Edukation
Ausgangspunkt einer multimodalen Therapie stellt eine altersentsprechende, patienten- und familiengerechte
Aufklärung über den Charakter und die biopsychosozialen Entwicklungsmechanismen von Schmerzen dar. Patienten und ihre Familien lernen, dass die
Schmerzen „real“ sind, jedoch ihre eigentliche Warnfunktion für den Körper verloren haben, dass eine Rückkehr in einen funktionierenden Alltag keinen schädigenden Einfluss auf den Körper ausübt und warum ein interdisziplinärer, multimodaler Ansatz entscheidend für eine erfolgreiche Therapie ist (Deutsche Schmerzgesellschaft
2017; Friedrichsdorf et al.
2016).
Viele Patienten fühlen sich unverstanden und stigmatisiert, auch von Therapeuten und Ärzten, weil ihnen vermittelt wird und/oder sie verstehen: „Es ist alles in meinem Kopf“. Wir versuchen von dieser Erklärungsweise in unserer Praxis Abstand zu nehmen. Wir akzeptieren den
Schmerz in Bauch, Kopf, Gelenken oder Muskeln, und erklären die Mechanismen, wie der Körper gegenüber Schmerzen sensibilisiert wird, wie das Gehirn Schmerz verarbeitet und wie wir Schmerzen als Gefühl wahrnehmen.
Physio- und ergotherapeutische Therapien
Physiotherapeutische
und ergotherapeutische
Maßnahmen sind für (fast) alle Patienten mit muskuloskelettalen
Schmerzstörungen indiziert. Die einzelnen Therapien werden dem Bedarf der Patienten angepasst. Die Patienten profitieren von körperlicher Aktivität in der Regel auf allen Ebenen des biopsychosozialen Schmerzmodells:
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Biologische Ebene:
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Verbesserung der körperlichen Leistungsfähigkeit: Patienten mit muskuloskelettalen
Schmerzen haben oft über einen längeren Zeitraum auf körperliche Aktivitäten und/oder Sport teilweise oder ganz verzichtet. Eine schrittweise Leistungssteigerung ist erforderlich; sie korreliert langfristig mit einem verminderten Schmerzniveau, verminderter Müdigkeit, einem höherem Energieniveau und einer Verbesserung vegetativer und orthostatischer Symptome (Landry et al.
2015). Das Training trägt zur Gewichtsregulation bei Übergewicht bei.
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Verminderung von Muskelverspannungen (insbesondere bei Nacken- und
Rückenschmerzen) tragen zur Verminderung des Schmerzniveaus und zur Korrektur schmerzbedingter Fehl- und Schonhaltungen bei.
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Eine Verbesserung von Koordination und Balance kann zu einem verminderten Verletzungsrisiko beitragen.
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Desensibilisierungstechniken vermindern neuropathische Schmerzen, die mit Hyperalgesie, Hyperästhesie und Allodynie einhergehen.
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Aerobes Ausdauertraining, Muskelaufbau und Dehnübungen werden als klassische Physiotherapien eingesetzt. Desensibilisierungsverfahren
umfassen eine schrittweise Intensivierung des Kontakts der Haut mit Materialen unterschiedlicher Texturen zur Stimulation kutaner Nerven, Wechselbäder und die transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS). Desensibilisierungstherapien stehen insbesondere in der Therapie des
CRPS an erster Stelle. Maßnahmen wie Kälte- und Wärmebehandlungen, Massagen und Akupunktur werden supportiv in Kombination mit aktiven Therapien eingesetzt.
Reiben und Massieren der schmerzhaften Regionen bei benignen nächtlichen Beinschmerzen wird von den meisten Kindern als beruhigend und schmerzlindernd empfunden. Tägliches Dehnen der Quadrizeps-, der Kniebeuge- und Wadenmuskulatur kann zur Verminderung der Schmerzfrequenz beitragen (Huppertz
2013).
Psychologische Therapien
Kognitive Verhaltenstherapien vermitteln in interaktiven Sitzungen mit den Patienten Strategien zur besseren Krankheitsverarbeitung
(Coping), zum besseren Umgang mit
Schmerzen und Emotionen, und zur Wiederaufnahme von Alltagsaktivitäten. Bei Patienten mit muskuloskelettalen Schmerzen resultiert eine Verminderung der Schmerzwahrnehmung und eine langfristige Verminderung der funktionellen Beeinträchtigung (Fisher et al.
2018).
Ein neueres verhaltenstherapeutisches Verfahren stellt die
Akzeptanz und Commitment Therapie dar. Ziel ist, dass die Patienten bereit sind, unangenehme Empfindungen wie
Schmerz zu akzeptieren und Vermeidungsstrategien, die zu Beeinträchtigungen im Alltagsleben geführt haben, aufzugeben. Sie sollen selbstverpflichtend ihr Verhalten nicht nach ihrer Schmerzempfindung, sondern nach ihren Ziel- und Wertvorstellungen ausrichten (Pielech et al.
2017).
Angst ist ein Risikofaktor für eine verstärkte Schmerzwahrnehmung; Angst- und
affektive Störungen sind darüber hinaus Risikofaktoren für eine funktionelle Beeinträchtigung im Alltag.
Angststörungen können den Erfolg
kognitiver Verhaltenstherapien beeinträchtigen. Eine adäquate (psychologische und ggf. medikamentöse)
Therapie dieser Komorbiditäten stellt damit eine Voraussetzung für eine erfolgreiche interdisziplinäre
Schmerztherapie dar (Cunningham et al.
2016). Es kann davon ausgegangen werden, dass ein ähnlicher Zusammenhang für Störungen gilt, die ein Risiko für funktionelle Beeinträchtigungen im Alltag bergen wie
posttraumatische Belastungsstörungen, Verhaltensstörungen, psychiatrische Erkrankungen und Lernbehinderungen.
Aufgrund des engen Zusammenhangs zwischen Schlaf und Schmerzempfindung werden die Kinder und Jugendlichen, die an Ein- und Durchschlafstörungen leiden, und ihre Eltern über Maßnahmen zur
Schlafhygiene aufgeklärt und zu ihrer schrittweisen Implementierung in den Alltag motiviert. Diese Maßnahmen umfassen unter anderem:
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Regelmäßige Schlafgeh- und Aufstehzeiten,
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routinemäßige Abläufe vor dem Schlafengehen, die auf den Schlaf vorbereiten,
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keine Bildschirmaktivitäten mindestens 1 h vor der Schlafgehzeit: Das Blaulicht der Bildschirme kann mit der körpereigenen Melatoninproduktion interferieren und zur Unterbrechung des zirkadianen Rhythmus führen (Moderie et al.
2017),
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Verzicht auf Schlaf am Tage,
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Verzicht auf koffeinhaltige Getränke am Nachmittag.
Integrative Therapien basieren auf dem Verständnis, dass Körper und Geist eine Einheit darstellen: Die Techniken helfen, die Wechselbeziehung zwischen Kognitionen, Emotionen und physiologischen Körperreaktionen zu erkennen und erleben und so Schmerzerfahrung zu modulieren. Als Beispiel seien Entspannungstechniken
genannt, die zu einer Verminderung von Herz- und Atemfrequenz sowie zu verminderter Muskelanspannung führen; die resultierende Verminderung von Stress und Angstgefühl trägt zur Verminderung der Schmerzwahrnehmung bei (Landry et al.
2015). Zu integrativen Therapien gehören unter anderem Yoga, progressive Muskelentspannung,
autogenes Training, Atemtechniken, Selbst-Hypnose, Biofeedback-Verfahren
, Ablenkungstechniken, Imaginationen („guided imagery“), und Mindfulness. Die Verfahren können von Kindern ab einem Alter von 5 Jahren und ihren Eltern erlernt werden; in der Regel wählen die Patienten ein oder zwei Techniken, die sie in ihre tägliche Routine integrieren. Eltern können die Techniken bei Kleinkindern und Kindern mit kognitiver Beeinträchtigung anwenden (Friedrichsdorf et al.
2016).
Einen besonderen Stellenwert bei der Therapie des
CRPS nimmt die
Spiegeltherapie ein. Die betroffene Extremität wird hinter einem Spiegel verdeckt, der Patient betrachtet die gesunde Extremität im Spiegel. Wird die gesunde, schmerzfreie Extremität bewegt, wird dem Gehirn vorgetäuscht, die kranke Seite sei bewegt worden. Auf diese Weise lernt das Gehirn, die kranke Seite wieder zu bewegen. Diese imaginäre Therapie ist in der Regel nicht, wie andere aktive physio- und ergotherapeutische Maßnahmen, mit zusätzlichen
Schmerzen verbunden (Bowering et al.
2013).
Familientherapeutische Ansätze
adressieren den elterlichen Umgang mit
Schmerzen, katastrophisierende Gedanken und eine erhöhte Aufmerksamkeit der Eltern auf den kindlichen Schmerz mit der sich daraus ableitenden Tendenz zur Überprotektion. Die Eltern werden darauf hingeführt, ihren Fokus auf die Funktionsfähigkeit ihres Kindes im Alltagsleben zu richten und Strategien zu erlernen, wie sie ihr Kind im Rehabilitationsprozess unterstützen können (Friedrichsdorf et al.
2016). Durch Erlernen kognitiver und integrativer Therapien können sie selbst lernen, ihren Disstress nicht nur im Umgang mit den Schmerzen und Verhaltensweisen ihres Kindes abzubauen. Konflikte und Stressfaktoren innerhalb der Familie, die zur Aufrechterhaltung der Schmerzen des Kindes beitragen können, können im Rahmen einer Familientherapie identifiziert und Lösungsansätze gemeinsam erarbeitet werden. Dazu gehören auch die physische und
psychische Gesundheit und Funktionsfähigkeit der Eltern und/oder Geschwister im Alltag, die das Schmerzempfinden und die Funktionsfähigkeit des Kindes beeinflussen können (Poppert Cordts et al.
2019).
Soziale Wiedereingliederung
Patienten mit (muskuloskelettalen)
Schmerzstörungen haben oft lange Schulfehlzeiten. Eine schrittweise Wiedereingliederung ist in der Regel notwendig. Hierbei ist eine enge Zusammenarbeit zwischen Lehrern, Sozialarbeitern und/oder Psychologen und den Familien erforderlich. Bei Wiedereingliederungsprozessen müssen frühere oder aktuelle Erfahrungen mit Stigmatisierung und Mobbing ebenso berücksichtigt werden wie ein möglicher sekundärer Krankheitsgewinn durch aufmerksamkeitssuchendes Verhalten des betroffenen Kindes (Friedrichsdorf et al.
2016). Die adäquate Unterstützung von Kindern mit Lernschwächen muss bedacht werden. In Deutschland besteht Schulpflicht; auch ohne diese Verpflichtung lehnen Schmerztherapeuten in der Regel Hausunterricht ab, wenn die Kinder vor der Schmerzerkrankung in der Schule waren, da dies das Vermeidungsverhalten unterstützt und damit zur Aufrechterhaltung von
Schmerzen beiträgt.
Eine Hilfestellung ist oft auch im Rahmen der sozialen Wiedereingliederung erforderlich. Die Kinder und Jugendlichen lernen Strategien, die ihnen mit potenziellen Herausforderungen, wie Stigmatisierung und Mobbing, im Umgang mit Gleichaltrigen helfen können.
Medikamentöse Therapien
Aufgrund potenzieller Risiken, fehlender Zulassung im Kindes- und Jugendalter und/oder für die Indikation, und/oder mangelndem Nachweis eines Nutzens für die Patienten sind medikamentöse Therapien für muskuloskelettale
Schmerzstörungen im Kindes- und Jugendalter nicht zu empfehlen. Im Angesicht der aktuellen Opioid-Krise soll vermerkt werden, dass zurzeit keine klinischen Daten zu Wirksamkeit und Nebenwirkungsprofil von
Opioiden in der Therapie von Schmerzstörungen im Kindes- und Jugendalter zur Verfügung stehen. Komorbiditäten wie Angst- oder
depressive Störungen sollen im Rahmen der interdisziplinären, multimodalen
Schmerztherapie leitliniengerecht behandelt werden (Cooper et al.
2017a,
2017b,
2017c; Deutsche Schmerzgesellschaft
2017).
Für invasive Verfahren wie Sympathikusblockaden oder Epiduralkatheter zur Therapie des
CRPS im Kindes- und Jugendalter liegt keine Evidenz vor (Zernikow et al.
2015).
Benigne nächtliche Beinschmerzen sprechen gut auf
Ibuprofen oder
Paracetamol an. Schmerzepisoden sind von Eltern oft vorhersehbar; in diesen Fällen kann Ibuprofen präventiv vor dem Schlafengehen verabreicht werden, um die Nachtruhe der Kinder und Eltern nicht zu stören (Huppertz
2013).
Akute
Schmerzen im Rahmen von Verletzungen oder akuten Erkrankungen werden auch bei Patienten mit
Schmerzstörungen gemäß der Schmerzleiter der World Health Organization behandelt (Anekar und Cascella
2020).