Pharmakotherapie während der Schwangerschaft
In der Regel werden Arzneimittel aus Sorge um das Kind nicht in klinischen Studien an Schwangeren getestet. Deshalb liegen aus der klinischen Prüfung keine Daten zur Sicherheit und dem teratogenen Potenzial bei Schwangeren vor. In der Praxis nehmen Schwangere trotzdem Arzneimittel ein, auch solche, deren teratogenes Potenzial noch nicht ausreichend bekannt ist. Die Dokumentation solcher Fälle verbessert die Arzneimittelsicherheit in der Zukunft. Ärzte können Fälle von Schwangeren, die Arzneimittel mit noch unklarem teratogenem Potenzial eingenommen haben, unkompliziert einem Register (z. B.
www.embryotox.de) melden.
Wenn eine Schwangerschaft
vorliegt oder geplant ist, sollte eine Pharmakotherapie nur in begründeten Indikationen erfolgen und, wenn möglich, eine Positivliste von wenigen, gut bekannten Pharmaka verwendet werden. In Tab.
1 sind Beispiele für Pharmaka genannt, die in der Schwangerschaft angewandt werden können.
Tab. 1
Ausgewählte Pharmaka, die in der Schwangerschaft eingesetzt werden können
Hyperemesis | Meclozin Doxylamin Metoclopramid |
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Hypertonus | α-Methyldopa Metoprolol |
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Dyspeptische Beschwerden | Antazida, Ranitidin, Omeprazol |
Neben einer Minimierung der Risiken für das Kind muss selbstverständlich auch eine optimale Therapie der Mutter angestrebt werden. Daraus ergeben sich in der Praxis schwierige therapeutische Überlegungen, die nicht immer zum Vermeiden oder Absetzen potenziell teratogener Arzneistoffe führen. Ein Beispiel für dieses therapeutische Dilemma ist die Behandlung einer
Epilepsie bei Schwangeren. Wenn
Valproinsäure trotz seines teratogenen Potenzials (unvollständiger Neuralrohrschluss u. a.) in einer Schwangerschaft verordnet wird, dann sollte die Dosierung möglichst gering gehalten werden und eine konsequente Folsäureprophylaxe erfolgen.
Im ersten Trimenon ist das Risiko, Anlagestörungen durch Pharmaka auszulösen, besonders hoch. Gerade in dieser Zeit ist aber eine Schwangerschaft häufig noch nicht bekannt. Wenn Pharmaka mit hohem teratogenem Potenzial (Tab.
2) bei Frauen im reproduktionsfähigen Alter verordnet werden, muss daher zunächst eine Schwangerschaft anamnestisch oder durch einen Test ausgeschlossen werden.
Tab. 2
Teratogener Effekte und praktische Konsequenzen für die Anwendung ausgewählter Pharmaka in der Schwangerschaft
ACE-Inhibitoren | | Kontraindiziert |
Alkohol | Fehlbildungen im Gesicht, Wachstumsverzögerung, geistige Behinderung | Abstinenz |
| Maskulinisierung weiblicher Genitalien | Kontraindiziert |
| Neuralrohrdefekt, faziale Fehlbildung | Strenge Indikation, Monotherapie |
Isotretinoin | ZNS-Anomalien (Fehlbildung des N. opticus), Fehlbildung von Gesicht und Schädel, Herz-Kreislauf-System und Thymus | Kontraindiziert; Beratung zur Empfängnisverhütung durch Gynäkologen, mindestens eine Methode bis ein Monat nach Ende der Therapie |
| Ebstein Anomalie der Trikuspidalklappe (selten) | Strenge Indikation, möglichst niedrige Dosierung mit mehreren Tagesdosen |
| Abort, Wachstumsverzögerung, kraniofaziale Fehlbildung | Kontraindiziert |
| | Strenge Indikation, Monotherapie |
Tetrazykline | Gelbverfärbung der Zähne, Schmelzhypoplasie, Wachstumshemmung der langen Röhrenknochen | Vermeiden nach 16. SSW |
Thalidomid | Phokomelie | Kontraindiziert; Schwangerschaftpräventionsprogramm mit Kontrazeptiva und regelmäßigen Schwangerschaftstests |
| Neuralrohrdefekt, faziale Fehlbildung | Umsetzen, wenn aus mütterlicher Indikation möglich; ansonsten niedrige Dosen und konsequente Folsäureprophylaxe |
Vitamin-K-Antagonisten | Nasale Hypoplasie, Extremitätenhypoplasie, punktförmige Kalzifizierung der Epiphysen, Opticusatrophie | Niedermolekulares Heparin, wenn aus mütterlicher Indikation möglich; Ultraschallkontrolle |
Pharmakotherapie älterer Menschen
Die Probleme einer Pharmakotherapie älterer Menschen wurden deutlich in der Berliner Altersstudie BASE, einer multidisziplinären Untersuchung von Menschen im Alter von 70 bis über 100 Jahren, bei der die teilnehmenden Personen auch zu ihrer geistigen und körperlichen Gesundheit befragt wurden (Lindenberger et al.
2010). Bei fast allen Untersuchten fand man mindestens eine Krankheit, bei 30 % sogar fünf und mehr mittel- bis schwergradige chronische Erkrankungen. Diese Multimorbidität führte in aller Regel zu einer gleichzeitigen Behandlung mit mehreren Arzneimitteln und damit zur Zunahme sowohl von unerwünschten Arzneimittelwirkungen als auch von -interaktionen. Die Auswirkung dieser Polypharmazie wurde häufig verstärkt durch die Selbstmedikation mit freiverkäuflichen Arzneimitteln (Laxanzien,
nichtsteroidale Antiphlogistika, Johanniskraut- und Ginkgopräparate). Auch außerhalb von Studien ist die Polymedikation die Regel. Daher ist fast jeder Patient, der älter als 70 Jahre ist, im Hinblick auf die Pharmakotherapie ein Risikopatient.
Nicht alle im Alter auftretenden Beschwerden müssen medikamentös behandelt werden. Zu den Zielen der geriatrischen Pharmakotherapie gehört die gerichtete Behandlung von Beschwerden mit einer möglichst geringen Anzahl von Pharmaka, um die unerwünschten Auswirkungen einer Polypragmasie so gering wie möglich und das Nutzen-Risiko-Verhältnis so optimal wie möglich zu halten. Allen medikamentösen Therapien vorangestellt sind Allgemeinmaßnahmen, die die geistige und körperliche Aktivität des geriatrischen Patienten fördern. Die Vermeidung des übermäßigen Genusses von Alkohol, Tabak und anderen „Genussgiften“ sollte ebenso wie die richtige Ernährung in Verbindung mit ausreichender Flüssigkeitszufuhr im Vordergrund stehen.
Pharmakodynamische Besonderheiten
Die Ursachen der veränderten
Pharmakodynamik ausgewählter Arzneimittel liegen in der Regel in den Alters- und Alterungsprozessen begründet (Tab.
3). Die Menge von zytosolischen oder membranständigen Rezeptoren wird hoch oder herunter reguliert, wodurch sich eine verstärkte oder verminderte Ansprechbarkeit auf das an den Rezeptor bindende Pharmakon erklären lässt. Bei der Herz-Kreislauf-Regulation ist mit einem verminderten Ansprechen des Baroreflexes zu rechnen. Hinzu kommt, dass im vaskulären System die Intima verdickt. Im ZNS degenerieren bestimmte Neurone, während andere wiederum erhalten bleiben.
Tab. 3
Änderungen der Pharmakodynamik bei älteren Menschen
Aminoglykosidantibiotika | Verstärkung der Oto- und Neurotoxizität |
| Erwünschte und unerwünschte Wirkungen beider Arzneimittelgruppen sind verstärkt, verstärkte vagale und kardiotoxische Wirkungen, EPS-Störungen |
Arzneimittel mit zentralen muskarinrezeptor-antagonistischen Wirkungen (u. a. Spasmolytika, Antiparkinsonmittel, Antipsychotika, Antihistaminika, trizyklische Antidepressiva) | Verstärktes Ansprechen, gehäuftes Auftreten von anticholinergen Wirkungen |
Digitalisglykoside | Verstärkung der erwünschten und unerwünschten Herzglykosidwirkungen |
| Dehydratation, Thrombosegefahr, Hypokaliämie, verminderte Glucosetoleranz, Hypotension |
Phenprocoumon | Stärkere Antikoagulation |
Vasodilatoren | Hypotension, Orthostase, geringe Reflextachykardie (verstärkt durch reduziertes Plasmavolumen und eine im Alter geringere Reninaktivität) |
Zentral dämpfende Pharmaka | Verstärktes Ansprechen, gelegentlich auch paradoxe Wirkungen (z. B. Erregungszustände nach Gabe von Hypnotika; schlafanregende Wirkung nach Koffeingenuss) |
Pharmakokinetische Besonderheiten
Pharmakokinetische Besonderheiten bei älteren Menschen sind nur teilweise durch die veränderte Physiologie des älteren Menschen bedingt. Daneben werden Resorption, Verteilung, Metabolismus und Elimination bei älteren Menschen auch durch Begleiterkrankungen und Genussmittel bestimmt. Klinische relevante Änderungen in der
Pharmakokinetik finden sich vornehmlich aufgrund der verminderten renalen Clearance vieler Arzneistoffe. Abschn.
2.4 gibt hierzu detailliert Auskunft. Tab.
4 fasst die pharmakokinetischen altersbedingten physiologischen Veränderungen und ihre klinischen Konsequenzen zusammen.
Tab. 4
Altersbedingte Änderungen der Pharmakokinetik bei älteren Menschen. (Nach Lemmer und Brune
2010; Jaehde et al.
2008)
Resorption
| ↓ Magensäuresekretion ↓ Gastrointestinale Durchblutung ↓ Magenentleerungsgeschwindigkeit ↓ Gewebedurchblutung | Resorptionsstörungen sind eher selten zu erwarten: ↑ Konzentration säurelabiler Arzneistoffe ↓ Resorption schwacher Säuren ↓ Resorptionsgeschwindigkeit aus dem GIT ↓ Resorptionsgeschwindigkeit und damit verbunden verzögerter Wirkeintritt bei Arzneimittel, die s.c. oder i.m. verabreicht wurden |
Verteilung
| ↓ Herzleistung ↓ Organdurchblutung ↓ Körperwasser ↑ Körperfett | ↓ Verteilungsvolumen von Arzneistoffen, die sich überwiegend im Extrazellulärraum verteilen ↑ Verteilungsvolumen von lipophilen Arzneistoffen |
Proteinbindung
| ↑ α1-saures Glykoprotein | ↑ Freier Anteil stark an Albumin gebundener Arzneistoffe ↓ Freier Anteil stark α1-saures Glykoprotein gebundener Arzneistoffe |
Hepatische Metabolisierung
| ↓ Lebermasse ↓ Leberdurchblutung gelegentlich (bei multimorbiden Patienten häufiger) | ↓ Hepatische Clearance |
Renale Ausscheidung
| ↓ Nierenmasse ↓ Renaler Blutfluss ↓ Tubuläre Sekretion | ↓ Renale Clearance ↑ Halbwertszeit |
Potenziell inadäquate Medikationen
Einige Pharmaka gelten bei betagten und hochbetagten Patienten als potenziell inadäquate Medikation (PIM), da deren Anwendung ein erhöhtes Risiko für unerwünschte Arzneimittelwirkungen mit sich bringt. Besonders Arzneimittel, die im Alter zu akuter
Verwirrtheit, Hypotension in unterschiedlicher Ausprägung (u. a. orthostatische Dysregulation,
Synkopen,
Schwindel) führen oder das Sturzrisiko erhöhen können, sollten nur mit besonderer Vorsicht oder am besten gar nicht eingesetzt werden. Der Forscherverbund Priscus „prerequisites for a new health care model for elderly people with multi-morbidity“ veröffentlichte eine Liste von 83 Arzneistoffe aus 18 Arzneistoffklassen, die sich für ältere Patienten nicht oder nur bedingt eignen (
http://priscus.net/download/PRISCUS-Liste_PRISCUS-TP3_2011.pdf). Diese Liste gibt Gründe an, warum Pharmaka als PIM eingestuft wurden, und nennt Therapiealternativen oder Maßnahmen, falls Arzneimittel trotzdem verwendet werden sollen (zu vermeidende Komorbiditäten, Monitoring-Parameter oder Dosisanpassungen). Eine Kurzform der Liste wurde 2010 im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht (Holt et al.
2010)
Pharmakotherapie bei Kindern
Kinder gelten noch immer als „therapeutic orphans“, da die wenigsten Arzneimittel an Kindern geprüft und zugelassen sind. In Deutschland und Europa gab es bis 2007 keine gesetzliche Verpflichtung, Arzneimittel für die Marktzulassung an Kindern zu testen. Die pharmazeutische Industrie verzichtete aus unterschiedlichen Gründen auf pädiatrische Prüfstudien. Diese sind mit einem hohen Aufwand verbunden, in aller Regel kostenintensiv und im Hinblick auf das zu behandelnde eher kleine pädiatrische Patientenkollektiv (im Vergleich zu den wesentlich größeren Erwachsenenkollektiven) weniger lukrativ. Darüber hinaus galten pädiatrische Studien auch lange Zeit als „unethisch“. Entsprechend besitzt die Mehrzahl aller Arzneimittel, die in der Pädiatrie verwendet werden, keine Zulassung bei Kindern und werden „off label“, d. h. außerhalb der genehmigten Indikationen, eingesetzt. Nur 20 % der zugelassenen Arzneimittel sind an Kindern untersucht und mit einer pädiatrischen Indikation versehen. Dementsprechend liegen nur hier verlässliche Daten zu Wirksamkeit, Unbedenklichkeit und
Pharmakokinetik im Kindesalter vor.
Die Verordnung Nr. 1901/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Kinderarzneimittel besagt, dass bei Antrag auf Zulassung für neue Arzneimittel für Krankheiten, die auch bei Kindern und Jugendlichen vorkommen, der Antragsteller in Zukunft ein pädiatrisches Prüfkonzept („Paediatric Investigation Plans“, PIP) genehmigen lassen muss. Das Ziel ist es, die Versorgung von Kindern mit adäquat geprüften Arzneimitteln zu verbessern, den pädiatrischen off-label-Gebrauch zu minimieren und damit die Sicherheit für die behandelten Kinder deutlich zu verbessern. Dadurch werden Kinder aber auch zunehmend in klinische Prüfungen eingebunden. Durch die genaue Erfassung der Studien können zusätzlich unnötige und wiederholende Studien vermieden werden.
Die Kinetik und Dynamik von Arzneistoffen verändern sich während der kindlichen Entwicklung. Deshalb müssten entsprechende Untersuchungen für alle Altersstufen, d. h. für Frühgeborene, Neugeborene, Säuglinge und Kleinkinder, Kinder und Jugendliche, gefordert werden. Die Realität sieht aber anders aus. Arzneimittel, die bei Kindern in den entsprechenden Altersstufen nicht hinreichend in Studien geprüft worden sind, werden oftmals ohne vorherige exakte Dosisfindung empirisch eingesetzt.
Pharmakodynamische Besonderheiten
Wie beim Kollektiv der älteren Patienten liegen die Ursachen der veränderten
Pharmakodynamik ausgewählter Arzneimittel, sofern überhaupt bekannt, häufig in Entwicklungs- oder Reifungsprozessen begründet. Während die Datenlage zur
Pharmakokinetik bei Kindern sich weitaus besser darstellt, ist die spezielle Pharmakodynamik deutlich schlechter erforscht.
Einige Fälle seien hier exemplarisch dargestellt.
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Die relaxierende Wirkung von β2-Sympathomimetika auf die Bronchialmuskulatur ist nur schwach ausgeprägt oder fehlt vollständig. Möglicherweise sind β2-Adrenozeptoren oder die Proteine der intrazellulären Signalkaskade nur in geringem Maße exprimiert.
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Das Immunsystem des Säuglings ist noch nicht vollständig entwickelt. Im Falle von bakteriellen Infekten müssen
Antibiotika früh und hochdosiert verabreicht werden.
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Die Hemmwirkung von Warfarin auf die Blutgerinnung ist bei Kindern stärker ausgeprägt, als es bei Erwachsenen der Fall ist.
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Steroide beeinträchtigen bereits in niedriger Dosierung das Längenwachstum. Sogar Kinder, die mit inhalativen
Glukokortikoiden behandelt wurden, zeigen später ein vermindertes Längenwachstum.
Pharmakokinetische Besonderheiten
Elimination
Parallel zur Leberfunktion nimmt die Nierenfunktion einen wesentlichen Einfluss auf die Elimination von Pharmaka. Nach der Geburt erhöht sich die renale Durchblutung, und die
glomeruläre Filtrationsrate steigt bis zum Lebensalter von 8–12 Monaten stetig an. Ist die tubuläre Sekretionsrate nach der Geburt ebenfalls noch sehr gering, entwickelt sich auch diese innerhalb der ersten 12 Monate.
Die klinische Bedeutung dieses Phänomens zeigt sich am Beispiel des Antibiotikums
Tobramycin, das wie andere Aminoglykoside unverändert in aktiver Form überwiegend renal durch glomeruläre Filtration ausgeschieden wird. Tobramycin wird bei Neugeborenen im Vergleich zu Frühgeborenen hochfrequenter appliziert. So nennt z. B. die Fachinformation für Tobramycin Injektionslösung (40 mg/ml) für Säuglinge nach dem ersten Lebensmonat eine Dosierung von 1,5–2,5 mg Tobramycin/kg alle 8 h, während bei Neugeborenen aufgrund der längeren
Halbwertszeit das Dosisintervall bei einer Einzeldosis von 2,5 mg Tobramycin/kg auf 12 h verlängert werden soll.
Pharmakotherapie bei Niereninsuffizienz
Niereninsuffizienz ist eine der häufigsten Ursachen für die Fehldosierung von Arzneimitteln. Um die Fähigkeit der Niere, Pharmaka zu eliminieren, abzuschätzen, wird die
Kreatinin-Clearance herangezogen (Norm 100 ml/min). Wenn man nur die Kreatininkonzentration im Blut berücksichtigt, besteht die Gefahr, eine partielle Niereninsuffizienz zu übersehen. Bei geringer Muskelmasse älterer Menschen kann die Kreatininkonzentration noch im Normbereich liegen, auch wenn die Kreatinin-Clearance schon pathologisch ist. Diesen Faktoren kann Rechnung getragen werden durch verschiedene Schätzformeln, z. B. die Formel nach Cockcroft und Gault oder der MDRD-Studie. Die geschätzte Kreatinin-Clearance wird in der Regel bereits auf dem Laborbefund angegeben. Besonders wichtig ist eine Dosisanpassung, wenn die Kreatinin-Clearance unter 50 ml/min liegt.
Mit der
Kreatinin-Clearance kann leicht die erforderliche Dosisanpassung berechnet werden. Dazu muss man für das Pharmakon wissen, welcher Anteil extrarenal eliminiert wird. Dieser Wert Q
0 kann verschiedenen Tabellen entnommen werden (z. B. Tabelle AII-1 in Goodman & Gilman’s, The pharmacological basis of therapeutics, 12. Auflage, 2011;
www.dosing.de) (die Bestimmung des renal eliminierten Anteils 1-Q
0 geschieht dadurch, dass die im
Urin ausgeschiedene Menge durch die verabreichte Dosis dividiert wird). Die Anpassung der Dosierung an die Nierenfunktion ist besonders wichtig, wenn der extrarenal eliminierte Anteil Q
0 unter 0,5 liegt. Wie oben schon erwähnt, ist die Gesamtkörper-Clearance die Summe aus extrarenaler und renaler Clearance. Der extrarenal eliminierte Anteil Q
0 bleibt bei
Niereninsuffizienz unverändert, der renal eliminierte Anteil (1-Q
0) wird im gleichen Ausmaß wie die Kreatinin-Clearance vermindert. Die normale Kreatinin-Clearance beträgt 100 ml/min. Eine Kreatinin-Clearance von 50 ml/min bedeutet daher, dass die renale Elimination eines Pharmakons auf die Hälfte abfällt. Damit kann man die erforderliche Dosisanpassung leicht berechnen. Die normale Dosis pro Zeit muss mit folgendem Faktor (Q) multipliziert werden (Dettli-Formel), der einen renalen und extrarenalen Anteil berücksichtigt
$$ {Q}_0=\left(1-{Q}_0\right) \times Kreatinin- Clearance\ \left[ ml/ min\right]/100\ \left[ ml/ min\right] + {Q}_0 $$
Beispiel: Amoxicillin hat einen Q
0-Wert von 0,1 und wird damit zu 90 % renal eliminiert. Bei einer Kreatinin-Clearance von 50 ml/min muss eine übliche Dosis von 2.000 mg/d mit dem folgenden Faktor multipliziert werden
$$ \left(1\hbox{--} 0,1\right) \times 50\ ml/ min/100\ ml/ min + 0,1 = 0,55 $$
d. h. es werden nur 1.100 mg/d verabreicht.
Als nächstes stellt sich die Frage, ob das Dosierungsintervall oder die Einzeldosis verändert werden soll. Das Dosierungsintervall kann flexibler angepasst werden als die Einzeldosis. Verlängert man das Dosierungsintervall, werden die Plasmaspiegel stärker schwanken als bei einer Erniedrigung der Einzeldosis. Variable Plasmaspiegel beeinträchtigen die konzentrationsabhängige Wirksamkeit der Aminoglykosidantibiotika weniger als die zeitabhängige Wirksamkeit der β-Lactamantibiotika. Andererseits ist die therapeutische Breite der β-Lactamantibiotika größer als die der Aminoglykoside.
Eine andere Auswirkung einer erniedrigten Gesamt-Clearance bei
Niereninsuffizienz muss in Notfallsituationen berücksichtigt werden, wenn Pharmaka schnell wirken müssen. Es kommt nämlich durch die geringere Clearance zu einer verlängerten
Halbwertszeit T
1/2. Dadurch verzögert sich nicht nur die Elimination, sondern es dauert bei konstanter Dosierung auch länger, bis sich ein Steady State eingestellt hat (s. Abschn.
1 – Halbwertszeit) und therapeutische Plasmaspiegel erreicht werden. Dieses Problem kann durch eine schnellere Aufdosierung umgangen werden. Nach der Halbierungsregel von Kunin wäre zunächst die normale Startdosis von Nierengesunden zu verwenden. Danach wird nach jeder Halbwertszeit die Hälfte der Startdosis verabreicht. Für die Anwendung dieser Regel muss die Halbwertszeit für die vorliegende
Kreatinin-Clearance berechnet werden, indem man die Halbwertszeit eines Nierengesunden durch den obigen Faktor Q dividiert. Im Fall von Amoxicillin verlängert sich die Halbwertszeit bei einer Kreatinin-Clearance von 50 ml/min (s. o.) von 1,2 h auf 1,2/0,55 h = 2,2 h.
Wenn möglich, wird man bei
Niereninsuffizienz Pharmaka anwenden, die nicht wesentlich durch die Niere eliminiert werden. Tab.
5 gibt einen Überblick über Pharmaka, die überwiegend renal oder extrarenal eliminiert werden.
Tab. 5
Pharmaka, die renal oder extrarenal eliminiert werden. (Nach Hartmann et al.
2010)
| | Fentanyl, Levomethadon |
| Ciprofloxacin, Levofloxacin | Moxifloxacin |
Antidiabetika | Glibenclamid, Glimepirid, Nateglinid, Sitagliptin | Gliquidon, Gliclacid, Pioglitazon |
| | |
Antikonvulsiva | | |
Gicht- und Rheumamittel | | Colchicin, Hydroxychloroquin, Leflunomid |
Lipidsenker | Bezafibrat, Fenofibrat | |
| | Amitriptylin, Citalopram, Haloperidol, Risperidon |
Virustatika | Aciclovir | Brivudin |
Pharmakotherapie bei Leberinsuffizienz
Die Pharmakotherapie bei Leberinsuffizienz
ist dadurch erschwert, dass es keinen der
Kreatinin-Clearance vergleichbaren Parameter gibt, der eine Voraussage der hepatischen Elimination erlaubt. Eine
Leberzirrhose kann durch folgende Faktoren die Elimination von Pharmaka verändern:
-
verminderte Fähigkeit zum Arzneimittelmetabolismus durch Abnahme z. B. von CYP1A1, CYP2E1 und CYP3A4
-
portokavaler Shunt
-
Abnahme der Proteinbindung infolge einer Hypalbuminämie
-
verminderte renale Elimination durch ein hepatorenales Syndrom
Die hepatische Extraktionrate ist die Differenz der Arzneistoffkonzentration im Zu- und Abfluss der Leber relativ zur Ausgangskonzentration. Durch einen portokavalen Shunt verändert sich besonders die Kinetik von Pharmaka, die eine hohe hepatische Extraktionrate aufweisen. Diese Substanzen unterliegen in der Regel einem hohen
First-pass-Effekt. Eine geringe Abnahme der hepatischen
Extraktion (z. B. von 95 % auf 90 %) kann zu großen Veränderungen in der
Bioverfügbarkeit führen (von 5 % auf 10 % bei vollständiger Resorption). Beispiele für Pharmaka mit hoher hepatischer Extraktionsrate sind Propranolol, Glyceroltrinitrat, Morphin,
Pethidin,
Pentazocin, Nifedipin, Nitrendipin, Verapamil, Losartan, Omeprazol oder
Tacrolimus (s. Abschn.
1.2).
Vorsicht ist auch geboten, weil bei Patienten mit
Leberzirrhose UAWs vermehrt auftreten können:
Wenn möglich, werden Pharmaka eingesetzt, deren Kinetik bei
Leberzirrhose nicht verändert ist oder deren Spiegel gemessen werden können. Beim therapeutischen Drug-Monitoring muss man die möglicherweise reduzierte Proteinbindung berücksichtigen.