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Pädiatrie
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Publiziert am: 16.06.2020

Neugeborenenscreening

Verfasst von: René Santer, Alfried Kohlschütter und Annerose Keilmann
In Deutschland sind nach den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses von Ärzte- und Krankenkassenvertretern (G-BA) derzeit die aufgeführten Zielkrankheiten für ein allgemeines labordiagnostisches Screening empfohlen. Wie auch für andere Screeningaktivitäten (das Hörscreening, das Ultraschallscreening auf angeborene Hüftdysplasien oder das Hypoxiescreening auf angeborene zyanotische Herzvitien) ist der Grundgedanke, dass das neonatale Erkennen von Krankheiten dem Kind einen Benefit verschafft, der in vernünftigem Verhältnis zur Summe aller Nachteile der Maßnahme (finanzielle Kosten, Nebenwirkungen der Diagnostik, negative Effekte falsch-positiver Ergebnisse u. a. m.) steht. Für die WHO wurden durch Wilson und Jungner 1968 erstmals Kriterien für solche Screeningprogramme formuliert und seitdem mehrfach modifiziert.

Früherkennung von angeborenen Stoffwechseldefekten, endokrinen Störungen und Immundefekten bei Neugeborenen

In Deutschland sind nach Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses von Ärzte- und Krankenkassenvertretern (G-BA) derzeit die in Tab. 1 aufgeführten Zielkrankheiten für ein allgemeines labordiagnostisches Screening empfohlen.
Tab. 1
Durch das Neugeborenenscreening in Deutschland erfasste Krankheiten
Krankheit
Pathophysiologie
Häufigkeit
Therapie
Kapitelverweis
(Primäre) Hypothyreose
Unterfunktion der Schilddrüse führt zu Störungen der körperlichen und geistigen Entwicklung
1:2.800
Thyreoidea-stimulierendes Hormon (TSH)
(immunologisch)
Einnahme von Schilddrüsenhormon
Kap. „Krankheiten der Schilddrüse bei Kindern und Jugendlichen“
Hormonstörung der Nebennierenrinde mit verminderter Kortisolsynthese (→ krisenhafte Entgleisung) und vermehrter Androgenproduktion (→ intersexuelles Genitale bei Mädchen)
1:16.300
(immunologisch)
Einnahme von Kortisol
Kap. „Störungen der Nebennierenfunktion bei Kindern und Jugendlichen“
Biotinidasemangel
Mangel an freiem Biotin (Koenzym von Carboxylasen) führt zu Hautveränderungen, Stoffwechselkrisen, geistiger Behinderung
1:39.000
(enzymatisch)
Einnahme von Biotin
Kap. „Organoazidurien“
Galaktose aus Nahrung kann nicht in Glukose überführt werden. Akkumulierende Intermediärprodukte führen zu Linsentrübung, geistiger Behinderung, Leberversagen und frühem Tod
1:130.000
Gal-1-P-Uridyltransferase
(enzymatisch)
Galaktosereduzierte Diät
Kap. „Genetische Defekte des Monosaccharidstoffwechsels“
Gestörter Abbau der Aminosäure Phenylalanin führt zur Akkumulation und fortschreitender geistiger Behinderung
1:5.000
Phenylalanin (TMSa)
Phenylalaninreduzierte Diät
Kap. „Aminoazidopathien“
Tyrosinämie
Gestörter Abbau der Aminosäure Tyrosin führt zur Akkumulation von Succinylaceton und akuten oder chronischen Leber- und Nierenproblemen
1:135.000
Succinylaceton (TMSa)
NTBC-Therapie, Phenylalanin- und Tyrosinreduzierte Diät
Kap. „Aminoazidopathien“
Ahornsirup-Krankheit
Gestörter Abbau der verzweigtkettigen Aminosäuren führt zur Akkumulation von Metaboliten und zur Hirnschädigung
1:130.000
Xleb, Val (TMS)
Vermeidung von Katabolie, eiweißreduzierte Diät, (LTx?c)
Kap. „Aminoazidopathien“
MCAD-Mangel
Störung im Abbau mittelkettiger Fettsäuren führt bei Katabolie zu Krisen mit Unterzuckerung, Hepatopathie, Koma und plötzlichem Tod
1:10.000
Mittelkettige Acylcarnitine (TMS)
Vermeidung von Katabolie
Kap. „Genetische Defekte der Fettsäurenoxidation und des Ketonstoffwechsels“
VLCAD-Mangel und LCHAD-Mangel
Störungen im Abbau langkettiger Fettsäuren führen bei Katabolie zu Krisen mit Unterzuckerung, Koma und plötzlichem Tod, Rhabdomyolyse, Kardiomyopathie. Retino- und Neuropathie (nur LCHAD)
1:71.000 bzw. 1:71.000
Langkettige (Hydroxy)acylcarnitine (TMS)
Vermeidung von Katabolie, Diät mit mittelkettigen Fettsäuren
Kap. „Genetische Defekte der Fettsäurenoxidation und des Ketonstoffwechsels“
Carnitinstoffwechseldefekte (CPT1-, CPT2-, CAT-Mangel)
Störungen im mitochondrialen Transport langkettiger Fettsäuren führen bei Katabolie zu Krisen mit Unterzuckerung, Koma und plötzlichem Tod
Sehr selten
Typisches Acylcarnitin-Muster (TMS)
Vermeidung von Katabolie, Diät mit mittelkettigen Fettsäuren
Kap. „Genetische Defekte der Fettsäurenoxidation und des Ketonstoffwechsels“
Störung im Abbau der Aminosäuren Lysin und Tryptophan mit Akkumulation von Intermediärprodukten bei Katabolie und krisenhafter Basalganglienschädigung und bleibender Bewegungsstörung
1:150.000
Glutarylcarnitin (TMS)
Vermeidung von Katabolie, lysin- und tryptophanreduzierte Diät, Carnitin
Kap. „Organoazidurien“
Isovalerianazidurie
Gestörter Abbau von Leucin führt zur Akkumulation von Metaboliten und zur Hirnschädigung
1:150.000
Isovalerylcarnitin (TMS)
Vermeidung von Katabolie, leucinreduzierte Diät
Kap. „Organoazidurien“
Defekt eines Chlorid-Kanals führt zu zähem Schleim in Körpersekreten und Schädigung von Pankreas, Lunge, u.a.
1:3.300
IRTd, PAPe (immunologisch), Genetik
Substitution von Pankreasenzymen, Mukolyse, Physiotherapie
Kap. „Zystische Fibrose“
Schwere angeborene Immundefizienz (SCID)
Vollständiges Fehlen der Immunabwehr
1:50.000
TRECf (qPCRg)
allogene Knochenmark- oder Stammzelltransplantation
Kap. „Angeborene Immundefekte“
aTMS Tandemmassenspektrometrie
bXle Summe der Konzentrationen von Leucin, Isoleucin, allo-Isoleucin und Hydroxyprolin
cLTx? Option der Lebertransplantation
dIRT Immunreaktives Trypsinogen
ePAP Pankreas-assoziiertes Protein
fTREC T-cell excision circles
gqPCR quantitative Polymerase-Kettenreaktion
MCAD Medium-chain-Acyl-CoA-Dehydrogenase, VLCAD Very-long-chain-Acyl-CoA-Dehydrogenase, LCHAD Long-chain-3-Hydroxy-Acyl-CoA-Dehydrogenase, CPT Carnitin-Palmitoyl-Transferase, CAT Carnitin-Acylcarnitin-Translokase, GA Glutarazidurie, SCID Severe combined immune deficiency
Wie auch für andere Screeningaktivitäten (das Hörscreening, das Ultraschallscreening auf angeborene Hüftdysplasien oder das Hypoxiescreening auf angeborene zyanotische Herzvitien) ist der Grundgedanke, dass das neonatale Erkennen von Krankheiten dem Kind einen Benefit verschafft, der in vernünftigem Verhältnis zur Summe aller Nachteile der Maßnahme (finanzielle Kosten, Nebenwirkungen der Diagnostik, negative Effekte falsch-positiver Ergebnisse u. a. m.) steht. Für die WHO wurden durch Wilson und Jungner (1968) erstmals Kriterien für solche Screeningprogramme formuliert und seitdem mehrfach modifiziert.
Das Neugeborenenscreening wird mit speziellen Testmethoden durchgeführt, die auf eine Massenanwendung, niedrige Kosten und hohe Sensitivität ausgerichtet sind. Noch heute wird gerne vom sog. Guthrie-Test gesprochen, ursprünglich die Bezeichnung für einen bakteriologischen Test zur semiquantitativen Bestimmung von Metaboliten im Blut. Obwohl diese Methode in der Praxis heute keine Rolle mehr spielt, beruht die fortgesetzte Benutzung dieses Begriffs auf der Tatsache, dass es auch Robert Guthrie war, der mit seinen ersten Bemühungen um ein Phenylketonuriescreening die Verwendung von Trockenblutkarten einführte, die bis heute benutzt werden. Für die eigentliche Laboruntersuchung kommen heute enzymatische oder immunologische Einzeltests zur Anwendung. Zusätzlich wird seit etwa 15 Jahren das sog. erweiterte Neugeborenenscreening durch Tandemmassenspektrometrie flächendeckend eingesetzt, das in einem Untersuchungsgang die Konzentrationsbestimmung zahlreicher (>60) Metabolite erlaubt. Mit diesem Verfahren, aber auch mit anderen neuen, z. B. molekulargenetischen Methoden ist es möglich, eine große Zahl von Krankheiten durch Screening zu erfassen. Die Einschätzung, inwieweit geforderte Screeningkriterien für einzelne Krankheiten erfüllt sind, unterscheidet sich aber von Staat zu Staat, sodass die praktische Umsetzung weltweit, aber auch in wirtschaftlich vergleichbaren Ländern innerhalb Europas, noch sehr unterschiedlich ist. Die das Screening betreffenden Gesichtspunkte des aktuellen deutschen Programms werden nachfolgend besprochen.

Zielkrankheiten des Neugeborenenscreenings

Konnatale Hypothyreose

Bei den primären Hypothyreosen (Kap. „Krankheiten der Schilddrüse bei Kindern und Jugendlichen“) wird reaktiv die Ausschüttung von TSH (Thyreoidea-stimulierendes Hormon) gesteigert. Die erhöhte TSH-Konzentration im Blut wird für die Erkennung der Krankheit im Neugeborenenscreening genutzt. Auf die Erfassung der sekundären und tertiären Hypothyreosen, bei denen das TSH nicht erhöht ist, wird zunehmend verzichtet. Hierzu müsste zusätzlich das freie Schilddrüsenhormon (fT4; freies Tetrajodthyronin) bestimmt werden, was in einigen Ländern auch geschieht. Der Verzicht auf die Bestimmung von T4 wird begründet mit den hohen Kosten und dem Hinweis, dass die sekundären Hypothyreosen wegen der ungestörten basalen Tätigkeit der Schilddrüse nicht zu geistigen Schäden führen.
Blutproben, die zu früh entnommen werden, können zu falsch-positiven Ergebnissen führen, da die TSH-Konzentration im Blut physiologischerweise nach der Geburt vorübergehend ansteigt. Mit einem gewissen Prozentsatz falsch-negativer Ergebnisse muss gerechnet werden. Im Zweifelsfall sollte man nicht auf ein negatives Screeningergebnis vertrauen, sondern eine Bestimmung von TSH und freien Hormonen im Plasma vornehmen. Wird der Test bei Frühgeborenen vor der 32. SSW durchgeführt, muss er nach dem Erreichen dieses Alters nochmals kontrolliert werden.
Auch bei eindeutig positivem Testergebnis muss eine quantitative Bestimmung von TSH und Schilddrüsenhormonen erfolgen, aber es muss eine orale Substitution mit L-Thyroxin unverzüglich, noch vor Eintreffen der Ergebnisse der Kontrolle, begonnen werden. Die weitere Behandlung (Kap. „Krankheiten der Schilddrüse bei Kindern und Jugendlichen“) soll in Konsultation mit einem pädiatrischen Endokrinologen erfolgen. Bei sorgfältiger Behandlung wachsen diese Kinder nicht sichtbar beeinträchtigt auf, doch ließen Langzeitstudien in Kollektiven mit angeborener Hypothyreose gewisse kognitive und neuromuskuläre Defizite gegenüber Kontrollen erkennen.

Adrenogenitales Syndrom

Mit adrenogenitalem Syndrom (AGS) bezeichnet man eine Gruppe verwandter Enzymdefekte der Nebennierenrinde, die zu einer verminderten Synthese von Kortikoiden führen (Kap. „Störungen der Nebennierenfunktion bei Kindern und Jugendlichen“). Über 95 % der Fälle beruhen auf einem Mangel an 21-Hydroxylase. Diese Form kann durch das Neugeborenenscreening erkannt werden, wodurch lebensgefährliche „Salzverlustkrisen“ mit schockartigem Bild vermieden werden können. Der Enzymdefekt führt zusätzlich zu einer Überproduktion von Androgenen, die für die bereits intrauterin beschleunigte somatische und sexuelle Reifung und für die Virilisierung weiblicher Patienten verantwortlich sind, die bis zu einer falschen Geschlechtszuordnung führen kann. Ein akkumulierender Metabolit ist 17-Hydroxy-Progesteron (17-OHP), dessen erhöhte Konzentration im Blut für den Screeningtest benutzt wird. Eine Substitutionsbehandlung mit Kortikoiden unterdrückt das abnorme Muster der Steroidhormone und vermeidet Virilisierung, Salzverlust und Minderwuchs durch vorzeitigen Epiphysenschluss.
Der Vorteil einer Erfassung durch das Neugeborenenscreening ist gut belegt. Problematisch ist die starke Abhängigkeit des Normbereichs der 17-OHP-Konzentration vom Gestationsalter. Für die Beurteilung der Ergebnisse müssen daher Gestationsalter und Geburtsgewicht des Kindes bekannt sein. Pathologisch erhöhte 17-OHP-Konzentrationen sind schon bei Geburt nachweisbar, doch können die Werte innerhalb der ersten Lebenstage auch durch Kreuzreaktion mit maternalen Schwangerschaftshormonen oder Glukokortikoiden (bei kindlichem Stress) erhöht sein. Eine Hilfe bieten hier heute zusätzliche Tests zur Differenzierung der Steroide, die bei Neugeborenen eingesetzt werden können, deren Werte über dem Cut-off-Wert liegen.
Die rasche Bearbeitung und Befundmitteilung ist beim AGS-Screening besonders wichtig, da schon in den ersten Lebenstagen eine adrenale Krise und ein Salzverlustsyndrom eintreten können. Die erfolgreiche Langzeitbehandlung verlangt die Erfahrung eines pädiatrischen Endokrinologen.

Biotinidasemangel

Der autosomal-rezessiv vererbte Mangel an Biotinidase verhindert im intermediären Stoffwechsel die Freisetzung von Biotin aus Biocytin (einer Verbindung von freiem Lysin und Biotin) und die Abspaltung proteingebundenen Biotins. Biocytin geht damit vermehrt über die Nieren verloren und Biotin steht nicht als prosthetische Gruppe verschiedener Carboxylasen zu Verfügung (Kap. „Aminoazidopathien“).
Die Biotinidaseaktivität wird im Trockenblut mit einem kolorimetrischen oder fluorimetrischen Assay bestimmt. Zur Bestätigungsdiagnostik werden diese Assays oder ein empfindlicherer radiometrischer Test im Serum oder molekulargenetische Untersuchungen durchgeführt. Die gefundenen Patienten können mit einer oralen Supplementierung von Biotin vor Schäden bewahrt werden.

Klassische Galaktosämie

Die klassische Galaktosämie beruht auf einer Störung der Verwertung von Galaktose bei Fehlen der Galaktose-1-Phosphat-Uridyltransferase (Gal-1-P-UT; Kap. „Genetische Defekte des Monosaccharidstoffwechsels“).
Für das Screening nutzbar ist das Fehlen der Gal-1-P-UT-Aktivität in Blutzellen und, falls das Neugeborene ausreichend laktosehaltige Milchnahrung erhielt, die Akkumulation von Galaktose-1-Phosphat sowie die erhöhte Konzentration von Galaktose im Blut. Es gibt benigne Varianten der klassischen Galaktosämie mit mäßig verminderter, aber nicht fehlender Enzymaktivität.
Als Screeningtest für die klassische Galaktosämie empfiehlt sich die Messung der Gal-1-P-UT-Aktivität, deren Fehlen zu jedem Zeitpunkt nach der Geburt nachweisbar ist. Hierzu müssen die Trockenblutproben wegen der Empfindlichkeit des Enzyms besonders vor Hitze und Feuchtigkeit geschützt werden. Parallel dazu können weitere Methoden verwendet werden, wie die Bestimmung von Galaktose und Galaktose-1-Phosphat. Eine deutlich erhöhte Gesamt-Galaktosekonzentration hängt von ausreichender Zufuhr laktosehaltiger Milchnahrung ab, lässt dann aber auch „nichtklassische“ Galaktosämieformen erkennen. Galaktose-1-Phosphat ist bei der klassischen Galaktosämie häufig auch ohne Laktosezufuhr erhöht. Der Befundrücklauf muss rasch erfolgen, da Neugeborene mit klassischer Galaktosämie bereits in den ersten Lebenstagen katastrophal entgleisen können. Bluttransfusionen können den Enzymtest für mehrere Wochen fälschlich normal erscheinen lassen.
Bei positivem Screeningergebnis ist die Zufuhr von laktosehaltiger Nahrung sofort zu unterbrechen und eine definitive (enzymatische oder genetische) Diagnostik zu veranlassen. Die Prognose der klassischen Galaktosämie ist bei Früherkennung und einer laktosearmen Diät im Allgemeinen gut, aber belastet durch eine oft suboptimale Entwicklung spezieller kognitiver Fähigkeiten und durch ovarielle Insuffizienz.
Nichtklassische Galaktosämien beruhen auf anderen Enzymdefekten (Galaktokinase, Uridindiphosphatgalaktose-4-Epimerase) und sind in der Regel weniger gefährlich, führen jedoch unerkannt auch zu Katarakten (Kap. „Genetische Defekte des Monosaccharidstoffwechsels“).

Phenylketonurie

Die klassische Phenylketonurie (PKU) beruht auf einem Mangel an Phenylalaninhydroxylase und führt unbehandelt zu Oligophrenie, Krämpfen, Hautausschlägen und auffälligem Körpergeruch (Kap. „Aminoazidopathien“). Der Enzymdefekt führt zu erhöhten Konzentrationen von Phenylalanin in Blut und Gehirn. Es gibt leichte, gutartige Varianten des Phenylalaninhydroxylasemangels und „atypische“ Formen der PKU, wobei letztere auf dem Mangel von Kofaktoren beruhen. Auch sie können durch erhöhtes Phenylalanin im Screening erfasst werden. Eine klinische Diagnose PKU ist in den ersten Lebensmonaten nicht möglich und erst nach Manifestation einer gestörten psychomotorischen Entwicklung zu vermuten, zu einem Zeitpunkt, an dem es für die erfolgreiche Therapie zu spät ist. Die Behandlung besteht in einer lebenslangen phenylalanin-reduzierten Diät, manche Patienten profitieren von einer Kofaktorbehandlung.
Als Screeningparameter wird der erhöhte Gehalt von Phenylalanin im Blut benutzt, der durch den postnatalen Katabolismus langsam ansteigt. Hilfreich ist auch die schon früh diagnostisch sichere Phenylalanin/Tyrosin-Ratio. Ein positives Screeningergebnis muss in Zusammenarbeit mit einem Stoffwechselzentrum rasch diagnostisch geklärt werden. Die verschiedenen Ursachen einer Hyperphenylalaninämie (Phenylalaninhydroxylasemangel unterschiedlicher Malignität, Kofaktormangel, sekundäre Störungen) sind zu differenzieren. Im Falle einer klassischen PKU sollte die Diättherapie vor Ablauf der 2. Lebenswoche einsetzen. Die sorgfältige langjährige Behandlung von PKU-Patienten, die ein körperlich und geistig normales Aufwachsen ermöglicht, erfordert die Mitbetreuung durch ein Stoffwechselzentrum.

Tyrosinämie Typ 1

Hierbei handelt es sich um eine Störung im Tyrosinstoffwechsel; der Enzymdefekt der Fumarylacetoacetat-Hydrolase führt zur Akkumulation leber- und nierentoxischer Metabolite (Kap. „Aminoazidopathien“). Leitmetabolit ist Succinylaceton, dessen Erhöhung mit Tandemmassenspektrometrie nachgewiesen werden kann. Mit der Entdeckung eines Pharmakons (Nitisinon, NTBC), das die Bildung dieses toxischen Metaboliten hemmt, war man bemüht, diese Krankheit als Zielkrankheit ins Neugeborenenscreening einzuschließen und eine Therapie vor dem Auftreten von Leberversagen und hepatozellulärem Karzinom zu beginnen. Dies ist in Deutschland seit 2018 der Fall.

Ahornsirupkrankheit

Die Abbaustörung der verzweigten Aminosäuren Leucin, Isoleucin und Valin (Kap. „Aminoazidopathien“) wird durch Bestimmung der Konzentration dieser Aminosäuren im Trockenblut erkannt. Da die Tandemmassenspektrometrie die Aminosäuren Leu, Ile, allo-Ile und Hydroxyprolin nicht differenzieren kann, wird oft die als Xle bezeichnete Summe angegeben.
Die Behandlung der Ahornsirupkrankheit besteht in einer eiweißarmen Diät. Schwere akute Fälle sind durch das Screening nicht immer vor dem Auftreten von Symptomen zu erkennen, doch ist der therapeutische Nutzen einer Früherkennung und Behandlung unzweifelhaft. Zur Bestätigung der Diagnose ist die quantitative Analyse der verzweigtkettigen Aminosäuren im Plasma und der entsprechenden organischen Säuren im Urin erforderlich, gegebenenfalls ergänzt durch enzymatische und genetische Untersuchungen. Die Behandlung erfordert die Erfahrung eines Stoffwechselzentrums.

MCAD-Mangel

Der Medium-chain-Acyl-CoA-Dehydrogenase-Mangel (MCAD-Mangel) ist eine Abbaustörung von mittelkettigen Fettsäuren (Kap. „Genetische Defekte der Fettsäurenoxidation und des Ketonstoffwechsels“). Kinder mit diesem Defekt sind vor allem dann gefährdet, wenn Fettsäuren durch Lipolyse bei länger fehlender Nahrungszufuhr (also besonders bei Infekten), massiv freigesetzt und nicht weiter zu Ketonen abgebaut werden. Durch gestörte Regulation der Glukosehomöostase und direkt toxische Effekte der akkumulierenden Metabolite kann es zu Hypoglykämie, Azidose, Hepatopathie, Enzephalopathie mit Bewusstseinsstörung und Tod kommen. Allerdings gibt es auch Patienten, die völlig beschwerdefrei bleiben. Die Erfassung im Screening erfolgt mittels Tandemmassenspektrometrie über den Nachweis erhöhter Konzentrationen mittelkettiger Acylcarnitine. Eine Konfirmationsdiagnostik muss über Metabolitennachweis, enzymatisch oder molekulargenetisch, erfolgen. Wichtig ist eine behutsame Beratung der Familie, um sowohl die Gefahren des Stoffwechseldefekts als auch einer (kalorischen) Überbehandlung und psychologischen Überprotektion zu vermeiden.

VLCAD-Mangel, LCHAD-Mangel, Stoffwechseldefekte des Carnitins (CPT-I, CPT-II, CAT)

Der Very-long-chain-Acyl-CoA-Dehydrogenase-Mangel (VLCAD-Mangel) und der Long-chain-Hydroxy-Acyl-CoA-Dehydrogenase-Mangel (LCHAD-Mangel) sind Abbaustörungen langkettiger bzw. hydroxylierter langkettiger Fettsäuren (Kap. „Genetische Defekte der Fettsäurenoxidation und des Ketonstoffwechsels“). Auch sie werden durch abnorme Acylcarnitinprofile erfasst. Wichtig für diese Fettsäureoxidationsstörungen ist zu wissen, dass die Messparameter nur in katabolen Situationen auffällig sein können.
Der neonatale Carnitin-Palmitoyltransferase-Mangel I und II (CPT-I, CPT-II) und der Carnitin-Acylcarnitintranslokase-Mangel (CAT) sind sehr seltene Störungen, die aber auch an typischen Profilen der Acylcarnitine erkennbar sind. Eine juvenile, rein muskuläre Form des Carnitinpalmitoyltransferase-Mangels II ist häufiger, sie wird aus nicht ganz verstandenen Gründen aber nicht sicher im Screening gefunden und darf bei Patienten mit belastungsabhängigen Rhabdomyolysen später nicht übersehen werden.

Glutarazidurie Typ I

Patienten mit der Glutarazidurie Typ I (GA I), einer Störung im Stoffwechsel der Aminosäuren Lysin und Tryptophan, können bei Katabolismus oder übermäßiger Eiweißzufuhr in krisenhafte Entgleisungszustände geraten, bei denen vor allem die Basalganglien des Gehirns geschädigt werden, mit der Folge irreversibler, schwerer dystoner Bewegungsstörungen. Die Erfassung der Patienten durch das Screening ist wegen der damit möglichen Vermeidung von Stoffwechselkrisen im frühen Kindesalter durch Diät und Carnitingabe sehr sinnvoll (Kap. „Organoazidurien“).

Isovalerianazidurie

Diese Aminosäurenabbaustörung hat Ähnlichkeit mit der Ahornsirupkrankheit, auch hier können sehr unterschiedliche Schweregrade beobachtet werden, und die diätetische Behandlung ist vom Prinzip her ähnlich (Kap. „Aminoazidopathien“).

Zystische Fibrose (Mukoviszidose)

Seit 2016 haben alle Neugeborenen in Deutschland Anspruch auf die Teilnahme am Neonatalscreening für zystische Fibrose (CF, Mukoviszidose), da zunehmend klar wurde, dass eine frühe Diagnose die Prognose dieser Krankheit signifikant verbessert (Kap. „Zystische Fibrose“). Für das Screening wird oft ein mehrstufiges Verfahren eingesetzt, bei dem die 1. Stufe ein sogenannter IRT-Test ist. Der IRT-Test bestimmt das immunreaktive Trypsinogen im Trockenblut. Trypsinogen ist eine in der Bauchspeicheldrüse gebildete Vorstufe eines Verdauungsenzyms, das primär in den Darm abgegeben wird. Ein kleiner Teil gelangt von der Bauchspeicheldrüse auch in die Blutbahn. Bei CF ist der Sekretfluss aus der Bauchspeicheldrüse durch den zähen Schleim gestört, es kommt zu einem Rückstau von Trypsinogen, wodurch vermehrt Trypsinogen in das Blut gelangt. Diese Erhöhung kann mit immunologischen Methoden gemessen werden. Eine weitere Möglichkeit besteht in der Bestimmung des Pankreas-assoziierten Proteins (PAP), das ebenfalls im Blut von Neugeborenen mit CF erhöht ist. Bei unklaren Fällen werden selten als 3. Schritt genetische Mutationsanalysen eingesetzt. Dies ist aber der Grund, warum das Screening auf CF eine getrennte Aufklärung erforderlich macht; hier müssen die Vorgaben des Gendiagnostik-Gesetzes (z. B. der Arztvorbehalt für die Aufklärung) erfüllt sein. Jedes auffällige Screeningergebnis muss durch einen Schweißtest bestätigt werden. Bei der niedrigen Spezifität des CF-Screenings bestätigt der Schweißtest nur in ca. 20 % positiv getesteter Kinder die Diagnose.

Schwere angeborene Immundefizienz (SCID)

Die schwere angeborene Immundefizienz ist gekennzeichnet durch ein völliges Fehlen der Immunabwehr: bereits im Säuglingsalter besteht eine hohe Infektanfälligkeit gepaart mit Infektionskomplikationen, die strenge hygienische Vorsichtsmaßnahmen erforderlich machen. So muss auf Stillen, Lebendimpfungen oder Transfusion unbehandelter Blutprodukte unbedingt verzichtet werden. Unbehandelt versterben die meisten betroffenen Kinder innerhalb der ersten 2 Lebensjahre (Kap. „Angeborene Immundefekte“).
Für die Detektion im Neugeborenenscreening sucht man mit quantitativer oder semiquantitativer Polymerase-Kettenreaktion nach T-Zell-Markern (TRECs, T cell excision circles), um betroffene Neugeborene zu erkennen, frühzeitig zu schützen und einer Therapie mit Knochenmark- oder Stammzelltransplantation oder Enzymersatztherapie zuzuführen. Diese Untersuchung ist 2019 in das deutsche Screeningprogramm eingeführt worden.

Praktische Durchführung und Ausblick

Durchführung

Die Durchführung des Neugeborenenscreenings ist in Deutschland durch die bereits oben erwähnte Kinder-Richtlinie geregelt. Sie beschreibt detailliert, wie die Aufklärung der Eltern zu erfolgen hat und wie die Untersuchung unter Einhaltung der Datenschutzbestimmungen und der Vorgaben des Gendiagnostikgesetzes durchzuführen ist.

Durchführungsverantwortung

Die Verantwortung für das Screening liegt bei der Person, die die Geburt des Kindes verantwortlich geleitet hat. Ihr obliegt es, die Probe einschließlich der für die sichere und schnelle Erreichbarkeit der Eltern wichtigen Daten an ein qualifiziertes Labor zu senden und dies zu dokumentieren. Wurde die Geburt durch eine Hebamme geleitet, so soll (in gegenseitigem Einvernehmen) ein verantwortlicher Arzt benannt werden. Ist eine Benennung ausnahmsweise nicht möglich, muss trotzdem immer eine Rückfragemöglichkeit an einen Arzt gewährleistet sein. Für das CF-Screening kann entsprechend Gendiagnostikgesetz allerdings nur ein Arzt aufklären. Jeder Arzt, der eine U2-Vorsorgeuntersuchung bei einem Neugeborenen durchführt, hat sich zu vergewissern, dass die Entnahme der Blutprobe für das erweiterte Neugeborenenscreening dokumentiert wurde. Ist dies nicht geschehen, so hat er das Screening entsprechend der Richtlinie anzubieten.
Der Laborarzt hat den Einsender über alle Befunde schriftlich zu informieren. Bei Verdacht auf das Vorliegen einer der Zielkrankheiten hat eine unverzügliche Unterrichtung stattzufinden und es ist auf eine fachkompetente Weiterbetreuung in entsprechenden Zentren zu verweisen.

Zeitpunkt der Blutentnahme

Der empfohlene Zeitpunkt ist wegen der unterschiedlichen optimalen Bedingungen bei den unterschiedlichen Krankheiten ein Kompromiss. Die gegenwärtigen Empfehlungen lauten:
  • Blutentnahme optimalerweise zwischen der 48. und 72. Lebensstunde. Die Blutprobe soll nicht vor der 36. und nicht nach der 72. Lebensstunde entnommen werden. Versäumte Entnahmen müssen rasch nachgeholt werden.
  • Bei Entlassung aus der Geburtsklinik vor der 36. Lebensstunde oder Verlegung soll sicherheitshalber trotzdem eine 1. Probe entnommen werden. Eine Blutentnahme vor der 36. Lebensstunde erhöht das Risiko von falsch-negativen und falsch-positiven Befunden. Bei Entlassung vor der 36. Lebensstunde müssen die Eltern daher über die Notwendigkeit einer 2. Laboruntersuchung im optimalen Zeitfenster informiert werden.
  • Eine erste Probenentnahme soll vor einer Transfusion, Kortikosteroid- oder Dopamintherapie durchgeführt werden.
  • Bei sehr unreifen Neugeborenen (Geburt vor der 32. SSW) muss ein 2. Screening in einem korrigierten Alter von 32 SSW erfolgen. (Dies entspricht häufig dem Termin der Verlegung von einer Intensivstation).
Bei jedem Zweifel an der ordnungsgemäßen Durchführung der Screeninguntersuchung sollte diese sicherheitshalber wiederholt werden. Grundsätzlich muss eine im Screening gestellte Verdachtsdiagnose durch zusätzliche Untersuchungen (Konfirmationsdiagnostik) bestätigt werden.

Blutgewinnung und Probenversand

Üblicherweise wird Kapillarblut aus der Ferse gewonnen und auf den markierten Filterpapierteil der Guthrie-Karte aufgebracht (Abb. 1), Venenblut (aber kein Nabelschnurblut !) kann ebenfalls verwendet werden. Die Testkarte muss klare Angaben enthalten zur Identifizierung des Kindes, Datum und Uhrzeit der Geburt, Datum und Uhrzeit der Blutentnahme, Adresse und Telefonnummer der Mutter und des Einsenders, Angaben über Ernährungsstörungen (z. B. fehlende Zufuhr von Milch), Gestationsalter und Geburtsgewicht.

Ausblick

Das hier beschriebene und in Deutschland flächendeckend durchgeführte Vorgehen beim Neugeborenenscreening befindet sich in kontinuierlicher Weiterentwicklung. So wird das Screening auf einige Organazidurien (Methylmalonazidurie, Propionazidurie) wegen der geringen Spezifität des Messparameters seit einigen Jahren nicht mehr empfohlen.
Aus solchen Gründen ist man bemüht, die Qualität von Bestimmungen zu verbessern: so werden, um die Spezifität der Tests zu erhöhen und die Zahl falsch-positiver Tests zu minimieren, zunehmend auch mehrstufige Tests eingesetzt. Hierzu gehören die Multisteroidanalyse aus Trockenblutproben bei hohen 17-OHP-Konzentrationen im AGS-Screening oder das mehrstufige CF-Screening, aber auch chromatografische Methoden zur Trennung von Metaboliten, die mit Tandemmassenspektrometrie nicht getrennt werden (z. B. pivalylsäurehaltige Antibiotika und Isovalerylcarnitin). Diese sog. Second-tier-Teste können zu besserer Akzeptanz und Ausweitung des Untersuchungsspektrums führen.
Insgesamt steigt mit besseren Therapiemöglichkeiten angeborener Krankheiten auch die Nachfrage nach früheren Diagnosemöglichkeiten. Dies wurde für die Tyrosinämie Typ I oben erwähnt, und die Aufnahme neuer Krankheiten in das Screeningprogramm wird fortlaufend diskutiert. Ob es Sinn macht, auf Krankheiten zu screenen, die in anderen Regionen der Welt fest zum Programm gehören (z. B. Homozystinurie, Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenase-Mangel), muss immer wieder neu abgewogen werden. In Deutschland ist in nächster Zeit mit der Einführung des Neugeborenenscreenings auf Sichelzellanämie zu rechnen, dessen Wirksamkeitsbilanz positiv bewertet wurde.
Ähnliche Überlegungen gibt es auch für eine Vielzahl weiterer seltener Krankheiten, für die neue medikamentöse Therapiemöglichkeiten entwickelt wurden (z. B. spinale Muskelatrophie, cerebrotendinöse Xanthomatose, neuronale Zeroidlipofuszinose Typ 2). Dies gilt auch für einige lysosomale Krankheiten, bei denen sich die Hoffnungen auf einen Erfolg der seit einiger Zeit verfügbaren Enzymersatztherapien nur teilweise erfüllt haben und bei denen man sich durch frühere Diagnose eine bessere Wirkung dieser Therapieform erhofft.
Neben etlichen vielversprechenden Aspekten gibt es auf dem Gebiet des Neugeborenenscreenings weiterhin zahlreiche offene Fragen. Notwendige Qualitätskontrollen beim Neugeborenenscreening betreffen Fragen der Organisation und Logistik oder der Aufklärung der Eltern vor dem Hintergrund des gestiegenen Bewusstseins hinsichtlich des informationellen Selbstbestimmungsrechts. Auch hinsichtlich der technischen Durchführung der Blutentnahme, der präanalytischen und analytischen Laborverfahren, der Befundübermittlung, des Trackings detektierter Patienten, der adäquaten Konfirmationsdiagnostik und der Sicherstellung, dass die betroffenen Kinder rasch in optimale Langzeitbetreuung gelangen, gibt es keine abgeschlossenen Konzepte. Für einige der im erweiterten Screening mit Tandemmassenspektrometrie schon jetzt erfassbaren Krankheiten oder für viele lysosomale Speicherkrankheiten sind Zuverlässigkeit und Sinn des Screenings noch nicht ausreichend geklärt. Auch die klare Abgrenzung milder, nicht therapiebedürftiger Varianten muss noch besser herausgearbeitet werden. Der entscheidende Nachweis des Erfolgs eines Screeningprogramms ist nur dann belegt, wenn sorgfältige pädiatrische Nachverfolgungsstudien eine wirklich verbesserte Lebensqualität der identifizierten Patienten zeigen. Eine wissenschaftliche Begleitung der Programme und die Anpassung der Prozeduren an die beobachteten Ergebnisse sind daher unerlässlich.

Neugeborenen-Hörscreening

Bedeutung

In Deutschland werden 1–2 Kinder von 1000 mit einer behandlungs- oder versorgungspflichtigen beidseitigen Hörstörung geboren. Hörstörungen sind somit häufiger als alle anderen Erkrankungen, für die Screeningprogramme etabliert sind. Vor der Einführung des universellen Neugeborenen-Hörscreenings am 01.01.2009 wurden Hörstörungen im Mittel erst im 3. Lebensjahr entdeckt. Durch eine späte Diagnostik und Versorgung angeborener Schwerhörigkeiten ist vor allem die Hör- und Sprachentwicklung, in Abhängigkeit davon aber auch die soziale und intellektuelle Entwicklung des Kindes gefährdet. Je früher eine Hörstörung angemessen behandelt oder versorgt wird, desto eher gelingt eine normale Sprachentwicklung, die dem Kind eine normale Schullaufbahn ermöglicht und alle beruflichen Chancen eröffnet.

Durchführung

Für das Neugeborenen-Hörscreening eignen sich nur objektive Hörprüfmethoden, die entweder auf der Messung otoakustischer Emissionen oder der Ableitung akustisch evozierter Hirnstammpotenziale beruhen. Mit subjektiven Hörprüfverfahren kann eine Hörstörung im Säuglingsalter auch durch sehr erfahrene Untersucher nicht sicher ausgeschlossen werden.
Bei der Messung transitorisch evozierter otoakustischer Emissionen (TEOAE) wird das Innenohr mit Clicks (kurzen Schallreizen) stimuliert, im äußeren Gehörgang kann dann mit einem hochempfindlichen Mikrofon die Antwort des Innenohrs gemessen werden, wobei es sich höchstwahrscheinlich um eine direkte Auswirkung der motorischen Aktivität der äußeren Haarzellen handelt. Die Messung erfolgt vorzugsweise im natürlichen Schlaf, die Umgebung sollte relativ ruhig sein. Behinderungen der Schallleitung, z. B. durch einen Mittelohrerguss oder eine Verlegung des Gehörgangs, behindern die Übertragung des Signals vom Innenohr zur Messsonde. Deshalb gelingen Messungen in den ersten 48 Stunden des Lebens seltener als später. Bei sorgfältigem Vorgehen bestehen etwa 5 % der Kinder den Test nicht. Bei der Messung akustisch evozierter Hirnstammpotenziale (auch BERA, brainstem evoked response audiometry; AABR, automatic auditory brainstem response), die für das Neugeborenen-Hörscreening ebenfalls automatisiert erfolgt, ist diese Durchfallrate geringer. Die Messung ist jedoch aufwendiger, weil meist Elektroden geklebt werden müssen und die Messung länger dauert. Vorteile der Messung akustisch evozierter Hirnstammpotenziale sind hingegen zum einen, dass die Messung auch bei jüngeren Kindern meist problemlos durchgeführt werden kann, vor allem aber, dass auch Kinder mit einer auditorischen Synaptopathie-Neuropathie erfasst werden können.
Am 19.06.2008 fasste der Gemeinsame Bundesausschusses (G-BA) aufgrund des entsprechenden Berichts des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) den Beschluss über eine Änderung der Kinder-Richtlinien und führte damit das generelle Neugeborenen-Hörscreening (NHS) in Deutschland zum 01.01.2009 ein. Als Ziel wurde die Erkennung beidseitiger Hörstörungen ab einem Hörverlust von 35 dB bis zum Ende des 3. Lebensmonats und die Einleitung einer entsprechenden Therapie bis zum Ende des 6. Lebensmonats definiert. In diesem Beschluss wurde Folgendes festgelegt:
1.
Das NHS erfolgt für jedes Ohr mittels TEOAE oder AABR und soll bis zum 3. Lebenstag durchgeführt werden. Für Risikokinder für konnatale Hörstörungen schreibt der Beschluss die AABR vor.
 
2.
Bei auffälligem Testergebnis der Erstuntersuchung mittels TEOAE oder AABR soll möglichst am selben Tag, spätestens bis zur U2 eine Kontroll-AABR an beiden Ohren durchgeführt werden.
 
3.
Bei einem auffälligen Befund in dieser Kontroll-AABR soll eine umfassende pädaudiologische Konfirmationsdiagnostik bis zur 12. Lebenswoche erfolgen. Hierfür wurden 2009 Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie erarbeitet, die 2011 überarbeitet wurden.
 
Im Beschluss des G-BA wurde die gleichzeitige Implementierung geeigneter begleitender Qualitätssicherungsmaßnahmen empfohlen, u. a. die möglichst lückenlose Nachverfolgung im Screening auffälliger Kinder (Tracking). Ohne dieses Tracking gehen etwa die Hälfte der ursprünglich als auffällig gescreenten Kinder mit Schwerhörigkeiten zunächst wieder verloren und werden erst Jahre später diagnostiziert und behandelt.
Die vom G-BA in Auftrag gegebene und am 15.01.2017 publizierte Evaluation des Neugeborenen-Hörscreenings kam zu dem Schluss, dass die Umsetzung des Neugeborenen-Hörscreenings in Deutschland insgesamt erfolgreich ist, zeigte aber noch regional bzw. lokal zu differenzierenden Handlungsbedarf.

Therapiemöglichkeiten

Bei über mehrere Monate bestehenden Paukenergüssen erfolgt die operative Therapie durch Parazentese, gegebenenfalls Paukenröhrchen und gegebenenfalls Adenotomie. Bei persistierenden Hörstörungen, am häufigsten sind dies Innenohrhörstörungen, erfolgt die Hörgeräteversorgung im 1. Lebenshalbjahr. Im Kindesalter werden dazu Hinter-dem-Ohr-Hörgeräte eingesetzt (HdO-Hörgeräte), bei Fehlbildungen von Ohrmuschel und Gehörgang auch Knochenleitungsgeräte. Bei etwa einem Viertel aller angeborenen Schwerhörigkeiten ist die Hörstörung so ausgeprägt, dass mit Hörgeräten allein keine zufriedenstellende Sprachentwicklung zu erwarten ist. Nach einer probatorischen Hörgeräteversorgung, die auch zur Hörerweckung dient, erfolgt dann die Cochlea-Implantat-Versorgung, also ein elektronischer Ersatz des Innenohrs. Als ideal wird derzeit die Operation des 1. Ohrs im 2. Lebenshalbjahr und die des 2. Ohrs einige Monate später angesehen.
Zur Gewährleistung einer guten Hör- und Sprachentwicklung haben hörbehinderte Kinder ein Recht auf Schwerhörigenfrühförderung. Nach der Stellung der Diagnose erfolgt mit dem Einverständnis der Eltern die Meldung des schwerhörigen Kindes an die zuständige Schule. So erfolgt mit der Diagnosestellung eine umfassende Betreuung des hörgeschädigten Kindes und seiner Eltern, die eng in die Therapie eingebunden werden müssen.
Weiterführende Literatur
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