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Akute Porphyrien

Verfasst von: Heike Kaltofen, Dierk A. Vagts, Uta Emmig und Peter Biro
Akute Porphyrien.
Subtypen
Akute intermittierende Porphyrie (Porphobilinogen-Desaminase-Defekt).
Hereditäre Koproporphyrie (Koproporphyrinogen-Oxidase-Defekt).
Porphyria variegata (Protoporphyrinogen-Oxidase-Defekt).
Oberbegriffe
Stoffwechselstörung, Enzymdefekte der Porphyrinsynthese (Hämsynthese), Porphyrinopathie, Photodermatosen, Idiosynkrasie.
Organe/Organsysteme
Blutbildendes Knochenmark, Gastrointestinaltrakt, Haut, Nervensystem.
Inzidenz
Akute intermittierende Porphyrie: Europa 1:20.000, Lappland 1:1000, Porphyria variegata bei weißen Südafrikanern 1:300; sonst insgesamt ca. 1:80.000 bis 1:100.000. Gynäkotropie 1:4.
Ätiologie
Hereditär; autosomal-dominanter Erbgang. Es liegt eine erniedrigte Aktivität verschiedener Enzyme der Hämbiosynthese vor. Dies führt zu Porphyrinämie, Ablagerung von Porphyrinen in verschiedenen Organen und Porphyrinurie. Akkumulation von neurotoxischer delta-Aminolävulinsäure sowie Mangel an Häm werden für die Auslösung einer sogenannten neuroviszeralen Krise verantwortlich gemacht
Verwandte Formen, Differenzialdiagnosen
Alle anderen, überwiegend chronischen Porphyrien: Plumboporphyrie (=Doss-Porphyrie, Aminolävulinsäure-Dehydratase-Defekt, evtl. auch anästhesierelevant), kongenitale erythropoetische Porphyrie (Uroporphyrinogen-Kosynthase-Defekt), Porphyria cutanea tarda (Uroporphyrinogen-Decarboxylase-Defekt), erythropoetische Protoporphyrie (Ferrochelatase), Protocoproporphyria hereditaria, „mixed hepatic porphyria“. Diese Formen haben weniger Implikationen für die Anästhesie.
Ferner: Schwermetallintoxikationen, Hexachlorbenzenintoxikation, δ-Aminolävulinsäureurie, akutes Abdomen, akute Appendizitis, psychiatrische Erkrankungen, Polyneuritis, Hämaturie, Landry-Sy, Meyer-Betz-Sy, Gamstorp-Sy, Poliomyelitis.

Symptome

Im akuten Anfall: abdominale Koliken neurovegetativen Ursprungs, Ileus, Fieber, hepatische Dysfunktionen, Nausea, Vomitus, Polyneuritis, Paresen, Paralysen (bis zur Atemlähmung, ähnlich Guillain-Barré-Sy), Hyporeflexie, psychische Veränderungen (akute toxische Psychose, Depression), Enzephalopathie, Krampfanfälle, Tachykardie, Hypertension, Rotfärbung des Urins, hämolytische Anämie.
Labor: erhöhte Transaminasen, Hypokaliämie, Hyponatriämie, Kreatinin- und Harnstoffanstieg, Anämie. Im Urin: δ-Aminolävulinsäure und Porphobilinogen erhöht.
Häufig nur schwache Penetranz der Erkrankung. Ca. 80 % der Merkmalsträger entwickeln nie Symptome. Frauen sind hormonell bedingt häufiger betroffen, symptomatischer Beginn meist nach der Pubertät. Attacken treten insgesamt selten auf und sind oft schwer zu diagnostizieren. Die Letalität dieser Anfälle ist jedoch unbehandelt hoch (9–30 %). Hinweise kommen oftmals allenfalls aus der eigenen oder aus der Familienanamnese mit uncharakteristischen neurologischen oder psychiatrischen Episoden. Ein typischer anamnestischer Hinweis sind vorangegangene ergebnislose Laparoskopien oder Laparotomien. Patienten mit noch nicht bekannter Porphyrie können im Rahmen einer Anästhesie erstmals symptomatisch werden.
Entsprechend den Empfehlungen zur Durchführung von Anästhesien bei Patienten mit Porphyrie (Koch und Bürkle 2008) werden die folgenden Medikamente in die Kategorien „sicher“, „wahrscheinlich sicher“ und „unsicher“ eingeteilt. Die Reihenfolge innerhalb der Gruppen ist alphabetisch.
„Sichere“ Medikamente:
  • Azetylsalizylsäure,
  • Adrenalin,
  • Cephalosporine,
  • Dopamin,
  • Fentanyl,
  • Halothan,
  • Heparin,
  • Lachgas,
  • Morphin,
  • Naloxon,
  • Neostigmin,
  • Nitroglyzerin,
  • Oxytocin,
  • Penizilline,
  • Procain,
  • Propofol,
  • Promethazin,
  • Remifentanil,
  • Succinylcholin,
  • Thyroxin,
  • Xenon.
„Wahrscheinlich sichere“ Medikamente:
  • Alfentanil, Atracurium,
  • Bupivacain,
  • Cimetidin,
  • Cisatracurium,
  • Clonidin,
  • Desfluran,
  • Isofluran,
  • Midazolam,
  • Prilocain,
  • Rocuronium,
  • Sevofluran,
  • Sufentanil,
  • Vecuronium.
„Unsichere“ Medikamente:
Vergesellschaftet mit
Therapie
Unterbrechung des Anfall auslösenden Mechanismus, Hämin-Arginat, Glukosezufuhr. Bei Krampfanfällen Magnesiumsulfat, Levetiracetam oder Gabapentin. Schmerztherapie mit Opioiden, Antiemetika.

Anästhesierelevanz

Bei der Wahl der Medikamente und Methoden ist auf die strikte Vermeidung von Triggersubstanzen zu achten (s. obige Liste). Insbesondere Medikamente, welche die Cytochrom P450-Aktivität erhöhen, müssen vermieden werden. Neben Medikamenten, Alkohol und Nikotin kann körperlicher Stress durch Fasten, Fieber, Infektionen, Schwangerschaft ein auslösender Trigger sein. Symptomfreie latente Phasen können unvorhergesehen in einen akuten Schub übergehen.
Spezielle präoperative Abklärung
Leberfunktion (Transaminasen, Bilirubin, AP, Cholinesterase), Nierenfunktion (Kalium, Harnstoff, Kreatinin, ggf. Clearancebestimmungen).
Wichtiges Monitoring
Relaxometrie, Kontrolle von Diurese, Serumelektrolyten und Blutzucker, Volumenstatus, Porphobilinogen und 5-Aminolaevulinsäure im Urin im Fall von akuten Krisen.
Vorgehen
Bereits präoperativ, möglichst ab dem Vorabend der OP sollte Glukose zugeführt werden, um einen akuten Porphyrieschub durch Nüchternheit zu vermeiden.
Sofern zur Durchführung der Operation möglich, ist eine Regionalanästhesie empfehlenswert. Aus juristischen Gründen empfiehlt sich insbesondere bei bereits bestehenden Paresen oder Paralysen ein präoperatives neurologisches Konsil mit entsprechender Dokumentation. Geeignete Lokalanästhetika sind Bupivacain, Tetracain, Prilocain und Procain.
Bei Allgemeinanästhesien kann zur Einleitung auf Propofol zurückgegriffen werden (Ketamin ist fraglich). Falls für notwendig erachtet, kann Midazolam zur Stressabschirmung präoperativ verabreicht werden. Volatile Anästhetika (außer Enfluran), Xenon und N2O gelten als wahrscheinlich sicher. Als Opioide können Fentanyl, Remifentanil oder Morphin (wahrscheinlich sicher: Alfentanil, Sufentanil, Pethidin), zur Relaxation Succinylcholin und als wahrscheinlich sicher Atracurium, Cisatracurium, Vecuronium und Rocuronium verwendet werden. Cholinesterasehemmer sind ebenfalls erlaubt. In einem Fallbericht wird über die komplikationslose Anwendung von Sugammadex berichtet.
Propofol zur Einleitung einer Allgemeinanästhesie ist unbedenklich; es herrscht jedoch die Ansicht vor, es eher nicht als kontinuierliche Infusion anzuwenden, auch wenn klinisch unproblematische totalintravenöse Anästhesien mit Propofol beschrieben sind.
Zur Behandlung hypertensiver Kreislaufzustände sind Nitroglyzerin, Natrium-Nitroprussid, Esmolol, Labetalol und Propranolol geeignet. Clonidin ist wahrscheinlich sicher. Unproblematische nichtsteroidale Analgetika sind Paracetamol, Azetylsalizylsäure, Indometacin und Ibuprofen. Sichere Antibiotika sind Penizilline und Cephalosporine. Zur Diuresesteigerung kann Etacrynsäure gegeben werden. Bei Übelkeit können Droperidol, Chlorpromazin oder Promazin eingesetzt werden.
Bei abdomineller Symptomatik (Koliken, Vomitus) sollte die Technik der sog. Ileusintubation („rapid-sequence induction“) angewendet werden. Im Falle bestehender Paralysen ist die Relaxansdosierung anzupassen (Relaxometrie) und eine verzögerte Narkoseausleitung zu erwägen. Vor Einsatz notwendiger Medikamente sollte jeweils die Sicherheit in Bezug auf Porphyrie anhand von Datenbanken überprüft werden (z. B. www.porphyriafoundation.com/drug-database Stand 15.01.2019).
Im Falle eines Anfalls sollte frühzeitig mit einer Infusion von Hämin-Arginat (3–4 mg/kg/Tag als Kurzinfusion) über 4 Tage begonnen werden. Auf eine adäquate Flüssigkeits- und Glukosezufuhr (2000 ml Glukose 20 % in 24 h) ist streng zu achten. Gelegentlich zu beobachtende Elektrolytabweichungen wie z. B. Hyponatriämie rechtzeitig korrigieren. Der Therapierfolg kann durch Kontrolle der Metabolitausscheidung im Urin (δ-Aminolävulinsäure, Porphobilinogen) überwacht werden. Für eventuelle Notfälle und spätere Eingriffe sollte dem Patienten eine entsprechende Bescheinigung ausgestellt werden.
Cave
Alle in Frage kommenden Triggersubstanzen (s. oben). Es besteht eine große interindividuelle Variabilität hinsichtlich der Porphyrinogenität einzelner Pharmaka.
Anmerkung der Autoren
Gerade zur Anästhesie bei akuter Porphyrie finden sich in der Literatur je nach Kulturraum graduell unterschiedliche, aber auch widersprüchliche Angaben. Wir haben uns an der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) orientiert (Koch und Bürkle 2008).
Weiterführende Literatur
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