucksenkung) einzustellen. Ein Medikament, das bei einem jüngeren Menschen Schwindel hervorruft, kann beim älteren Menschen einen Sturz begünstigen (Berthold und Steinhagen-Thiessen 2009).

Pharmakokinetik im Alter

Die Pharmakokinetik der meisten Arzneistoffe ist im höheren Lebensalter verändert, dies betrifft die Resorption, die Verteilung, den Metabolismus und die Elimination (Reeve et al. 2015). Eine wesentliche Veränderung im Alter, die einen Einfluss auf die Auswahl und Dosierung von Medikamenten hat, ist die Nierenfunktion. Es empfiehlt sich, bei allen Patienten jenseits des 65. Lebensjahres die Kreatinin-Clearance anhand des Serum-Kreatinin-Wertes zu schätzen. Mit Alter, Geschlecht und dem Serum-Kreatinin kann die Kreatinin-Clearance nach der MDRD-Formel oder der sog. CKD-EPI-Formel ermittelt werden. Diesen Berechnungsservice bieten mittlerweile die meisten Labore, wobei die MDRD-Formel gerade bei Hochbetagten die Nierenfunktion gelegentlich überschätzt und die CKD-EPI-Formel deutlich genauer ist. Steht das Körpergewicht zur Verfügung, kann auch die Cockroft-Gault-Formel angewendet werden, die wiederum die Nierenfunktion etwas niedriger ermittelt, was aus Sicherheitsgründen im Alter meist sinnvoll ist (Stevens et al. 2009).
Formel zur Schätzung der Kreatinin-Clearance; bei Frauen muss der Wert anschließend mit dem Faktor 0,85 multipliziert werden
$$ \textrm{eGFR}=\frac{\left(140-\textrm{Alter}\right)\ast \textrm{Gewicht}}{\textrm{Kreatinin}\ \textrm{i}.\textrm{Serum}\ast 72} $$
Die Berücksichtigung der Nierenfunktion spielt eine Rolle beispielsweise bei der Dosierung von niedermolekularem Heparin und den direkten oralen Antikoagulanzien, eine mangelnde Anpassung führt zu einem erhöhten Blutungsrisiko. Für Bisphosphonate gelten ebenfalls spezielle Dosierungshinweise bei Einschränkung der Nierenfunktion, unterschiedlich je nach Präparat, da alle Vertreter dieser Substanzgruppe renal eliminiert werden. Zahlreiche Antibiotika müssen bei herabgesetzter Nierenfunktion niedriger dosiert werden, einige davon sind in Tab. 1 aufgeführt. Nitrofurantoin ist wegen Kumulationsgefahr und einem erhöhten Toxizitätsrisiko bei jeglicher Nierenfunktionseinschränkung kontraindiziert und darf bei älteren Menschen nur gegeben werden, wenn die Nierenfunktion noch im Normbereich liegt.
Tab. 1
Dosisanpassung bei Niereninsuffizienz einiger häufig gebrauchter Antibiotika
Antibiotikum/
Chemotherapeutikum
Dosierung bei normaler Nierenfunktion
Dosierung bei eingeschränkter Nierenfunktion
Amoxicillin/Clavulansäure
Bis zu 3 g Amoxicillin/d, üblicherweise 2–3 mal tägl., mit variablen Anteilen der Clavulansäure, je nach Präparat
Wenn Krea-Cl < 30 ml/min, dann max. 2 × 500 mg Amoxicillin/125 mg Clavulansäure/täglich
Cefuroximaxetil
Bis zu 3 × 750 mg/d i. v.
Bei Krea-Cl 10–20 ml/min/
1,73m2, dann 2× 750 mg/d i. v.;
Wenn Krea-Cl < 10/min/1,73m2, dann 1 × 750 mg/d
Ciprofloxacin
Bis zu 2 × 750 mg/d p.o. und
i. v. bis zu 3 × 400 mg/d
Wenn GFR 30–60 ml/min, dann p.o. max. 2 × 500 mg/d und i. v. 2 × 400 mg/d;
wenn GFR < 30 ml/min, dann p.o. max. 500 mg/d bzw.
i. v. 400 mg/d
Cotrimoxazol
2 × 960 mg/d
Bei GFR < 30 ml/min sollte die Hälfte der Standarddosis eingesetzt werden, bei GFR < 15 ml/min kontraindiziert
Piperacillin/Tazobactam
Bis zu 4 × 4 g Piperacillin plus 0,5 g Tazobactam pro Tag
Wenn Krea-Cl 20–40 ml/min, dann max. 3-mal tägl. 4g/0,5g;
Wenn Krea-Cl < 20  ml/min, dann max. 2-mal tägl. 4g/0,5g;
Ältere Menschen mit eingeschränkter Nierenfunktion haben ein erhöhtes Risiko für einen Anstieg des Serum-Kreatinin-Wertes bis hin zum akuten Nierenversagen nach Gabe jodhaltiger Kontrastmittel. Je nach Nierenfunktion werden ausreichende Hydrierung, ggf. unter hämodynamischer Überwachung und möglichst niedrige Dosierungen des Kontrastmittels vorgeschlagen (ESUR 2014). Auch die prophylaktische Gabe von Mannitol, N-Acetylcystein, Statinen oder Bikarbonat wurde in zahlreichen Studien untersucht (Scharnweber et al. 2017).
Praxistipp
Für alle relevanten und häufig verordneten Arzneistoffe finden Sie Hinweise zur Dosierung bei Nierenfunktionsstörungen auf folgender frei zur Verfügung stehender Website:
Hier wird Ihnen auch die Kreatinin-Clearance nach Eingabe von Geschlecht, Alter und Körpergewicht berechnet. Alternativ gibt es mittlerweile zahlreiche Apps, mit deren Hilfe klinische Scores und auch die Clearance berechnet werden können.

Wirkungen und Nebenwirkungen von Medikamenten im Alter

Während man die Nierenfunktion noch anhand des Serum-Kreatinins ermitteln kann, gibt es keine brauchbaren Messwerte, um die Empfindlichkeit auf Arzneistoffe vorab zu schätzen. Aufgrund des Nachlassens vieler physiologischer Systeme im Alter (z. B. Renin-Angiotensin-System, sympathisches Nervensystem, Reaktionsfähigkeit) und auch gegenregulatorischer Mechanismen (z. B. Baro-Rezeptor-Reflex) wirken viele Medikamente im Alter stärker. Vor allem bei gebrechlichen Patienten kann dies fatale Folgen haben. Dies beruht auf der Tatsache, dass ältere Menschen eine eingeschränkte Toleranz gegenüber exogenen Einflüssen haben und es ihnen schwerer fällt, ihr Gleichgewicht („Homöostase“) wieder zu erlangen (s. Kap. „Einführung in die geriatrische Urologie“). So kommt es auch bei leichten Nebenwirkungen zu erheblichen Folgeschäden (Berthold und Steinhagen-Thiessen 2009), einige Beispiele sind in Tab. 2 aufgeführt.
Tab. 2
Arzneistoffe und typische Nebenwirkungen, die im Alter besonders relevant sind
Arzneistoff
Nebenwirkung
Amitriptylin, Doxepin, Tolterodin, Oxybtutynin, einige Neuroleptika
Anticholinerge Effekte: Mundtrockenheit, Schwindel, Akkomodationsstörungen, Verwirrtheit, Delir, Sturzgefahr
Nifedipin unretardiert, Terazosin
Hypotonie und damit Sturzgefahr
Ausgeprägte Sedierung und Muskelrelaxation, dadurch erhöhte Sturzgefahr
NSAR
Erhöhtes Risiko für gastrointestinale Blutungen und Nierenversagen
Metoclopramid
Erhöhtes Risiko für extrapyramidale Nebenwirkungen
Clostridium difficile assoziierte Diarrhoe und Kolitis
Erhöhtes Risiko für Exsikkose z. B. bei Diarrhoe oder erhöhten Außentemperaturen
NSAR: nicht-steroidale Antiphlogistika
Im hohen Lebensalter sind zwei Nebenwirkungsarten besonders kritisch zu werten, nämlich Arzneistoffe, die die Kognition ungünstig beeinflussen und solche, die die Sturzgefahr erhöhen. Eine schleichende Abnahme der Kognition wird meist nicht frühzeitig erkannt und wenn sie bemerkt wird, als altersbedingt (oder gar als dementielle Erkrankung) eingeschätzt. Stürze sind Ereignisse, die der Patient (wenn sie folgenlos blieben) oftmals nicht berichtet, und meist durch eine Verkettung von unglücklichen Ereignissen bedingt werden. So kann ein nächtlicher Harndrang bei mangelnder Beleuchtung, auf einem Weg mit Teppichkanten in ausgetretenen Hausschuhen, gefährlich werden, wenn ein Medikament hinzukommt, das sedierend, muskelrelaxierend, die Sehkraft beeinträchtigend oder Schwindel auslösend wirkt. Sowohl für den Kognitionsverlust als auch Stürze gilt es, den Patienten konkret nach Symptomen zu befragen und risikobehaftete Medikamente zu vermeiden (Seppala et al. 2019). Man muss sich dabei vor Augen führen, dass Stürze (mit Frakturfolge, Krankenhausaufenthalt) und Kognitionsverlust oftmals zum Verlust der Selbständigkeit führen.
CAVE
Ein Kognitionsverlust kann durch anticholinerg wirkende Arzneistoffe begünstigt werden.
Das Sturzrisiko im Alter wird durch verschiedenste Arzneistoffe (sog. Fall-risk-increasing drugs) erhöht, dies sind v. a. langwirkende Benzodiazepine, schnell wirkende Antihypertensiva und Anticholinergika.
Anticholinerge Nebenwirkungen umfassen Mundtrockenheit, erweiterte Pupillen (Akkommodationsstörung, Engwinkelglaukom), Harnverhalt, Obstipation, verminderte Schweißbildung), Tachykardie und zentralvenöse Symptome von Unruhe bis hin zu Delir, Krämpfen und langfristig ein Kognitionsverlust. Beispiele für anticholinerg wirkende Wirkstoffe sind in Tab. 3 aufgeführt.
Tab. 3
Arzneistoffe mit anticholinergem Nebenwirkungsprofil (nach Holt et al. 2010; JAGS 2019)
Stoffklasse
Wirkstoffe
Mögliche Alternativen
Trizyklische Antidepressiva
Amitriptylin, Doxepin, Clomipramin, Imipramin
SSRI wie z. B. Citalopram, Sertralin, ggf. Mirtazapin und Verhaltenstherapie
Medikamente gegen Dranginkontinenz
Oxybutynin, Tolterodin (unretardiert) u. a.
Trospium, Fesoterodin, nicht-medikamentöse Therapien
Clemastin, Dimenhydrinat, Diphenhydramin, Hydroxyzin, Doxylamin
Cetirizin, Loratidin
NSAR, Tilidin/Naloxon
Chlorpromazin, Haloperidol, Perphenazin, Thioridazin
Risperidon, Pipamperon
Für die Urologie besonders relevant ist das Potenzial der zur Behandlung der Dranginkontinenz verfügbaren Anticholinergika, allgemeine und insbesondere zentralnervöse Nebenwirkungen auszulösen (Madhuvrata et al. 2012; JAGS 2019). Während tertiäre Amine wie Tolterodin, Oxybutynin, Fesoterodin, Darifenacin und Solifenacin in das ZNS eindringen, kann Trospium als quaternäres Amin kaum eine ZNS-Wirkung entfalten. Darifenacin wird über den Transporter p-Glykoprotein wiederum rasch aus dem ZNS entfernt. In einem Cochrane Review wurde Solifenacin als verträglicher eingeschätzt als Oxybutynin und Tolterodin (Madhuvrata et al. 2012). Klinisch betrachtet haben Experten v. a. Oxybutynin und nicht retardiertes Tolterodin als besonders nebenwirkungsbehaftet eingeschätzt (Holt et al. 2010; JAGS 2019). Für Fesoterodin liegen mehrere Studien bei betagten Senioren vor, in welchen die Wirksamkeit und Verträglichkeit belegt wurde. In der LUTS-FORTA Klassifikation von (Oelke et al. 2015) wurde Fesoterodin von Experten am geeignetsten bewertet. Bei der Verordnung eines Anticholinergikums muss entsprechende anticholinerg wirkende Begleitmedikation beachtet (Kiesel et al. 2018) und dementsprechend auf Nebenwirkungen geachtet werden. Zur Unterstützung werden aktuell sog. „Drug-Burden-Index“-Kalkulationsrechner entwickelt (Mortsiefer et al. 2020).

Polypharmazie und Wechselwirkungen zwischen Medikamenten

Mit steigender Anzahl täglich einzunehmender Medikamente steigt zwangsläufig die Gefahr, dass Wechselwirkungen auftreten, die sich wiederum in Form von Nebenwirkungen – selten als Abschwächung einer gewünschten Wirkung – manifestieren. Man unterscheidet zwischen sog. pharmakokinetischen und pharmakodynamischen Wechselwirkungen (Voigt et al. 2019).

Pharmakokinetische Interaktionen

Pharmakokinetische Interaktionen beruhen auf gegenseitiger Beeinflussung im Bereich der Resorption, der Verteilung, des Metabolismus oder der Elimination. Klinisch relevante Beispiele sind in Tab. 4 aufgeführt und erläutert.
Tab. 4
Ausgewählte pharmakokinetische Wechselwirkungen
Wirkstoff 1
Wirkstoff 2
Symptom
Therapeutische Alternative
PPI, z. B. Omeprazol
Atazanavir, Nelfinavir
Verminderte Resorption der HIV-Medikamente
Möglichst vermeiden, ggf. H2-Blocker (z. B. Ranitidin)
Bisphosphonate, z. B. Clodronsäure, Alendronsäure
Frühstück!
Resorption der Bisphosphonate fast
0 % – Wirkungslosigkeit
Bisphosphonate auf nüchternen Magen einnehmen und Abstand zur Nahrungsaufnahme
Simvastatin
Clarithromycin, Ciclosporin, Ketokonazol
Herabgesetzter Abbau von Simvastatin CYP3A4 → Myopathie, Rhabdomyolyse
Anderes Antibiotikum/Antimykotikum wählen, Fluvastatin bevorzugen bzw. Simvastatin sehr niedrig dosieren
Phenprocoumon, Warfarin
Cotrimoxazol, Antibiotika allgemein
Hemmung des Phenprocoumon-abbaus (CYP3A4, 2C9)
Anderes Antibiotikum!!
Bei anderen Antibiotika INR-Kontrolle nach 3–5 Tagen
Phenprocoumon, Warfarin
Bicalutamid
Verdrängung von Phenprocoumon aus der Plasmaproteinbindung
INR-Kontrolle nach wenigen Tagen
Direkte orale Antikoagulanzien (DOAK): Dabigatran, Apixaban, Rivaroxaban
Ketoconazol, Clarithromycin, Ciclosporin
Je nach Wirkstoff Verlangsamung der Ausscheidung der DOAK → Blutungsgefahr
Anderes Antibiotikum/Antimykotikum wählen, je nach Interaktion kann ggf. auf einen anderen der DOAK ausgewichen werden
Johanniskraut
Ciclosporin, Everolimus, Tacrolimus
Johanniskraut beschleunigt die Ausscheidung zahlreicher Wirkstoffe → Wirkverlust durch Induktion von p-Glykoprotein
Patienten nach Einnahme von OTC-Antidepressiva befragen
Duloxetin
Ciprofloxacin
Verlangsamte Elimination von Duloxetin CYP1A2→ Serotonin-Syndrom
Anderes Antibiotikum wählen
PPI: Protonenpumpeninhibitor, OTC: over the counter
Die zahlreichen spezifischen Interaktionen von Bicalutamid, Enzalutamid und den Tyrosinkinaseinhibitoren sind in Kap. „Orale Applikation von antineoplastischen Substanzen in der Tumortherapie“ dargestellt. Hinweise zu Wechselwirkungen finden sich in den Fachinformationen der Hersteller bei den jeweiligen Präparaten unter www.fachinfo.de (DocCheck Passwort erforderlich). Allerdings wird bei der Lektüre der Fachinformationen ein grundlegendes Verständnis der Pharmakokinetik vorausgesetzt, insbesondere was die hepatische Metabolisierung anbetrifft. Etwa die Hälfte aller verordneten Wirkstoffe wird in der Leber abgebaut, i. d. Regel über die Enzyme des Cytochrom P450-Systems. Hierbei werden die Enzyme CYP3A4, CYP2D6 und CYP2C9 bzw. CYP2C19 besonders häufig und von vielen Medikamenten in Anspruch genommen. Konkurrieren zwei Medikamente um dasselbe Enzym, kann es zur gegenseitigen Verdrängung kommen und einer der beiden Wirkstoffe wird langsamer abgebaut als sonst, während der „Stärkere“ in gewohnter Geschwindigkeit eliminiert wird. Dies ist beispielsweise bei der Interaktion zwischen Simvastatin und Ciclosporin der Fall: Ciclosporin wird normal metabolisiert, während Simvastatin länger als üblich im Körper verweilt und die Blutspiegel etwa um den Faktor 10 ansteigen, was zu erheblichen Nebenwirkungen führen kann. Neben den Enzymen spielen auch bestimmte Arzneistofftransporter wie das p-Glykoprotein eine nicht unerhebliche Rolle, was den Überblick leider nicht vereinfacht (Voigt et al. 2019). Besonders problematisch sind pharmakokinetische Wechselwirkungen mit Immunsuppressiva (Ciclosporin, Everolimus, Tacrolimus), HIV-Medikation und Medikamenten gegen Hepatitis C-Infektionen sowie Tyrosinkinaseinhibitoren. Hier lohnt sich die Nutzung von speziellen Interaktions-Programmen, z. B. www.hiv-druginteractions.org und https://www.drugs.com/drug_interactions.html oder Software und Apps von zahlreichen teilweise frei angebotenen und auch kommerziellen Anbietern (Kunisch 2012).
Auch bei der renalen Elimination kann es zu unerwünschten gegenseitigen Beeinflussungen kommen. Das bekannteste Beispiel dürfte die Verzögerung der Ausscheidung von Metformin sein. Gerade bei älteren Menschen bzw. allen Patienten mit bereits eingeschränkter Nierenfunktion ist mit einer kurzfristigen Verschlechterung derselbigen unter Kontrastmittelgabe (jodhaltige Kontrastmittel) zu rechnen. Das kann wiederum zu einer Verlangsamung der Elimination und somit Kumulation von Metformin führen, was im ungünstigsten Fall eine Laktatazidose begünstigen kann. Dement-sprechend sehen die aktuellen Leitlinien der ESUR ein abgestuftes Verfahren je nach glomerulärer Filtrationsrate (eGFR) vor. Liegt die eGFR über 45 ml/min/m2, so kann Metformin durchgehend genommen werden. Bei einer eGFR zwischen 30 und 45 ml/min/m2 sollte jeweils 48 Stunden vor und bis zu 48 Stunden nach intravenöser Kontrastmittelgabe das Metformin pausiert werden, bei intraarterieller Kontarsmittelapplikation sollte dieser zeitliche Sicherheitsabstand immer eingehalten werden. Sollte sich unter der Kontrasmittelapplikation die Nierenfunktion verschlechtert haben, muss danach noch entsprechend länger pausiert werden (ESUR 2014).

Pharmakodynamische Interaktionen

Pharmakodynamische Wechselwirkungen sind meist einfacher zu bedenken, denn sie beruhen meist auf den klinisch beurteilbaren Wirkungen von Medikamenten, und nicht den verborgenen Abläufen im Metabolismus. Dennoch werden sie leicht übersehen, vor allem, wenn verschiedene Ärzte Arzneimittel verordnen und nicht alle Verordnungen der anderen Ärzte kennen. Häufig treten Blutungskomplikationen auf, weil zu einer Antikoagulation oder zu einem Thrombozytenaggregationshemmer nicht-steroidale Antirheumatika gegen Schmerzen verordnet werden. Nicht selten werden betagte Patienten mit einem „Triple Whammy“ stationär aufgenommen: die Kombination von Diuretika, ACE-Hemmern oder AT1-Blockern und einem NSAR führt über verschiedene Angriffspunkte zur Dekompensation einer Herzinsuffizienz und/oder Nierenversagen (Dreischulte et al. 2015).
Ebenso können sich anticholinerge Effekt addieren: Trizyklische Antidepressiva wie beispielsweise Amitripytlin weisen ein anticholinerges Nebenwirkungsprofil auf. Kommt urologischerseits Oxybuytin hinzu, kann es zu einer deutlichen Kognitionseinschränkung kommen.
Weitere Beispiele für anticholinerg wirkende Medikamente sind in Tab. 5 aufgeführt.
Tab. 5
Pharmakodynamische Wechselwirkungen
Arzneistoff 1
Arzneistoff 2
Klinischer Effekt
Ursache
Amitriptylin, Doxepin, Clomipramin u. a. anticholinerge Stoffe s. Tab. 3
Oxybutynin, Tolterodin
Mundtrockenheit, Sehstörung, Verwirrtheit (s. Tab. 3)
Addition anticholinerger Effekte
ASS, Clopidogrel, Ticagrelor, Prasugrel
Duloxetin, Citalopram, Fluoxetin u. a. SSRI
Additive Effekte auf die Thrombozytenfunktion
NSAR
Thrombozytenaggregationshemmer, orale Antikoagulanzien, SSRI
Gastrointestinale Blutung
Schädigung der Magenmukosa und Steigerung des Blutungsrisikos
Alpha-Blocker wie z. B. Terazosin
Hypotension, Synkope
Additive Wirkung
SNRI wie Duloxetin
SNRI/SSRI Antidepressiva wie Citalopram, Triptane (Migräne), MAO-Hemmer (Parkinson, Depression)
Serotonin-Syndrom
Additive Wirkung
Enzalutamid
Citalopram, Flecainid, Azol-Antimykotika, viele Neuroleptika, Makrolidantibiotika
QT-Verlängerung, Torsade-de-pointes Arrhythmie
Androgendeprivation kann das QT-Intervall verlängern, aditive Effekte mit QT-verlängernden Pharmaka
SSRI: Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, SNRI: Selektive Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer

Verordnungskaskaden: neue Erkrankung oder Nebenwirkung?

Häufig werden Symptome wie beispielsweise Schwindel, Vergesslichkeit und Übelkeit als neue Beschwerden diagnostiziert und nicht erkannt, dass es sich eigentlich um eine Nebenwirkung handelt. Zahlreiche urologische Symptome wie vermehrtes Wasserlassen oder Harnverhalt, Erektionsstörungen und Harnsteine können auf eine unerwünschte Arzneimittelwirkung hinweisen und sollten anamnestisch erfragt werden, bevor sie als neue Erkrankung bezeichnet und therapiert werden.
Harninkontinenz kann die Folge einer Therapie mit Diuretika, unselektiven α1-Blockern (z. B. Prazosin), trizyklischen Antidepressiva, SSRI und postmenopausaler kombinierter Hormonersatztherapie sein (Thürmann 2016). Zahlreiche Wirkstoffe können eine Harnretention verstärken oder induzieren (Tab. 6), bei den meisten wird dies durch eine anticholinerge Wirkung vermittelt.
Tab. 6
Arzneistoffe, die eine Harnretention begünstigen können (nach Thürmann 2016)
Stoffklasse
Wirkstoffe
Trizyklische Antidepressiva
Amitriptylin, Imipramin, Clomipramin, Nortriptylin
SNRI
Reboxetin
Chlorpromazin, Thioridazin, Chlorprotixen
Parkinson-Medikation
Biperiden
Opiate
Bupivacain, Lidocain bei Spinalanästhesie
α1-Rezeptor-Agonisten
Antihypotonika wie Ephedrin bzw. Rhinologika wie Xylometazolin
Antiarrhythmika
Flecainid, Disopyramid
Anticholinerge Bronchodilatatoren
Ipratroprium, Tiotroprium
Ophtalmika
Atropin-Augentropfen
Bei Verkennung des Zusammenhangs mit einer medikamentösen Therapie wird oftmals ein weiteres Medikament zur Therapie der Nebenwirkung verordnet, was eine Kaskade weiterer Nebenwirkungen und Medikamente verursachen kann.

Allgemeine Aspekte bei Multimorbidität und Polypharmazie

Ältere Menschen mit multiplen Erkrankungen erhalten meist zahlreiche unterschiedliche Wirkstoffe, die der einzelne Arzt oftmals nicht mehr überschauen kann. Es ist daher essentiell, dass sich Fachärzte und Hausärzte untereinander absprechen bzw. die fachärztliche Medikation nicht nur dem Patienten, sondern auch seinem Hausarzt mitgeteilt wird. Als hilfreiches Medium bietet sich hier ein Medikationsplan an, der möglichst ausgedruckt werden kann (Dormann et al. 2018). Dieser Medikationsplan kann für den Patienten eine Erinnerungshilfe sein, ist aber auch Bestandteil der Kommunikation zwischen den Behandlern. Wichtig ist, dass der Patient auch genau weiß, wofür oder wogegen – in Laienverständlichen Begriffen – das neue Medikament ist. Dieses Verständnis fördert auch die Adhärenz der Patienten, die bei mangelndem Verständnis oftmals sehr gering ist. Fast alle Software Systeme bieten bereits die Möglichkeit, einen Medikationsplan für Patienten zu pflegen, auszudrucken sowie elektronisch weiter zu leiten an andere Arztpraxen bzw. Krankenhäuser (Ammenwerth et al. 2014).
Einen besonderen Stellenwert hat die Medikationsanamnese und Überprüfung vor operativen Eingriffen. Hier kann eine gezielte präoperative Vorbereitung und ggf. Rücksprache mit Hausarzt und einem pharmazeutischen Medikationsmanagement unterstützend sein, da viele Medikamente nicht nur intraoperativ einen Einfluss auf die Hämodynamik aufweisen, sondern auch für ein postoperatives Delir verantwortlich sein können (Thürmann 2020).
Praxistipp
Bei den meisten Medikamenten im Alter gilt:
Start low – go slow
Biologisches Alter über 80 Jahre: halbe Dosis
Überwachung der Therapie hinsichtlich Wirksamkeit und Verträglichkeit
Bei neuen Symptomen immer die Differentialdiagnose „Nebenwirkung“ in Betracht ziehen
Zusammenfassung/Key Points
  • Hohes Lebensalter bedeutet für die Pharmakotherapie meist Polypharmazie, d. h. mehr als fünf verschiedene Wirkstoffe pro Tag. Diese ist mit einem erhöhten Risiko für Wechselwirkungen und Nebenwirkungen verbunden.
  • Wechselwirkungen können auf zwei verschiedenen Wegen entstehen:
    a)
    entweder beeinflussen sich Wirkstoffe bei ihrer Elimination, so dass einer langsamer ausgeschieden wird und somit länger und stärker wirkt oder
     
    b)
    beide Wirkstoffe greifen im selben physiologischen System an und verstärken sich bei den Nebenwirkungen
     
  • Von besonderer Bedeutung in der Altersmedizin sind Nebenwirkungen, die sich in einer Verschlechterung der Kognition oder der Zunahme des Sturzrisikos manifestieren.
  • Besonders anticholinerge Medikamente (gegen Dranginkontinenz) sind in der Urologie bei alten Patienten zu beachten.
  • Viele Symptome im Alter, wie Übelkeit, vermehrter Harndrang, Schwindel und Verwirrtheit können Nebenwirkungen sein – diese sollten als Differentialdiagnose stets in Erwägung gezogen werden.
Literatur
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