Definition und Ätiologie
Die Geschlechtsdifferenzierung ist das Ergebnis einer Kaskade aus dem Zusammenspiel von regulatorischen Genen, zellulären und hormonellen Signalen (siehe auch Kap. „Physiologie der Hodenfunktion“). In der ersten Phase der Geschlechtsentwicklung sind die sich entwickelnden Gonaden zunächst bipotent angelegt und es lassen sich sowohl Wolffsche als auch Müllersche Gänge nachweisen. Im typisch männlichen Verlauf, beginnend durch die Wirkung des SRY-Gens, differenzieren sich die indifferenten Gonaden zu Hoden. Die Sertoli-Zellen beginnen, das
Anti-Müller-Hormon zu produzieren, das eine Rückbildung der Müllerschen Gänge bewirkt, die sich sonst zu Uterus, Ovarien und oberem Teil der Vagina entwickeln würden. Die Leydig-Zellen beginnen,
Testosteron zu sezernieren, das die Differenzierung der Wolffschen Gänge in Ductus epididymis, Vasa deferentia, Samenblasen und einen Teil der Prostata stimuliert. Testosteron wird peripher zu
Dihydrotestosteron umgewandelt, dass die Differenzierung der äußeren Genitalien bewirkt und die Entwicklung der Prostata anregt. Da
Androgene ihre Wirkung nur dann entfalten können, wenn sie an einen funktionellen Rezeptor binden, führen Mutationen des Androgenrezeptor-Gens zu unterschiedlichen Graden der Androgeninsensitivität. Die Androgenwirkung wird durch einen einzigen intrazellulären Steroidhormonrezeptor vermittelt, der als Transkriptionsfaktor androgenregulierter Gene fungiert. Testosteron und DHT können über eine Ligandenbindungsdomäne an den Androgenrezeptor binden. Es folgt eine Translokation aus dem Zytoplasma in den Zellkern. Dort kommt es zu einer Rezeptordimerisierung und anschließend zur Bindung an die Promotorregion von androgenregulierten Zielgenen in Verbindung mit bisher weitgehend unbekannten Kofaktoren. Dadurch kommt es zu einer verstärkten oder verminderten
Transkription der Zielgene, die nach
Translation in die entsprechenden Proteine ihre biologische Wirkung entfalten.
Das Spektrum der Androgeninsensitivitäten reicht von einem -weiblichem Phänotyp bei der kompletten Androgeninsensitivität (CAIS) über nicht eindeutige Ausprägungen des Genitales bei der partiellen Androgeninsensitivität (PAIS) bis hin zu einem überwiegend männlichen Phänotyp mit Infertilität bei der minimalen Androgeninsensitivität (MAIS).
Nach der Klassifikation von Quigley werden 7 verschiedene Grade unterschieden (Quigley et al.
1995). Grad 1 ist durch ein typisch männliches Erscheinungsbild der äußeren Genitalien und die Grade 6 und 7 durch einen typisch weiblichen Phänotyp der äußeren Genitalien gekennzeichnet, wobei Grad 7 ein komplettes Fehlen und Grad 6 eine spärliche Achsel- und Schambehaarung in der Adoleszenz und im Erwachsenenalter aufweist. Die Grade 2–5 beschreiben unterschiedliche Grade der Virilisierung der äußeren Genitalien.
Diagnose
Die Diagnose der Androgeninsensitivität wird heute typischerweise durch einen Mutationsnachweis im Androgenrezeptor-Gen im Rahmen eines
Gentests gesichert (Gottlieb et al.
2004). Mittlerweile wurde eine AR-Mutations-negative Form der Androgeninsensitivität, die AIS Typ II, beschrieben, bei der der genetische Ursprung in unbekannten Kofaktoren der Androgenwirkungskaskade vermutet wird (Hornig et al.
2018).
Diese Mutationen können in 4 verschiedene Gruppen eingeteilt werden (Wieacker et al.
1998):
Im Androgenrezeptor finden sich fast alle Formen von inaktivierenden Mutationen, darunter Punktmutationen, Missense- und
Nonsense-Mutationen, Splice-site-Mutationen als auch
Deletionen und
Insertionen. Sie vermindern die Transkriptionsregulation, die DNA-Bindung und die Ligandenbindung. Dementsprechend ist auch das klinische Bild sehr variabel. In etwa 1/3 der Fälle liegen bei Androgenresistenz eine Neumutationen vor, in 1/3 der Fälle treten die Neumutationen erst postzygotisch auf (Holterhus et al.
2001). Die
komplette Androgenresistenz ist fast immer mit einer Mutation im Androgenrezeptor verbunden, während nur in 1/3 der Fälle eine Mutation bei vermuteter
partieller Androgenresistenz gefunden wird. Die Mehrzahl der Mutationen ist familienspezifisch und nur wenige rekurrente Mutationen sind bisher beschrieben worden, so dass eine komplette Gensequenzierung zur Diagnose indiziert ist.
Die Androgeninsensitivität wird X-chromosomal rezessiv vererbt. Eine 46,XX Trägerin einer AR-Mutation gibt das mutierte Erbmerkmal an die Hälfte der Kinder mit einem XY-Karyotyp weiter. Androgenbindungsstudien, die nach einer Hautbiopsie an genitalen Fibroblasten durchgeführt werden müssen, spielen bei der Bestätigung der Diagnose keine wesentliche Rolle mehr. Die Form der Androgenresistenz, die historisch als rezeptorpositiv galt, kann nun durch Mutationen in der DNA-Bindungsdomäne erklärt werden, in der die Steroidbindung erwartungsgemäß ungestört ist. Zusätzlich kann Androgeninsensitivität durch den APOD-Assay identifiziert werden, der das Expressionsmuster eines AR-regulierten Gens in genitalen Hautfibroblasten eines betroffenen Individuums misst. Seine Kombination mit dem Next-Generation-Sequencing des gesamten AR-Lokus deckte eine AR-Mutation-negative, neue Klasse der Androgenresistenz auf, deren Ätiopathogenese derzeit unbekannt ist (Hornig et al.
2016).
Komplette Androgenresistenz (CAIS)
Die
Prävalenz von CAIS liegt bei etwa 1:20.000 unter Individuen mit einem XY-Karyotyp. Aufgrund der normalen Hodendifferenzierung produzieren die Sertoli-Zellen AMH, so dass
Tuben und
Uterus nicht vorhanden sind, was zu einer blind
endenden
Vagina führt. Die Leydig-Zellen produzieren
Androgene mit Konzentrationen im typisch männlichen Bereich oder sogar darüber. Aufgrund der AR-Defekts können diese Androgene jedoch nicht wirken, so dass sich die Wolffschen Strukturen zurückbilden und ein
Maldescensus testis entsteht. Im Falle einer
kompletten Androgenresistenz können auch pränatal keine Androgene wirken, so dass bei der Geburt ein
äußeres weibliches Genitale vorliegt. Die Hoden können intraabdominell, im Leistenkanal oder in den Labia majora lokalisiert sein. Die Wahrscheinlichkeit einer Androgeninsensitivität bei phänotypisch weiblichen Kindern mit
Leistenhernie liegt bei 1–2 % (Grumbach und Conte
1998). Die chirurgische Leistenhernienreparatur führt nicht selten zur Erkennung der Diagnose im Kindesalter.
Während der
Pubertät wird
Testosteron von den Leydig-Zellen synthetisiert. Klinisch fallen in der Pubertät eine primäre Amenorrhoe, fehlende (Grad 7) oder spärliche (Grad 6) Achsel- und Schambehaarung
(„hairless women“) bei normaler weiblicher Brustentwicklung auf. Die Brustentwicklung könnte durch die ausreichende Östrogenkonzentration aufgrund der Aromatisierung von Testosteron durch
Aromatase und die fehlende Androgenwirkung erklärt werden. Die Körpergröße ist im Vergleich zu weiblichen Geschwistern erhöht, wahrscheinlich als Folge des verzögerten Verschlusses der Epiphysenfugen (Han et al.
2008). Individuen mit CAIS zeigen weibliches Spielverhalten und ein großer Teil der Frauen, bei denen CAIS diagnostiziert wird, zeigen eine eindeutige weibliche Geschlechtsidentität. Die fehlende Androgenwirkung bewirkt einen regulatorischen Anstieg von LH, dass die Leydig-Zellen stimuliert. Die daraus resultierende Hyperplasie der Leydig-Zellen kann als Pick’sches Adenom sichtbar werden. Bei postpubertären Patient*innen liegen die Testosteronspiegel im typisch männlichen Bereich und die Östradiolspiegel sind höher als bei Männern, aber niedriger als bei Frauen. LH kann deutlich erhöht sein, während FSH nur geringfügig erhöht sein kann oder im üblichen Referenzbereich liegt (Doehnert et al.
2015). Die Inhibin-B-Spiegel liegen im pubertären männlichen Bereich, aber es gibt keine Suppression der AMH-Spiegel, die im präpubertären männlichen Bereich bleiben, was die Rolle der Bindung von Testosteron an seinen Rezeptor für die negative Regulierung der AMH-Produktion zeigt (Johannsen et al.
2020). Bei CAIS ist
sonografisch kein Uterus nachweisbar. Die Diagnose wird durch eine DNA-Sequenzierung des Androgenrezeptor-Gens bestätigt. Dieselben Mutationen können jedoch mit sehr unterschiedlichen Graden der reduzierten Androgenwirkung einhergehen, so dass eine genaue Prognose über den Verlauf der Erkrankung oft nicht möglich ist. Bei CAIS besteht ein erhöhtes Risiko für bösartige
Keimzelltumore (Hughes et al.
2006; L. H. Looijenga et al.
2007; L. H. J. Looijenga et al.
2019).
Unter den Tumoren, die nicht von Keimzellen ausgehen, sind Sertoli-Zell-Adenome häufiger als Leydig-Zell-Adenome. Es wird vorgeschlagen, dass die morphologische und histologische Beurteilung des Gonadengewebes in Kombination mit OCT3/4- und TSPY-Doppelimmunhistochemie und klinischen Parametern am informativsten ist, um das Risiko für die Entwicklung eines Keimzelltumors beim einzelnen Patienten abzuschätzen, und in Zukunft zur Entwicklung eines Entscheidungsbaums für das optimale Management von Patienten mit DSD verwendet werden könnte (L. H. Looijenga et al.
2007; L. H. J. Looijenga et al.
2019). Die prophylaktische Gonadektomie wird zwar bei CAIS wegen des erhöhten Risikos für die Entwicklung maligner
Keimzelltumoren in den intraabdominalen Gonaden seit vielen Jahren empfohlen, jedoch ist die Aussagekraft gering. Vor der
Pubertät ist das Tumorrisiko sehr gering. Eine Gonadektomie sollte bei unauffälligen Gonaden frühestens nach der Pubertät erfolgen, um eine spontane Pubertät und die Beteiligung der Patienten an wichtigen Entscheidungen, die ihren Körper und ihre Gesundheit betreffen, zu ermöglichen. Auch nach der Pubertät wird die Gonadektomie noch kontrovers diskutiert (Dohnert et al.
2017). Derzeit kann das absolute Malignitätsrisiko für Personen mit CAIS nicht bestimmt werden und die endogenen Hormonprofile zeigen sehr spezifische Merkmale, die die Knochengesundheit, das psychosoziale Wohlbefinden und viele andere Aspekte beeinflussen. Für Frauen mit CAIS, die ihre Keimdrüsen behalten wollen, schlagen wir ein halbjährliches Screeningprogramm vor, dass in einer prospektiven Multicenterstudie evaluiert werden muss (Dohnert et al.
2017).
Bei CAIS muss bis zum Einsetzen der
Pubertät keine Therapie durchgeführt werden, es sei denn, es liegt ein Leistenbruch vor. Das Risiko einer Hodendegeneration wird als eher gering eingeschätzt, so dass die Hoden so lange wie möglich in situ belassen werden sollten. In der Pubertät kann es dann zu einer spontanen pubertären Entwicklung kommen. Die Hoden produzieren dann
Testosteron, das teilweise zu
Östrogenen aromatisiert wird. In den meisten Fällen ist eine Hormonersatztherapie nicht notwendig, solange die Hoden in situ bleiben. Allerdings sollte alle 6–12 Monate eine Bildgebung der Gonaden durchgeführt werden (Dohnert et al.
2017).
Nach Gonadektomie ist eine
Substitutionstherapie mit
Östrogenen oder
Testosteron notwendig (Birnbaum et al.
2018). Korrektive genitalchirurgische Eingriffe, wie z. B. eine Vaginoplastik, sollten idealerweise erst nach der
Pubertät durchgeführt werden und sich nach den individuellen Wünschen und Bedürfnissen der Betroffenen richten. Die Patienten identifizieren sich meist mit der weiblichen Geschlechtsrolle, es gibt aber auch selten Personen, die sich mit einer männlichen Geschlechtsidentität identifizieren (T’Sjoen et al.
2011).
Partielle Androgenresistenz (PAIS)
Der Phänotyp bei
partieller Androgenresistenz umfasst ein breites Spektrum, das den Graden 2 bis 5 nach der Quigley-Klassifikation entspricht. Es reicht von einem überwiegend weiblichen Phänotyp mit
Klitorishypertrophie,
ambivalentem Genitalbefund mit partieller labioskrotaler Fusion bis zu einem fast männlichen Phänotyp mit
Hypospadie und
Mikropenis. In der
Pubertät kommt es dann auch zu einer verstärkten Aromatisierung, was zu weiblichen Körperformen und oft zu einer belastenden und ausgeprägten
Gynäkomastie führt. Achsel- und
Pubesbehaarung sind in unterschiedlichem Ausmaß vorhanden.
Diagnostisch zeigt PAIS meist ein klinisch auffallendes, ambivalentes Genitale bei der Geburt. Die Hormonparameter bei PAIS sind vergleichbar mit denen bei CAIS. Der Hormonstatus zeigt ein erhöhtes LH und
Testosteron, da der Regelkreis aufgrund des Rezeptordefekts nicht mehr funktioniert. Bei PAIS ist eine molekulargenetische Diagnose nur in 1/3 der Fälle möglich. Bei PAIS ist das Hodentumorrisiko offensichtlich von der Lokalisation der Hoden abhängig. Nach einem Consensuspapier (Hughes et al.
2006) wird für PAIS mit intraabdominalen Gonaden ein Malignitätsrisiko von ca. 50 % angegeben, wobei diese Risikoangabe auf einer kleinen Patientenzahl beruht. Bei PAIS mit skrotalen Keimdrüsen wird ein geringeres Risiko angenommen, wobei eine zuverlässige Quantifizierung derzeit nicht möglich erscheint. Bei PAIS ist auch das
Brustkrebsrisiko erhöht. Bei 3 Patient*innen mit PAIS und Brustkrebs wurde eine
Missense-Mutation in der DNA-Bindungsdomäne nachgewiesen (Lobaccaro et al.
1993; Wooster et al.
1992).
Die Behandlung von PAIS sollte interdisziplinär erfolgen, insbesondere bei Grad 3 und 4. Sie sollte sich an den Bedürfnissen des Patient*innen orientieren und u. a. das Risiko einer Degeneration der Keimdrüsen und die chirurgischen Möglichkeiten im Erwachsenenalter berücksichtigen.
Bei PAIS hängen die Maßnahmen vom Grad der klinischen Virilisierung und dem Geschlecht ab, in dem das Kind aufwachsen wird. Abhängig von der Restfunktion des Androgenrezeptors kann die Reaktion des Genitalgewebes auf
Androgene während der
Pubertät sehr unterschiedlich ausfallen. Bei ausgeprägter
Gynäkomastie sollte ggf. eine plastische Operation angeboten werden. Wenn Patienten eine männliche psychosexuelle Orientierung haben, zielt die Therapie darauf ab, den Phänotyp in eine männliche Richtung zu beeinflussen. Chirurgische Maßnahmen zielen daher auf die Korrektur von
Hypospadie, Kryptorchismus und Gynäkomastie ab. Nach der Orchidektomie muss eine exogene Androgensubstitution erfolgen. In Einzelfällen kann versucht werden, durch eine hoch dosierte Testosterontherapie eine gewisse Intensivierung der Androgenisierung zu erreichen. Das Entartungsrisiko der Gonaden ist deutlich höher als beim CAIS. Daher sind regelmäßige Kontrolluntersuchungen notwendig. Eine prophylaktische Gonadektomie vor der Pubertät darf nicht mehr erfolgen. Eine Gonadektomie kann bei auffälligen Befunden im Jugend- oder Erwachsenenalter notwendig werden. Gerade Menschen mit PAIS sollen von einer zurückhaltenden chirurgischen Behandlung und neuen Behandlungskonzepten profitieren.
Minimale Androgeninsensitivität (MAIS)
Die minimale Androgeninsensitivität (MAIS) entspricht dem Grad 1 nach Quigley. Abgesehen von einem möglichen
Mikropenis sind die äußeren Genitalien unauffällig männlich. Die
Gynäkomastie tritt typischerweise in der
Pubertät auf. Es besteht eine Infertilität aufgrund von Azoospermie oder schwerer Oligozoospermie. MAIS umfasst auch
männliche Infertilität auf dem Boden einer Mutation im AR-Gen. Allerdings sind bisher nur wenige AR-Mutationen bei unfruchtbaren Männern gefunden worden. Auch die Verlängerung der variablen polymorphen CAG-Trinukleotidregion im N-terminalen Ende des AR-Gens wurde mit MAIS und männlicher Unfruchtbarkeit in Verbindung gebracht (Zitzmann et al.
2005). Endokrinologische Hinweise auf MAIS sind normale oder erhöhte Testosteronkonzentrationen mit erhöhtem LH.
Aus therapeutischer Sicht könnte die Fertilität gegebenenfalls durch eine Androgentherapie wiederhergestellt werden.