„Hirnorganische Störungen“
gehören zu denjenigen Diagnosekategorien, die die radikalsten Veränderungen (Tab.
4) im Rahmen der Entwicklung der ICD erlebt haben (Gutzmann et al.
1990). Während die ICD-8 noch verschiedene „Kombinationskategorien“ enthielt, die ein gleichzeitiges, kombiniertes Codieren organischer und
psychischer Störungen erlaubten, wurden diese im ICD-9 ausgeschlossen, zugunsten der Codierung einer Störung auf zwei unabhängigen Achsen, eine Möglichkeit, die sich auch in der ICD-10 (World Health Organization
1991) wiederfindet.
| Bewusstseinstrübung Störung des Immediatgedächtnisses und des Kurzzeitgedächtnisses bei intaktem Langzeitgedächtnis Orientierungsstörung Schwanken der Aktivität, des Redeflusses, verlängerte Reaktionszeit und verstärkte Schreckreaktion Störung des Schlafes und des Schlaf-wach-Rhythmus | Störung des Bewusstseins Veränderung der kognitiven Fähigkeiten (Orientierung, Sprache, Gedächtnis), die nicht durch eine bestehende Demenz erklärt werden können Schnelle Entwicklung und Fluktuation während eines Tages Hinweise auf eine körperliche Ursache | Störung von „attention“ und „awareness“ Veränderung der kognitiven Fähigkeiten (Orientierung, Exekutivfunktionen, Sprache, Visuoperzeption, Gedächtnis) Störungen nicht durch eine bestehende neurodegenerative Erkrankung oder Vigilanzstörung erklärbar Schnelle Entwicklung und Fluktuation im Schweregrad während eines Tages Hinweise auf eine körperliche Erkrankung, Intoxikation oder Entzug oder multiple Ätiologien Präzisierende Kategorien: hyperaktiv/hypoaktiv/gemischt und akut/persistierend |
Demenz | Störung des Gedächtnisses und weiterer kognitiver Fähigkeiten Fehlen einer Bewusstseinsminderung Signifikante Störung in den Alltagsfertigkeiten Dauer von mindestens 6 Monaten Ausschluss anderer Ursachen | Störungen von Gedächtnis und mindestens einem weiteren kognitiven Bereich: Aphasie, Apraxie, Agnosie, Exekutivfunktionen Signifikante Störung in den Alltagsfertigkeiten und progressives Defizit Fehlen eines Delirs Ausschluss anderer Ursachen | „major neurocognitive disorder (NCD)“: - Störungen von mindestens einem kognitiven Bereich: komplexe Aufmerksamkeit, Exekutivfunktionen, Lernen und Gedächtnis, Sprache, perzeptiv-motorische Fähigkeiten, soziale Kognition (≥2 SD unter der Norm) - Verlust der Selbstständigkeit in den Alltagsfertigkeiten - Fehlen eines Delirs - Ausschluss anderer Ursachen |
| Störung ausschließlich des Gedächtnisses oder einer anderen kognitiven Fähigkeit Fehlen einer Bewusstseinsminderung Keine Störung in den Alltagsfertigkeiten Dauer mindestens 2 Wochen | Kognitive Störung nicht näher bezeichnet | „minor neurocognitive disorder (NCD)“: - Störungen von mindestens einem kognitiven Bereich: Aufmerksamkeit, Exekutivfunktionen, Lernen und Gedächtnis, Sprache, perzeptiv-motorische Fähigkeiten, soziale Kognition (1– < 2 SD unter der Norm) - Erhalt der Selbstständigkeit in den Alltagsfertigkeiten - Fehlen eines Delirs - Ausschluss anderer Ursachen |
Andere organische Störungen | Sonstige organische psychische Störung (Halluzinose, wahnhafte Störung, Angststörung, dissoziative Störung) | Halluzinose, wahnhafte Störung, Angststörung, dissoziative Störung aufgrund einer allgemeinen medizinischen Erkrankung | Halluzinose, wahnhafte Störung, Angststörung, dissoziative Störung aufgrund einer allgemeinen medizinischen Erkrankung |
Die ICD-9 nahm die Gliederung teils nach ätiologischen, teils nach symptomatologischen und teils nach Verlaufskriterien vor. Unter dem Oberbegriff „organische Psychosen“ waren senile und präsenile organische Psychosen, einfache senile und präsenile
Demenz, senile Demenz mit depressivem oder paranoidem Erscheinungsbild, senile Demenz mit akutem Verwirrtheitszustand, arteriosklerotische Demenz und andere präsenile und senile Psychosen subsumiert. Die einzelnen Begriffe waren oft nicht exakt definiert. Eine Demenz war danach „im Allgemeinen“ irreversibel, eine organische Psychose „kann auch“ mit einer Affektverflachung einhergehen, und bei der Psychose, die es erschwert, den „üblichen“ Lebensanforderungen zu entsprechen, handelte es sich gar um „keinen exakten oder genau definierten Begriff“. Das Problem wurde kategorial und nicht dimensional aufgefasst, eine Kritik, die von Jorm und Henderson (
1985) auch gegenüber dem DSM-III vorgebracht worden war und ihren Niederschlag in der dreistufigen Gliederung des Demenzschweregrades der DSM-III-R (American Psychiatric Association
1987) gefunden hatte. Übrigens fasst auch die ICD-10 die Demenz kategorial auf. Erst in den ICD-10-Forschungskriterien (World Health Organization
1990) wurde die Dimensionalität des Syndroms in einer dreistufigen Schweregradeinteilung
berücksichtigt.
Im
DSM-5 schließlich werden die kognitiven Störungen ausschließlich aufgrund der Anzahl der neurokognitiven Domänen (komplexe Aufmerksamkeit, exekutive Funktionen, Lernen und Gedächtnis, Sprache, perzeptiv-motorische Fähigkeiten, soziale Kognition) und des Schweregrads der Defizite in den einzelnen Domänen als „minor and major neurocognitive disorder
(NCD)“ klassifiziert. Der Begriff
Demenz wird erst in der ätiologischen Subtypisierung benutzt. Das
Delir hingegen hat gegenüber dem
DSM-IV nur eine Schärfung der Kriterien erfahren und wurde um präzisierende Kategorien (hyper-/hypoaktiv/gemischt und akut/persistierend) ergänzt, ist aber in seinem syndromatischen Kern ebenso unverändert geblieben wie in der Begrifflichkeit.
ICD-10
Obwohl die ICD-10
der WHO in enger Abstimmung mit der für das DSM-III-R verantwortlichen Gruppe entwickelt wurde, finden sich einige bedeutsame Unterschiede zum amerikanischen diagnostischen Manual. Bei kritischer Gegenüberstellung der beiden Operationalisierungen fällt auf, dass das Instrument der WHO in der Konzeptualisierung der
Demenz strikter ist (Lauter et al.
1990). In seinen Kriterien verlangt es zusätzlich zu progredienten
Gedächtnisstörungen eine generelle Abnahme („decline“) des Denkvermögens, der Fähigkeit zu vernünftigem Urteilen und eine Verminderung des Ideenflusses. Eine Reduktion der emotionalen Kontrolle, der sozialen Kompetenz und der Motivation werden zudem als häufige Begleitsymptomatik beschrieben.
Im DSM-III-R konnte dagegen schon eine
Demenz diagnostiziert werden, wenn außer der obligaten Gedächtnisstörung („impairment“) und z. B. einer Akzentuierung der prämorbiden Persönlichkeit noch kein gröberer intellektueller Abbau zu beobachten war. Die DSM-III-R-Festlegung auf „memory impairment“ statt „decline“, wie bei der ICD-10, war als ein Nachteil anzusehen, der sich schon in der Vorversion DSM-III fand. „Decline“ erlaubt z. B. Erkrankungen oder Behinderungen, die mit lebenslangen
Gedächtnisstörungen einhergehen, sicher auszuschließen. Auch das
DSM-IV zeigte noch dieselbe Unschärfe, warf aber zusätzlich weitere Probleme auf, auf die unten näher eingegangen wird. Der Fortschritt der ICD-10-Forschungskriterien
besteht in der Berücksichtigung von Störungen der Affektkontrolle und in der strikteren Algorithmisierung. Besonders hervorzuheben ist bei den Forschungskriterien aber die Berücksichtigung der Dimensionalität des Syndroms (prinzipiell wie im DSM-III-R) und die Formulierung eines Zeitkriteriums, mit dem ein neues Element in die Diagnostik eingeführt wird.
Vom Kliniker selbst verlangen alle Klassifikationssysteme, in seine Entscheidung mindestens für Teilbereiche eine längsschnittliche Perspektive einfließen zu lassen. Er muss einen
Leistungsverlust gegenüber einem früher erreichten Niveau wahrscheinlich machen. Wie er zu diesem Urteil kommt, ist nicht vorgeschrieben. Er kann also sowohl fremdanamnestische Angaben heranziehen als auch, wenn diese nicht verlässlich genug erscheinen oder nicht zur Hand sind, Instrumente zur Schätzung der prämorbiden Intelligenz einsetzen, bei deren Einsatz er sich allerdings der Problematik bewusst sein sollte, dass die aktuelle kognitive Leistungsfähigkeit die Ergebnisse erheblich negativ beeinflussen kann. In welchem Umfang andererseits das prämorbide Leistungsniveau
die Identifizierung und Quantifizierung einer aktuellen kognitiven Leistungseinbuße erschweren kann, wird am Beispiel des
Mini-Mental-Status-Test deutlich (Grigoletto et al.
1999).
Bei der Entwicklung des
DSM-IV wurde der bisherige Konsens mit dem System der WHO aufgekündigt. Die „organische“ Kategorie wurde als eigene Ordnungsgröße aufgegeben. Als Begründung dafür wurde angeführt, dass der Terminus „organisch“ eine falsche Dichotomie fortführen, einen angestrebten integrativen Diagnoseansatz erschweren und implizieren würde, dass alle anderen Diagnosen „nichtorganisch“ seien (Popkin et al.
1989). Es sei jetzt an der Zeit, den anachronistischen Terminus „organisch“ endlich ad acta zu legen (Spitzer et al.
1992). Stattdessen wurden zwei neue Kategorien eingeführt: „cognitive impairment disorders
“, welche
Demenzen, Delirien und amnestische Syndrome umfassen, und „specific cognitive impairments
“ (d. h. „amnestic, aphasic, attention, apraxia, agnosia“). Die organischen Stimmungs-, Wahn-, Angst- und
Persönlichkeitsstörungen wurden ihrer phänomenologischen „home base“ zugeordnet und dort als „Sekundärsyndrome
“ rubriziert.
In der ICD-10 werden
organische psychische Störungen einschließlich einer Reihe von psychischen Syndromen in der Kategorie F0 zusammengefasst, die ihre Ursache nachweisbar in einer zerebralen Krankheit, einer Hirnverletzung oder einer anderen Schädigung, die zu einer Hirnfunktionsstörung führt, haben. Die Funktionsstörung kann dabei primär sein, wie bei Krankheiten, Verletzungen oder Störungen, die das Gehirn direkt oder in besonderem Maße betreffen, oder sekundär, wie bei systemischen Krankheiten oder Störungen, die das Gehirn als eines von vielen anderen Organen oder Körpersystemen verändern. Die Bezeichnung „organisch“ bedeutet aber ausdrücklich nicht, dass Erkrankungen, die in anderen Sektionen beschrieben werden, als „nichtorganisch“ in dem Sinne anzusehen sind, dass sie sich nicht auf ein zerebrales Substrat beziehen.
Das
DSM-5 (American Psychiatric Association
2013) sieht grundlegende Veränderungen der diagnostischen Kategorien insbesondere für die Gruppe der
Demenzen vor. So sollen Demenzerkrankungen
und kognitive Störungen je nach ihrem Schweregrad, gemessen mittels standardisierter neuropsychologischer Verfahren, in „major“ und „minor neurocognitive disorder“ eingeteilt werden. Als kognitive Domänen werden Aufmerksamkeit, Handlungsplanung und -kontrolle, Lernen und Gedächtnis, Sprache, perzeptiv-motorische Fähigkeiten sowie soziale Kognition, die sowohl Verhaltensregulation als auch das Wahrnehmen von Emotionen (z. B. Gesichtererkennen) umfasst, benannt.
Für die Kategorie „minor
“ werden Defizite in einer oder mehreren dieser Domänen von mindestens einer, maximal zwei
Standardabweichungen unter der Norm einer alters-, geschlechts-, und bildungsstandardisierten Normpopulation gefordert. Alltagspraktische Funktionseinbußen können vorhanden sein, dürfen aber nicht zur Abhängigkeit von Hilfen bei komplexen Aufgaben führen. Für die Kategorie „major neurocognitive disorder
“ werden Defizite in mindestens einer kognitiven Domäne mit einem Ausmaß von zwei oder mehr Standardabweichungen unter der Norm gefordert. Also können auch monosymptomatische amnestische Störungen unter den „major“ NCD rubriziert werden.
Andererseits wird im
DSM-5 die bei den bisherigen Systemen vorhandene Engführung im Sinne obligater
Gedächtnisstörungen aufgegeben. Das erleichtert die Diagnosestellung bei Erkrankungen, die nicht primär oder in erster Linie durch Gedächtnisstörungen gekennzeichnet sind wie frontotemporale oder
vaskuläre Demenzen. Unselbstständigkeit im Alltag, der Ausschluss eines Delirs oder einer anderen psychischen Erkrankung, die geeignet wäre, die kognitiven Defizite zu erklären, bleiben als obligate Nebenkriterien im DSM-5 erhalten. Eine zusätzliche Spezifizierung beider Schweregrade der NCDs stellt das Vorhandensein oder Fehlen von Verhaltensstörungen dar (
Wahn,
Halluzinationen, Stimmungsveränderungen, Apathie, Agitation). Diese Syndrome werden nicht näher abgegrenzt (etwa gegenüber depressiven Erkrankungen), was als dezidierter Mangel des DSM-5 kritisiert wurde (Maier und Barnikol
2014). Die spezifische Diagnosestellung wird durch eine ätiologische Subspezifikation (z. B. aufgrund Alzheimerkrankheit, frontotemporal, mit Lewy-Körperchen, vaskulär etc.) erfasst. Ob durch die Einführung neuer Begrifflichkeiten und durch die Vermeidung des Terminus
Demenz eine Entstigmatisierung der betroffenen Patienten erfolgen wird, wie sich die Autoren erhoffen (Ganguli et al.
2011), wird sich erweisen müssen.
Die diagnostische Klassifikation des Delirs bleibt im
DSM-5 erhalten. Das Konzept der Bewusstseinsminderung („disturbance of consciousness“) wird jedoch durch ein komplexeres Konstrukt ersetzt („disturbance in attention and awareness“) und die spezifische Abgrenzung zur
Demenz gefordert. Alle weiteren
organischen psychischen Störungen bleiben ihren spezifischen psychopathologischen Kernsyndromen (Angststörung, Depression) zugeordnet und werden als „Sekundärsyndrome“ aufgrund einer allgemeinen medizinischen Erkrankung klassifiziert.