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Die Ärztliche Begutachtung
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Publiziert am: 09.06.2023

Thrombozyten – Begutachtung

Verfasst von: Theo Leitner, Axel Matzdorff und Job Harenberg
Thrombozyten sind kernlose Zellfragmente, die von den Megakaryozyten unter dem Einfluss von Thrombopoetin im Knochenmark gebildet werden. Die normale Thrombozytenzahl beträgt zwischen 150.000–400.000/μl. Thrombozyten zirkulieren 7 bis 10 Tage im Blut und werden dann von der Milz abgebaut. Es können sowohl quantitative Störungen (Thrombozytose oder Thrombozytopenie) als auch qualitative Störungen (Thrombozytopathien) auftreten. Die gutachtliche Bewertung richtet sich im wesentlichen nach etwaigen Komplikationen.

Einleitung

Thrombozyten sind kernlose Zellfragmente, die von den Megakaryozyten unter dem Einfluss von Thrombopoetin im Knochenmark gebildet werden. Die normale Thrombozytenzahl beträgt zwischen 150.000–400.000/μl. Thrombozyten zirkulieren 7 bis 10 Tage im Blut und werden dann von der Milz abgebaut. Es können sowohl quantitative Störungen (Thrombozytose oder Thrombozytopenie) als auch qualitative Störungen (Thrombozytopathien) auftreten.

Quantitative Defekte der Thrombozyten

Thrombozytosen

Eine Thrombozytose bezeichnet eine Erhöhung der Thrombozyten oberhalb des Normwertes (i. d. R. > 400.000/μl). Thrombozytosen treten häufig sekundär als Folge einer anderen Grunderkrankung auf und werden dann als reaktive Thrombozytosen bezeichnet.
Häufige Ursachen einer sekundären (reaktiven) Thrombozytose sind:
  • Anämie (z. B. in Folge eines akuten Blutverlusts, Eisenmangels oder einer Hämolyse)
  • Akute oder chronische Infektionskrankheiten
  • Autoimmunerkrankungen (z. B. Rheumatoides Arthritis, chronisch entzündliche Darmerkrankungen)
  • Krebserkrankungen
  • Verschiedene Medikamente (z. B. Glukokortikoide)
  • Schwangerschaften
  • Operationen
  • Nach Milzentfernung (Splenektomie)
Ursachen einer primären Thrombozytose sind neben sehr seltenen hereditären Defekten hauptsächlich myeloproliferative Erkrankungen. Neben der Polyzythämia vera, der primären Myelofibrose und der CML kann insbesondere die essenziellen Thrombozythämie zu einer massiven Thrombozytose führen.

Essenzielle Thrombozythämie

Es handelt sich um eine myeloproliferative Erkrankung, deren charakteristischer Leitbefund eine persistierende klonale Thrombozytenvermehrung ist. Verschiedene erworbene (somatische) Mutationen wurden identifiziert, die in der Pathogenese der Erkrankung eine zentrale Rolle spielen, dazu gehören Mutationen im JAK2-, CALR- oder MPL-Gen. Die Inzidenz beträgt 1 bis 2,5 Neuerkrankungen/100.000 Einwohner pro Jahr (Barbui et al. 2020). Das mediane Erkrankungsalter liegt bei ca. 60 Jahren.
Die Erkrankung wird häufig als Zufallsfund bei asymptomatischen Patienten diagnostiziert. Bei klinisch apparenten Verläufen stehen neben Symptomen einer möglichen Mikrozirkulationsstörung (u. a. Erythromyalgie, Kopfschmerzen oder Sehstörungen) insbesondere arterielle oder venöse thromboembolische Komplikationen im Vordergrund. In seltenen Fällen kann es auch zu Blutungen kommen, da sich infolge der ausgeprägten Thrombozytose ein erworbenes Von-Willebrand-Syndrom entwickeln kann.
Es gelten die Diagnosekriterien der WHO aus dem Jahr 2016: Diagnostisch wegweisend ist eine persistierende Thrombozytose > 450.000/μl. Eine zytomorphologische Begutachtung des Knochenmarks zeigt eine Proliferation und Vergrößerung der Megakaryozyten ohne relevante Auffälligkeiten der anderen Zellreihen und nur geringe Zeichen einer Knochenmarkfibrose. Ergänzend sollte eine molekulargenetische Diagnostik zum Nachweis der häufigsten Treibermutationen erfolgen. Vor der abschließenden Diagnosestellung müssen alternative (z. B. reaktive) Ursachen einer Thrombozytose sowie andere hämatologische Erkrankungen ausgeschlossen werden.
Die Therapie zielt insbesondere auf die Risikoreduktion thromboembolischer Komplikationen ab. Neben Allgemeinmaßnahmen zur Prophylaxe thromboembolischer Ereignisse kann dies auch eine Thrombozytenaggregationshemmung mit Aspirin beinhalten. Bei Hochrisikopatienten (Alter > 60 Jahre, Thrombozytose > 1,5 Mio/ul oder stattgehabter thromboembolischer Komplikationen) erfolgt ggf. eine zytoreduktive Behandlung mit Hydroxyurea oder Anagrelid.
Die Lebenserwartung entspricht weitgehend der Normalbevölkerung (Passamonti et al. 2004). Der Übergang in eine Myelofibrose, Polycythemia Vera oder akuten Leukämie ist möglich.
Gutachterliche Bewertungen
Häufig bestehen insbesondere in der Anfangsphase der Erkrankung keine oder wenige Einschränkungen im Bezug auf die soziale Teilhabe oder Arbeitsfähigkeit. Insbesondere bei günstiger Risikokonstellation besteht auch langfristig eine gute Prognose. Thromboembolische Ereignisse oder Blutungen können zu deutlichen Einschränkungen führen. Die Verhinderung solcher Komplikationen ist Ziel der Therapie.
Besteht eine Behandlungsbedürftigkeit der essenziellen Thrombozythämie, so kann nach der Versorgungsmedizinverordnung ein Grad der Schädigungsfolgen (GdS) festgelegt werden. Bei Behandlung mit Thrombozytenaggregationshemmern ist dieser mit 10 zu bemessen. Bei Notwendigkeit einer zytoreduktiven Therapie ist der GdS von therapieassoziierten Nebenwirkungen abhängig und kann dann zwischen 30 und 40 liegen. Ist es zu thrombembolischen Komplikationen (Myokardinfarkt, ischämischer zerebraler Insult, Venenthrombosen ggf. mit konsekutiver Lungenarterienembolie, sekundärer von Willebrand Faktor-Mangel mit Blutungen; Mikrozirkulationsstörungen im Bereich der Finger und Zehen (Erythromelalgie) oder des Gehirns) gekommen, so sind diese gemäß den resultierenden Funktionsstörungen gutachtlich zu würdigen.

Thrombozytopenie

Eine Thrombozytopenie ist die häufigste Ursache einer hämorrhagischen Diathese. Sie äußert sich in petechialen (punktförmigen) Einblutungen in Haut und Schleimhäute, Epistaxis und Menorrhagien. Flächenhafte Blutungen (Hämatome) oder diffuse Blutungen können hinzutreten, wenn die Thrombozytenzahl unter 10.000/μl absinkt. Eine Substitution mit Thrombozyten wird meist nur bei Werten unter 10.000/μl empfohlen oder wenn – unabhängig von der Thrombozytenzahl – Blutungen auftreten (British Committee for Standards in Haematology 2003).
Von einer Pseudothrombozytopenie spricht man, wenn sich Thrombozyten im mit EDTA antikoagulierten Blut verklumpen. Das kommt bei immerhin 1–5 ‰ aller Blutproben vor. Um Pseudothrombozytopenien zu erkennen, sollten die Thrombozyten erneut in Citratblut oder Heparinblut gezählt werden. Meist hilft bereits eine mikroskopische Betrachtung des gefärbten Blutausstriches. Der Ausschluss einer EDTA-Thrombopenie steht am Anfang jeder Thrombozytopeniediagnostik.
Die Ursachen für Thrombozytopenien sind sehr vielfältig, pathophysiologisch unterscheidet man eine unzureichende Neubildung im Knochenmark von einem vermehrten Thrombozytenabbau. Eine Bildungsstörung kann durch eine Infiltration und Verdrängung des Knochenmarks durch eine onkologische Grunderkrankung verursacht sein. Hierbei sind insbesondere Leukämien, myeloproliferative Neoplasien oder myelodysplastische Syndrome zu nennen. Aber auch fortgeschrittene solide Tumorerkrankungen können das Knochenmark infiltrieren (Knochenmarkkarzinose). Zahlreiche chemotherapeutische Medikamente wirken sich toxisch auf das Knochenmark aus und führen zu einer vorübergehenden Myelosuppression. Diese kann dosisabhängig zu einem chronischen toxischen Knochenmarksschaden führen. Weitere Ursachen für einen toxischen Knochenmarkschaden sind insbesondere ionisierende Strahlung, Benzolexposition, aber auch bestimmte Medikamente.
Ein vermehrter Verbrauch der Thrombozyten im peripheren Blut kann mechanisch bedingt sein (z. B. durch eine künstliche Herzklappe oder im Rahmen einer Hämodialyse), aber auch durch eine vergrößerte Milz (Splenomegalie). Weiterhin können autoimmune Reaktionen zu einem vermehrten Abbau der Thrombozyten führen, hierbei ist insbesondere die idiopathisch immunthrombozytopenische Purpura (ITP) zu nennen.
Beispiele für eine unzureichende Bildung der Thrombozyten im Knochenmark sind:

Immunthrombozytopenie (ITP)

Einen vermehrten Thrombozytenabbau findet man bei der Immunthrombozytopenie (ITP, Morbus Werlhof). Ursächlich sind Autoantikörper gegen Proteine der Thrombozytenmembran. Die Überlebenszeit der Thrombozyten verkürzt sich von normalerweise 7–10 Tagen auf wenige Tage oder Stunden. Ihr Abbau erfolgt in der Milz, der Leber und im Knochenmark. Die Antikörper schädigen auch die Megakaryozyten, wodurch es neben dem vermehrten Abbau auch noch zu einer Bildungsstörung im Knochenmark kommt.
Klinisch bedeutsam (und daher prognostisch wichtig) ist, dass Blutungskomplikationen bei Patienten mit Immunthrombozytopenien seltener als z. B. bei Zytostatika-induzierter Thrombopenie auftreten. Eine Milzvergrößerung spricht gegen eine ITP.
Kann keine Assoziation zu anderen Grunderkrankungen hergestellt werden, so spricht man von einer primären ITP (80 %). Tritt die ITP im Rahmen anderer (autoimmuner) Erkrankungen auf, so liegt eine sekundäre ITP vor. Ab einem Krankheitsverlauf von > 12 Monaten spricht man von einer chronischen ITP. Die Inzidenz liegt zwischen 2 und 4 Neuerkrankungen pro 100.000/Jahr (Terrell et al. 2010; Abrahamson et al. 2009). Das mediane Erkrankungsalter liegt bei Erwachsenen zwischen dem 50. und 60. Lebensjahr.
Asymptomatische Verläufe sind insbesondere bei milder Thrombozytopenie häufig. Typische Symptome sind Petechien und Schleimhautblutungen, schwere Blutungskomplikationen sind möglich. Die Diagnose ist weiterhin eine Ausschlussdiagnose. Diagnostisch erfolgt neben einer Blutungsanamnese die Anfertigung eines Blutbilds und eines Blutausstrichs. Eine Knochenmarkpunktion ist nur bei diagnostischer Unsicherheit zum Ausschluss hämatologischer Differenzialdiagnosen erforderlich.
Die Entscheidung zur Einleitung einer Therapie richtet sich nach dem Schweregrad der Thrombozytopenie und erfolgt in Abhängigkeit von Blutungskomplikationen und dem individuellen Krankheitsverlauf. In der Regel ist bei Thrombozyten > 20–30 tsd/μl ohne Blutungskomplikationen keine spezifische Therapie erforderlich. Bei Thrombozyten < 20 tsd/μl und/oder Blutungen erfolgt zunächst ein Therapieversuch mit Kortikosteroiden. Bei relevanten Blutungen können Transfusionen mit Thrombozytenkonzentraten erforderlich sein. Bei Therapieversagen stehen eine Reihe weiterer Therapieoptionen zur Verfügung: Eine Behandlung mit Thrombopoetin-Rezeptor-Agonisten (Romiplostim, Eltrombopag), Immunglobulinen, verschiedenen alternativen Immunsuppressiva, Rituximab und dem 2020 neu zugelassenen Wirkstoff Fostamatinib. Bei schweren Blutungskomplikationen und Therapieresistenz gegen oben genannte Substanzen, ist eine Splenektomie eine alternative Therapieoption.
Substanzen, die eine ITP verursachen können:
  • Acetaminophen
  • Ampicillin
  • Antazolin
  • Aspirin
  • Bleomycin
  • Cephalothin
  • Chinin
  • Chlorthalidon
  • Chlorothiazid
  • Chlorpropamid
  • Cimetidin
  • Diazoxid
  • Digitalisderivate
  • Diphenylhydantoin
  • Fenoprofen
  • Furosemid
  • Heparin
  • Heroin
  • Indomethacin
  • Isoniazid
  • α-Methyldopa
  • Nitrofurantoin
  • Oxyphenbutazon
  • Oxytetracyclin
  • Paraaminosalizylsäure
  • Penicillin
  • Pertussis-Impfstoff
  • Rifampicin
  • Sulfonamid
  • Sulindac
  • Tolbutamid
  • Trimethoprim

Medikamenteninduzierte Thrombozytopenie

Eine Vielzahl verschiedener Medikamente kann eine Thrombozytopenie verursachen. Pathophysiologisch ist eine direkte Toxizität gegenüber Thrombozyten oder Megakaryozyten von einer immunvermittelten Thrombozytopenie mit Bildung von Antikörpern abzugrenzen. In Abhängigkeit von der Ausprägung der Thrombozytopenie kommt es zumeist zu asymptomatischen Verläufen, jedoch hin bis zu schweren Blutungskomplikationen. Um das auslösende Medikament zu ermitteln, ist eine ausführliche Medikamentenanamnese sowie der Ausschluss alternativer Ursachen einer Thrombozytopenie erforderlich. Ergänzend kann eine laboranalytische Suche nach medikamentenabhängigen Thrombozyten-Antikörpern erfolgen. Die Suche kann dadurch erschwert werden, dass Patienten häufig eine Vielzahl verschiedener Medikamente einnehmen.
Die Therapie besteht in einer sofortigen Beendigung der Einnahme des ursächlichen Präparats. Ein Anstieg der Thrombozyten ist bereits nach wenigen Tagen zu erwarten. Bei stark ausgeprägter Thrombozytopenie und insbesondere bei Blutungskomplikationen erfolgt eine Transfusion mit Thrombozytenkonzentraten. Kommt es unter einer Transfusionstherapie nicht zu einem ausreichenden Anstieg der Blutplättchen, so kann eine Behandlung mit hoch dosierten Immunglobulinen erwogen werden.
Die Heparin-induzierte Thrombopenie (HIT) kommt bei intravenöser Heparintherapie mit unfraktioniertem Heparin in 1 bis 2 % der Fälle, bei subkutaner Gabe niedermolekularen Heparins in weniger als 0,5 % vor. Der Typ 1 tritt dosisabhängig innerhalb der ersten 2–3 Tage auf. Die Thrombozytenzahl fällt meist nicht unter 100.000/μl und erholt sich auch unter Fortführung der Heparintherapie.
Der Typ 2 tritt dosisunabhängig 4–14 Tage nach Einleitung der Heparintherapie auf. Hier haben sich Heparin-abhängige Antikörper gegen Strukturen des Plättchenfaktors 4 gebildet, die eine Thrombozytenaggregation und Thrombozytopenie induzieren. Klinisch manifestiert sich der Typ 2 mit thromboembolischen Komplikationen („White-Clot-Syndrom“) und gleichzeitig einer Blutungsneigung. Die Heparintherapie muss sofort abgesetzt werden. Der Patient braucht einen Notfallausweis. Heparin-induzierte Thrombozytopenien vom Typ 2 werden, wenngleich seltener, auch nach Gabe niedermolekularer Heparine beobachtet.
Medikamente und Noxen, die eine Thrombozytopenie auslösen können:
  • Acetaminophen
  • Acetylsalizylsäure
  • Allopurinol
  • Amphotericin
  • Ampicillin
  • Benzen
  • Chinin
  • Chloramphenicol
  • Chlordiazepoxid
  • Chlorpromazin
  • Chlorpropamid
  • Chlorthalidon
  • Cholchicin
  • Cimetidin
  • Diazepam
  • Diethylstilbestrol
  • Diphenylhydantoin
  • Estrogen
  • Furosemid
  • Glykoprotein-IIb/IIIa-Rezeptor-Antagonisten
  • Heparin
  • Indomethacin
  • Mephenytoin
  • Naproxen
  • Oxyphenbutazon
  • Piperacillin
  • Prednison
  • Pyrimethamin
  • Quinacrin
  • Streptomycin
  • Sulfamethoxazol
  • Sulfisoxazol
  • Sulfonamid
  • Thiazid
  • Ticlopidin
  • Tolbutamid

Disseminierte intravasale Gerinnung (Verbrauchskoagulopathie)

Eine besonders schwere Form des vermehrten peripheren Thrombozytenverbrauchs stellt eine überschießende intravasale Aktivierung der Gerinnung im Rahmen einer Disseminierten intravasalen Gerinnung (engl.: disseminated intravascular coagulation, DIC) dar. Eine DIC ist grundsätzlich Folge einer schweren Grunderkrankung und tritt nicht isoliert auf. Ursachen für eine DIC sind u. a.:
  • Schwere Infektionen (Sepsis)
  • Große Operationen oder Verletzungen
  • Tumorerkrankungen
  • Gynäkologische Grunderkrankungen (u. a. Präeklampsie)
  • Intravaskuläre Hämolyse
Ursächlich ist eine generalisierte Gerinnungsaktivierung, die zu einer vermehrten Thrombinbildung und thromboembolischen Komplikationen kleinerer und mittlerer Gefäße führt. In der Folge kann es zu Organschädigung (u. a. Leber, Niere und Lunge) kommen. Im Verlauf steht dann aufgrund eines Verbrauchs von Gerinnungsfaktoren und Thrombozyten ein erhöhtes Risiko für Blutungen im Vordergrund.
Im Blutbild zeigt sich eine Thrombozytopenie. Das Fibrinogen und das Antithrombin sind vermindert, die D-Dimere erhöht.
Therapeutisch steht die Behandlung der auslösenden Grunderkrankung im Vordergrund. In der Anfangsphase kann die Gabe von Heparin die überschießende Gerinnungsaktivierung positiv beeinflussen. Im Verlauf ist insbesondere bei Thrombopenie und Blutungskomplikationen die Gabe von Heparin kontraindiziert. Bei Blutungskomplikation erfolgt die Substitution von Thrombozyten, Antithrombin und Fibrinogen, ggf. auch von Plasmakonzentraten.

Thrombotisch-thrombozytopenische Purpura (TTP)

Es handelt sich um eine seltene Ursache einer Thrombozytopenie mit einer Inzidenz von ca. 2 auf 1 Mio. Einwohner pro Jahr (Miesbach et al. 2019). Die TTP (synonym: Morbus Moschcowitz) ist eine Form der thrombotischen Mikroangiopathie, in deren Folge es zu Thrombenbildung kleiner Gefäße und mikroangiopathischer Schädigung verschiedener Organe wie Niere und Gehirn kommt. Charakteristisch ist eine ausgeprägte Thrombozytopenie, begleitet von einer hämolytischen Anämie. Symptome einer Niereninsuffizienz und neurologische Komplikationen (z. B. Delir, epileptischer Anfall) sind möglich. Ursächlich ist eine deutlich verminderte Aktivität der ADAMTS13, eine Protease, deren Aufgabe die enzymatische Spaltung des von-Willebrand-Faktors ist. Eine Akkumulation ungespaltener von-Willebrand-Faktor-Multimere führt zu einer vermehrten Thrombenbildung insbesondere in kleinen Gefäßen. Ein ADAMTS13-Mangel kann angeboren oder erworben sein. Bei Letzterem liegt eine antikörpervermittelte Inhibition von ADAMTS13 vor. Diagnostisch wegweisend sind neben dem Nachweis einer Thrombopenie und hämolytischen Anämie die Bestimmung einer deutlich verminderten ADAMTS13-Aktivität. Die Therapie beinhaltet die Gabe von Fresh Frozen Plasma (FFP), Plasmapherese und ggf. eine Immunsuppression mit Glukokortikoiden. Die Gabe von Rituximab stellt eine weitere Therapieoption dar. Die Erkrankung geht mit einer hohen Letalität einher.

Qualitative Störungen der Thrombozyten (Thrombozytopathien)

Defekte der Thrombozytenfunktion

Störungen der Thrombozytenfunktion werden als Thrombozytopathien bezeichnet. Es werden angeborene von erworbenen Thrombozytopathien unterschieden. Diagnostisch ist insbesondere eine verlängerte Blutungszeit auch unabhängig der Thrombozytenzahl wegweisend. Eine mikroskopische Beurteilung der Plättchenmorphologie im Blutausstrich, eine Plättchendurchflusszytometrie sowie eine Thrombozytenfunktionsdiagnostik mittels Platelet Function Analyzer (PFA) können die Verdachtsdiagnose auf eine Funktionsstörung der Plättchen erhärten.
Angeborenen Thrombozytopathien sind sehr selten, beispielhaft sind das Bernard-Soulier-Syndrom und die ThrombasthenieMorbus Glanzmann zu nennen.
Erworbene Thrombozytopathien treten in Folge verschiedener Grunderkrankungen auf. Nicht immer ist die Pathophysiologie vollständig verstanden. Weiterhin treten Plättchenfunktionsstörungen als erwünschte oder unerwünschte Wirkung verschiedener Medikamente auf.
Medikamente, die zu einer Thrombozytenfunktionsstörung führen:
Erkrankungen, die die Thrombozytenfunktion stören können:

Gutachterliche Bewertung

Die meisten Thrombozytopenien und Thrombozytenfunktionsstörungen, die als Folge einer medikamentösen Therapie auftreten, sind nach Beendigung der Medikamenteneinnahme reversibel. Treten Blutungskomplikationen in Folge einer medikamenteninduzierten Thrombozytopenie oder Thrombozytenfunktionsstörung auf und haben diese bleibende Schäden zur Folge, so können sich Haftungsfragen stellen; Funktionsstörungen sind jeweils nach Art und Ausmaß als GdB zu würdigen.
Dabei ist dann im Wesentlichen relevant, ob die Indikationsstellung für die Einleitung einer medikamentösen Therapie korrekt und der Patient über mögliche Risiken ausreichend aufgeklärt war. Auch Therapiedauer, Dosierung und die Berücksichtigung möglicher Medikamenteninteraktionen können Grundlage gutachterlicher Fragestellungen sein.
Bei der Anwendung einer Thrombozytenaggregationshemmung in der Therapie und Sekundärprophylaxe kardiovaskulärer Ereignisse ist die Therapieindikation durch zahlreiche große Studien belegt und durch internationale Leitlinien vorgegeben. Dennoch ist eine Nutzen-Risiko-Abwägung, die das individuelle Blutungsrisiko eines Patienten berücksichtigt, in regelmäßigen Abständen erforderlich. Das Auftreten neuer Erkrankungen kann das Risiko für Blutungskomplikationen zusätzlich erhöhen (z. B. Tumorerkrankungen des Magen-Darm-Trakts, Leberzirrhose, Nierenerkrankungen). Insbesondere bei geplanten invasiven (operativen) Eingriffen muss das Risiko einer Pausierung der Thrombozytenaggregationshemmung dem eingriffsabhängigen Blutungsrisiko gegenübergestellt werden. Eine enge Absprache zwischen den unterschiedlichen Fachdisziplinen ist notwendig und der Patient muss über das Risiko einer Pausierung der Aggregationshemmung aufgeklärt werden. Der Stellenwert einer Thrombozytenaggregationshemmung in der Primärprophylaxe ist umstritten. Hier scheint das Risiko für relevante Blutungskomplikationen den potenziellen Nutzen zu überwiegen (Nudy et al. 2020).
Eine Disseminierte intravasale Gerinnung kann Folge eines Unfallgeschehens bzw. der dadurch notwendig gewordenen operativen oder intensivmedizinischen Maßnahmen sein. Daher können auch thromboembolische Ereignisse oder Blutungskomplikationen, die im Rahmen einer DIC auftreten, als Unfallfolgen anerkannt werden.
Nummer
Berufskrankheit
Hämatologische Folgen
1101
Erkrankungen durch Blei oder seine Verbindungen
Toxisch-hämolytische Anämie, Störung des Hämoglobinstoffwechsels mit Porphyrinurie (Koproporphyrin III). Vermehrung der basophil getüpfelten Erythrozyten (ist jedoch nicht spezifisch für Bleiintoxikation)
1108
Erkrankungen durch Arsen oder seine Verbindungen
Toxisch-hämolytische Anämie durch Arsen-Wasserstoff, Hämoglobinurie
1201
Erkrankungen durch Kohlenmonoxid
Kohlenmonoxid-Hämoglobin
1302
Erkrankungen durch Halogenkohlenwasserstoffe
Aplastische Anämie, Granulozytopenie bis zur Agranulozytose, Thrombozytopenie
1303
Erkrankungen durch Benzol, seine Homologe oder durch Styrol
Quantitative und qualitative Veränderungen der Leukozyten, Erythrozyten und Thrombozyten
1304
Erkrankungen durch Nitro- oder Aminoverbindungen des Benzols oder seiner Homologe oder ihrer Abkömmlinge
Toxisch-hämolytische Anämie, Methämoglobinbildung, Porphyrinurie
1309
Erkrankungen durch Salpetersäureester
Methämoglobinbildung
1318
Erkrankungen des Blutes, des blutbildenden und des lymphatischen Systems durch Benzol
Toxische Knochenmarkdepression, aplastische Anämie, MDS, Leukämien, Non-Hodgkin-Lymphome, myeloproliferative Neoplasien
1320
Chronisch-myeloische oder chronisch-lymphatische Leukämie durch 1,3-Butadien bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Dosis von mindestens 180 Butadien-Jahren (ppm x Jahre)
Chronisch myeloische und chronisch lymphatische Leukämie
2402
Aplastische Anämie, Granulozytopenie bis zur Agranulozytose, Thrombozytopenie, chronisch myeloische Leukämie, akute lymphatische und myeloische Leukämie
Literatur
Abrahamson PE et al (2009) The incidence of idiopathic thrombocytopenic purpura among adults: a population-based study and literature review. Eur J Haematol 83(2):83–89CrossRefPubMed
Barbui T et al (2020) The new WHO classification for essential thrombocythemia calls for revision of available evidences. Blood Cancer J 10(2):22CrossRefPubMedPubMedCentral
British Committee for Standards in Haematology, B.T.T.F (2003) Guidelines for the use of platelet transfusions. Br J Haematol 122(1):10–23CrossRef
Miesbach W et al (2019) Incidence of acquired thrombotic thrombocytopenic purpura in Germany: a hospital level study. Orphanet J Rare Dis 14(1):260CrossRefPubMedPubMedCentral
Nudy M et al (2020) Aspirin for primary atherosclerotic cardiovascular disease prevention as baseline risk increases: a meta-regression analysis. Am J Med 133(9):1056–1064CrossRefPubMed
Passamonti F et al (2004) Life expectancy and prognostic factors for survival in patients with polycythemia vera and essential thrombocythemia. Am J Med 117(10):755–761CrossRefPubMed
Terrell DR et al (2010) The incidence of immune thrombocytopenic purpura in children and adults: a critical review of published reports. Am J Hematol 85(3):174–180PubMed