Die Änderung der Lebensbedingungen wird auf einer individuellen genetischen Prädisposition wirksam: Personen, die darunter ihre Ernährungs- und Bewegungsgewohnheiten deutlich ändern und die Veranlagung zu einer Gewichtszunahme haben, sind eher von der Entwicklung einer
Adipositas betroffen als Personen, bei denen diese genetischen Voraussetzungen nicht vorliegen. Dies erklärt auch, dass die Kinder mit hohem Körpergewicht in den letzten Jahren vergleichsweise deutlich mehr an Gewicht zugenommen haben als die Kinder im Bereich der niedrigen Körpergewichte.
Ein großer Teil der Kinder in unserem Land ist durch das Aufwachsen unter adipositasfördernden Lebensbedingungen gefährdet, eine
Adipositas und dadurch bedingte erhebliche Komorbiditäten zu entwickeln. Der rezente Anstieg der Adipositasprävalenz ist das Ergebnis veränderter Lebensbedingungen, die nur teilweise unter individueller Kontrolle stehen.
Regulationsprinzipien
Der Energiegehalt des Körpers und damit das Körpergewicht werden durch fein aufeinander abgestimmte Regulatoren aus den genannten unterschiedlichen physiologischen Systemen im Gleichgewicht gehalten bzw. den altersabhängigen physiologischen Änderungen angepasst. Wenn der Energiegehalt des Körpers und damit das Körpergewicht nicht biologisch reguliert wären, würde beispielsweise eine zusätzliche Energiezufuhr von nur 150 kcal pro Tag oberhalb des Gleichgewichts in einen Energieüberschuss von ca. 55.000 kcal/Jahr und in eine Gewichtszunahme von mehr als 10 kg/Jahr resultieren.
Es können offensichtlich zwei übergeordnete Regulationsprinzipien unterschieden werden: Bei der kurzfristigen Kontrolle der Energiebilanz spielen Signale aus dem Magen-Darm-Trakt (
Ghrelin,
Peptid YY, pankreatisches Polypeptid, Oxyntomodulin [OXM], „glucagon-like petide 1“ [GLP-1]) sowie Nahrungsmetabolite eine wichtige Rolle. Für die langfristige Kontrolle der Energiebilanz und die Sicherung der Stabilität des Gewichts und der Körperzusammensetzung ist ein Informationsaustausch zwischen den Energiereservoirs des Körpers und den übergeordneten hypothalamischen Zentren nötig (z. B.
Leptin).
Störgrößen, die Änderungen des Gleichgewichts herbeiführen wollen (z. B. Maßnahmen zur Gewichtsreduktion), werden normalerweise durch kompensatorische Mechanismen (z. B. Reduktion des Grundumsatzes) beantwortet, um so das Energiegleichgewicht zu stabilisieren. Die Entwicklung einer
Adipositas wird dann möglich, wenn Störfaktoren in den regulierenden Systemen keine adäquate Antwort finden. Dabei sind wie oben erwähnt kleinste Energieüberschüsse pro Tag ausreichend, um ein progredientes Wachstum der Energiespeicher und damit des Körperfettorgans auszulösen.
Einige Gene, die die molekularen Komponenten dieser Regulationssysteme kodieren, wurden zunächst bei Tieren identifiziert und dann in ihrer Bedeutung beim Menschen bestätigt.
An der Regulation des Hunger- und Sättigungsempfindens und der Energiehomöostase sind zahlreiche Hormone und
Neurotransmitter in übergeordneten hypothalamischen Zentren beteiligt. Ursprünglich ließen tierexperimentelle Untersuchungen aus den 1950er-Jahren vermuten, dass anatomisch definierte Zentren für die Regulation des Körpergewichts verantwortlich sind (Läsionen des lateralen Hypothalamus führen zu einer Gewichtsabnahme, Läsionen des medialen Hypothalamus zu einer Gewichtszunahme). Nach Entdeckung des Fettgewebsbotenstoffes
Leptin und der Identifikation der Zielgebiete von Leptin im zentralen Nervensystem wurde klar, dass die Regulation des Körpergewichts besser über funktionelle Einheiten (Neuronengruppen) beschrieben wird.
Eine Erhöhung der Leptinkonzentration führt zur gesteigerten Expression des Hormonvorläufers Proopiomelanokortin (POMC). Dies geschieht in einer Neuronengruppe im Nucleus arcuatus. Das aus POMC freigesetzte α-Melanozyten stimulierende Hormon (α-MSH) bindet an den Melanokortin-4-Rezeptor (MC4-R) und wirkt sättigend. Bei einem Abfall der Leptinkonzentration kommt es dagegen zu einer vermehrten Expression von
Neuropeptid Y (NPY), einem potenten, zentral wirksamen Appetitstimulator. Die verschiedenen Neurone des Nucleus arcuatus stehen in axonalem Kontakt zu den oben genannten und lange bekannten Hunger- bzw. Sättigungszentren des Hypothalamus (Neurone 2. Grades). Dopamin und
Serotonin wirken appetithemmend. Diese Tatsache ist auch Ansatzpunkt für Entwicklungen in der Pharmakotherapie der
Adipositas: Beispielsweise kann eine Minderung des Appetits durch eine Hemmung der Serotoninwirkung erreicht werden oder es kann durch eine zusätzliche katecholaminerge Wirkung eine gleichzeitige Steigerung des sympathischen Nervensystems erzielt werden.
Physiologische Vorgänge, die zur Stabilisierung des Körpergewichts und der Energiehomöostase beitragen und durch die übergeordneten Zentren im ZNS reguliert werden, sind der Grundumsatz, die Thermogenese, die Fettoxidation, die Aktivität des sympathischen Nervensystems und der Adipozytendifferenzierung (z. B. PPAR, Peroxisome proliferator-activated receptor) sowie verschiedene endokrine Regelkreise.
Die meisten dieser Krankheiten sind durch weitere eindeutige klinische Merkmale ohne weitere Diagnostik erkennbar. Da ein adipöses Kind normalerweise eine Akzeleration des Längenwachstums zeigt, sollte bei jedem Patienten mit verzögertem Wachstum eine sekundäre
Adipositas ausgeschlossen werden.
Stoffwechselstörungen, Hypertonie und metabolisches Syndrom
Die Anlage überschüssiger Fettgewebsdepots begünstigt das Auftreten von zahlreichen Folgekrankheiten wie Dyslipoproteinämie, Störungen der Glukoseregulation,
Diabetes mellitus Typ 2 (Kap. „Diabetes mellitus bei Kindern und jugendlichen“) und
Hypertonie, die letztlich ein erhöhtes Arterioskleroserisiko zur Folge haben. Die Wurzeln dieser bedeutendsten Zivilisationskrankheiten liegen bereits in der Kindheit. Ein zentraler, pathogenetisch relevanter Befund ist die Insulinresistenz.
Erhöhte Blutfettwerte sowie charakteristische
Dyslipoproteinämien (meist Typ 2a oder 2b nach Fredrickson) werden bereits in der Kindheit durch
Adipositas ausgelöst oder verstärkt. Der
Diabetes mellitus Typ 2 ist in den USA bereits für ein Drittel aller neuen Diabetesfälle bei Jugendlichen verantwortlich. Dieser Anstieg der
Prävalenz des Diabetes mellitus Typ 2 erfolgte in den letzten Jahren parallel zum Anstieg der Adipositasprävalenz in dieser Altersgruppe. In Deutschland zeigen verschiedene aktuelle Kohortenstudien, dass bei Kindern- und Jugendlichen mit Adipositas die Prävalenz des Typ-2-Diabetes mellitus bei 1 % und die der gestörten Glukosetoleranz bei 3–6 % liegen (Kap. „Diabetes mellitus bei Kindern und Jugendlichen“).
Erhöhte Blutdruckwerte finden sich häufig bei adipösen Kindern und Jugendlichen. Diesem Befund kommt bereits ein erhöhtes Morbiditätsrisiko zu. Eine echte
arterielle Hypertonie ist nicht einfach zu diagnostizieren. Eine 24-h-Blutdruckmessung ist dazu erforderlich.
Für Insulin-, Cholesterin- und Triglyzeridspiegel sowie für den Blutdruck liegt offenbar ein sog. tracking vor, d. h. das relative Niveau der
Messwerte bleibt während der Zunahme des Alters gleich. Hiernach können theoretisch eine pathologische Glukosetoleranz, eine Dyslipoproteinämie oder eine
Hypertonie des Erwachsenen bereits in der Kindheit prognostiziert werden und somit eine Risikoeinschätzung der bestehenden
Adipositas schon sehr früh erfolgen.
Es ist bekannt, dass es bei adipösen Erwachsenen häufig zu einem sog. Clustering von Risikofaktoren kommt: Die Kombination von Hyperinsulinämie, pathologischer Glukosetoleranz, Dyslipoproteinämie, Hyperurikämie und erhöhtem Blutdruck bedingt das metabolische Syndrom. Die beobachtete Anhäufung dieser Befunde bei mehreren Familienmitgliedern lässt auch auf eine genetische Prädisposition schließen. Diese kann möglicherweise kausal mit der Aktivität der 11β-Hydroxysteroid-Dehydrogenase Typ 1 (11β-HSD-1), einem
Enzym, das für die Bildung von
Kortisol aus Kortison verantwortlich ist und in omentalen Adipozyten exprimiert wird, in Zusammenhang gebracht werden.
Die entsprechenden Patienten zeichnen sich auch durch eine abdominal betonte Körperfettverteilung aus mit vergrößerten intraabdominalen Fettdepots. Dem viszeralen Fettgewebe kommt eine Schlüsselrolle bei der Entstehung dieser metabolischen Störungen zu. Es zeichnet sich im Vergleich zum subkutanen durch eine höhere Zelldichte, eine dichtere Innervation, kleinere Zellen mit höherer Dichte adrenerger Rezeptoren und einen erhöhten Blutfluss aus. Dies bedingt, dass es metabolisch aktiver ist. In Abhängigkeit von der im viszeralen Fett vorherrschenden lipolytischen Aktivität kommt es zum Anfluten von freien
Fettsäuren im portalen Kreislauf, wodurch es zu einer Steigerung der hepatischen Lipoproteinproduktion und zu einer Beeinträchtigung der hepatischen Insulinextraktion kommt. Da viszerales Fett während der
Pubertät an Größe zunimmt, ist davon auszugehen, dass sich die metabolischen Veränderungen zeitgleich vermehrt einstellen.
Neuere Untersuchungen zeigen, dass ein Clustering von Risikofaktoren des metabolischen Syndroms bei Kindern mit
Adipositas bereits präpubertär gefunden werden kann. Während der
Pubertät kommt es zu einer deutlicheren Ausprägung dieser Risikofaktoren aufgrund der in der Pubertät zunehmenden Insulinresistenz. In den USA liegt die
Prävalenz des metabolischen Syndroms bei normalgewichtigen Jugendlichen bei 0,1 %, bei übergewichtigen Jugendlichen bei 6,8 % und bei adipösen Jugendlichen bei 28,7 %. Die Prävalenzzahlen hängen naturgemäß von der verwendeten Definition der einzelnen Grenzwerte für die Faktoren des metabolischen Syndroms ab.
Das metabolische Syndrom ist der Motor für die Entwicklung kardiovaskulärer Erkrankungen und des Altersdiabetes. Kinder und Jugendliche, bei denen Hinweise für ein
metabolisches Syndrom gefunden werden, sollten im Verlauf regelmäßig nachuntersucht werden. Neben verhaltenstherapeutischen Maßnahmen mit dem Ziel einer Verbesserung des Ernährungs- und Bewegungsverhaltens (siehe unten, „Therapie“) muss zukünftig auch der Einsatz von Medikamenten überprüft werden. Dabei ist es zunächst sinnvoll, die Insulinresistenz mit sog. Insulin-Sensitizern zu behandeln (z. B. Metformin). Bevor hierfür eine generelle Empfehlung ausgesprochen werden kann, sind weitere kontrollierte Studien notwendig.