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Die Ärztliche Begutachtung
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Publiziert am: 20.03.2024

Leukozyten und Leukämie – Begutachtung

Verfasst von: Theo Leitner, Axel Matzdorff und Job Harenberg
Zu den Leukozyten (= weiße Blutkörperchen) gehören eine Reihe verschiedener Zellen des Blutes und des lymphatischen Systems, deren primäre Aufgabe die Abwehr von Krankheitserregern ist. Sie werden im Knochenmark aus hämatopoetischen Stammzellen gebildet und durchlaufen einen Reifungsprozess. Leukämien entstehen durch eine Proliferation unreifer Blasten im Knochenmark und konsekutiver Verdrängung der normalen Hämatopoese. Es kommt zu Anämie, Neutro- und Thrombozytopenie. Ursache ist eine chromosomale Schädigung einer Stammzelle, die dadurch neoplastisch transformiert und klonal expandiert. Leukämien werden nach morphologischen, zytochemischen, immunologischen und zytogenetischen Kriterien eingeteilt. In Abhängigkeit der betroffenen Vorläuferzellen unterscheidet man myeloische von lymphatischen Leukämien. Bei entsprechender Exposition z. B. mit radioaktiven Stahlungen oder chemischen Substanzen, ist die Anerkennung einer Berufskrankheit möglich. Besondere Relevanz bekommt die Begutachtung zudem im Rahmen der Feststellung einer Schwerbehinderung (GdS/GdB) nach der Versorgungsmedizin-Verordnung.

Leukozyten

Zu den Leukozyten (= weiße Blutkörperchen) gehören eine Reihe verschiedener Zellen des Blutes und des lymphatischen Systems, deren primäre Aufgabe die Abwehr von Krankheitserregern ist. Sie werden im Knochenmark aus hämatopoetischen Stammzellen gebildet und durchlaufen einen Reifungsprozess. In Abhängigkeit des Ursprungs ihrer Entstehung werden Leukozyten der lymphatischen oder der myeloischen Reihe zugeordnet. Die Granulozyten gehen aus der myeloischen Reihe hervor und werden in neutrophile, basophile und eosinophile Granulozyten unterteilt. Zusätzlich entstammen die Monozyten und Mastzellen der myeloischen Reihe. Die lymphatische Reihe bringt die Lymphozyten hervor, die sich nach ihrer Entstehung im Knochenmark im lymphatischen System (u. a. Lymphknoten und Milz bzw. Thymus) weiter differenzieren. Unterschieden werden B- und T-Lymphozyten sowie natürliche Killerzellen.
In der Routinediagnostik kann die Anzahl der Leukozyten im Rahmen eines sog. „kleinen Blutbildes“ bestimmt werden. Eine pathologisch vermehrte Leukozytenzahl nennt man Leukozytose, eine Verminderung wird als Leukozytopenie bezeichnet. Eine weitere Differenzierung der Zusammensetzung der unterschiedlichen Leukozytenpopulationen kann mit Hilfe eines Differentialblutbildes erfolgen. Besteht der Verdacht auf eine neoplastische Knochenmarkserkrankung, kann ergänzend zum Blutbild eine Knochenmarkpunktion durchgeführt werden. Sie wird heutzutage fast ausschließlich am hinteren oberen Beckenkamm durchgeführt. Hierbei kann Knochenmark aspiriert oder aber eine Knochenmarkstanze entnommen werden. Nach Aspiration erfolgt ein Ausstrich auf einem Objektträger und eine Anfärbung des Präparats, dann kann mikroskopisch eine zytomorphologische Begutachtung erfolgen. Das Aspirat kann ggf. ergänzend immunphänotypisch oder molekulargenetisch beurteilt werden. Eine Knochenmarkstanze kann nach Entkalkung histopathologisch begutachtet werden.

Reaktive Veränderungen der Leukozyten

Während sich die Erythrozytenzahl – außer bei Blutungen – nur relativ langsam verändert, reagieren Leukozyten rasch auf eine Vielzahl von Stimuli. Infektionen, Medikamente, Verbrennungen u. a. können zu einem raschen Abfall (Leukopenie) oder Anstieg (Leukozytose) führen. Dies betrifft vor allem die Granulozyten. In der Regel verändern sich nicht alle Leukozytentypen gleichzeitig. Die quantitativ veränderte Zellgruppe sollte gezielt benannt werden (z. B. Neutrophilie, Eosinophilie, Lymphozytose usw.).

Vermehrung neutrophiler Granulozyten und Linksverschiebung

Der Begriff „neutrophile Leukozytose“ bezeichnet eine Vermehrung der neutrophilen Granulozyten. Eine „Linksverschiebung“ ist eine Ausschwemmung von frühen Formen der Granulozyten, den „Stabkernigen“ bei Stimulation des Knochenmarks. Da beim manuellen Auszählen der Blutzellen in früheren Zeiten die Spalte für diese Zellen auf dem Zählblock links von den reifen Granulozyten eingezeichnet war, spricht man von „Linksverschiebung“. Eine massive „Linksverschiebung“ bis hin zur Ausschwemmung von Promyelozyten oder gar Myeloblasten ist selten und wird als leukämoide Reaktion bezeichnet. In diesem Fall muss die Differenzialdiagnose zur akuten oder chronisch-myeloischen Leukämie gestellt werden.
Ursachen für neutrophile Leukozytosen finden sich in der folgenden Übersicht.
Übersicht: Neutrophile Leukozytosen
(Nach Heimpel et al. 1996; Kroschinsky et al. 2007)
Grenzwertig bis mäßig (8–15 G/l):
  • Situationsleukozytose (postprandial, akuter Stress, Kälteexposition, Ketoazidose)
  • „Raucher-Leukozytose“ (meist nicht über 20.000/μl, keine unreifen Vorformen)
  • Medikamentös induzierte Leukozytose (Kortikoide, Lithium, Antikontrazeptiva)
  • Schwangerschaft, postpartal
  • Akute Blutungen
  • Gewebsdestruktion (z. B. Myokardinfarkt, Apoplexie, arterielle Thromboembolie, Trauma)
  • Bakterielle Infektionen, Varizella Zoster
  • Malignome (Karzinome, Sarkome, Morbus Hodgkin)
  • Zustand nach Milzexstirpation
Mäßig bis ausgeprägt (15–50 G/l):
  • Akuter Blutverlust
  • Bakterielle, vor allem pyogene Infektionen
  • Karzinome (z. B. Magen, Pankreas, Gallenblase, Bronchus)
  • Chronische myeloproliferative Neoplasie (Osteomyelofibrose, chronische myeloische Leukämie)
Stark (> 50 G/l):
Außerdem gilt:
  • Bei bakteriellen Infektionen findet man neben den neutrophilen Granulozyten häufig eine „Linksverschiebung“ und toxische Granulationen;
  • eine Leukozytose mit Anämie kann auf einen Tumor oder einen chronischen Infekt hinweisen;
  • eine Leukozytose mit Thrombozytose findet man bei Tumoren, bestimmten Infektionen, Autoimmunprozessen (z. B. rheumatoide Arthritis) und bei chronischen myeloproliferativen Erkrankungen;
  • bei starken Rauchern findet man eine sog. „Raucher-Leukozytose“, die Neutrophilen steigen in der Regel nicht über 20.000/μl an.

Eosinophilie

Eine Erhöhung der eosinophilen Granulozyten findet sich bei
  • allergischen Erkrankungen (Asthma bronchiale, allergischer Rhinitis, allergische Reaktionen auf Nahrungsmittel und Medikamente)
  • Infektionen (besonders bei parasitären Infektionen durch Würmer oder Ektoparasiten, aber auch bei viralen Infekten und Mykosen)
  • Hämatologisch-onkologische Erkrankungen (Lymphome, chronisch myeloische Leukämie, systemische Mastozytose, chronische eosinophile Leukämie, seltener solide Tumoren),
  • Autoimmunerkrankungen (u. a. Sarkoidose, chronisch entzündliche Darmerkrankungen, eosinophile Granulomatose mit Polyangiitis)

Basophilie

Basophilie ist ein seltener Befund, der mit einer Eosinophilie einhergehen kann. Ursachen einer Basophilie sind chronisch myeloproliferative Erkrankungen (insbesondere chronisch myeloische Leukämie, Polycythämia Vera) oder seltener allergischen Reaktionen, Tuberkulose oder Colitis ulcerosa.

Vermehrung der Monozyten

Bei bakteriellen (Brucellose, Tuberkulose, Endokarditiden, Syphillis), viralen (z. B. Varizella Zoster) oder parasitären Infektionen und hämatologischer Neoplasie wie CML, AML und Hodgkin Lymphomen. Weiterhin autoimmune Erkrankungen wie Sarkodiose und chronisch entzündliche Darmerkrankungen. Ebenso kann eine Schwangerschaft zu einer Monozytose führen.

Lymphozytose

Lymphozytose findet sich im Rahmen viraler Infekte (Röteln, Mumps, infektiöse Mononukleose). Eine ausgeprägte Lymphozytose kann bei der chronisch lymphatischen Leukämie auftreten.

Leukozytopenie, Neutropenie, Lymphopenie

Eine Verminderung der Leukozyten (Leukopenie) beruht meist auf einem Abfall der neutrophilen Granulozyten (Neutropenie). Eine Verminderung der Eosinophilen, Basophilen oder Monozyten fällt quantitativ dagegen wenig ins Gewicht. Eine Lymphozytopenie findet man beim Morbus Hodgkin, bei Karzinomen oder bakteriellen Infekten (aktive Tuberkulose!) sowie im fortgeschrittenen Stadium einer HIV-Infektion.
Für prognostische und gutachtliche Einschätzungen ist bedeutsam, dass Neutropenien bis 1000/μl meist asymptomatisch bleiben. Bei Neutropenien von weniger als 500/μl sind indessen Infektionen häufig, insbesondere wenn ein Tumorleiden vorliegt und eine Chemotherapie vorausgegangen ist.
Der prophylaktische Einsatz von granulopoetischen Wachstumsfaktoren (G-CSF) ist bei Neutropenien im Falle drohender Infektionen indiziert, z. B. nach Chemotherapie und Strahlentherapie. Bei zyklischer Neutropenie eignen sich die granulopoetischen Wachstumsfaktoren zur Dauertherapie. Schwere bzw. chronische Neutropenien verlangen eine hämatologische Diagnostik einschließlich der Untersuchung des Knochenmarks.
Manche Infektionskrankheiten gehen mit einer wechselnd stark ausgeprägten Neutropenie einher (Typhus, Brucellose, Masern, Röteln). Auch ionisierende Strahlen, Zytostatika, Gifte (Benzol) und zahlreiche Medikamente können eine Leukopenie verursachen. Bei einem sog. Hyperspleniesyndrom kann die Neutropenie mit einer Anämie und Thrombozytopenie assoziiert sein. Hier kann eine Splenektomie die Panzytopenie u. U. bessern.
In Tab. 1 sind Medikamente zusammengestellt, die unter bestimmten Voraussetzungen eine toxische oder allergische Agranulozytose verursachen können. Im Falle allergischer Reaktionen muss vorher eine Sensibilisierung gegen den gleichen Wirkstoff oder seine Metaboliten erfolgt sein und kann vom Allergologen gegebenenfalls nachgewiesen werden.
Tab. 1
Gelegentlich Agranulozytose auslösende Medikamente (Auswahl)
Analgetika, Antirheumatika
Amidopyrin (Aminophenazon, Pyramidon)
Phenacetin
Goldsalze
Antibiotika, Chemotherapeutika
Penicillin
Streptomycin
Chloramphenicol
Tetracycline
Sulfonamide
Org. Arsenverbindungen
Stilbamidin
Neostibosan
Iodochlorhydroxychinolin
Tuberkulostatika
Thiosemicarbazon
INH (Isoniazid, Isonicotinsäurehydrazid)
Streptomycin
PAS (Paraaminosalicylsäure)
Malariamittel
Chinin
Primaquin
Plasmochin
Thyreostatika
Kaliumperchlorat
Thiouracil
Thiamazol
Carbimazol
Antidiabetika
Tolbutamid
Carbutamid
Chlorpropamid
Biguanide
Antihistaminika, Sedativa, Hypnotika, Psychopharmaka, Antikonvulsiva
Phenothiazine
Pyribenzamine
Tripelenamine
Metaphenylen
Antistin
Promazin
Pyrithyldion
Chlorpromazin
Hydantoinderivate
Trimethadion
Paramethadion
Serotonin-Reuptake-Inhibitoren
Chlorothiazid
Furosemid
Spironolacton
Antikoagulanzien
Dicumarol
Ticlopidin
Clopidogrel
Sonstige Medikamente
DDT-Pyrethrum-Aerosol
Hydralazin
D-Penicillamin
Ticlopidin

Leukämien

Leukämien entstehen durch eine Proliferation unreifer Blasten im Knochenmark und konsekutiver Verdrängung der normalen Hämatopoese. Es kommt zu Anämie, Neutro- und Thrombozytopenie. Ursache ist eine chromosomale Schädigung einer Stammzelle, die dadurch neoplastisch transformiert und klonal expandiert. Leukämien werden nach morphologischen, zytochemischen, immunologischen und zytogenetischen Kriterien eingeteilt. In Abhängigkeit der betroffenen Vorläuferzellen unterscheidet man myeloische von lymphatischen Leukämien.

Akute myeloische Leukämie (AML)

Bei der akuten myeloischen Leukämie (AML) handelt es sich um eine maligne Erkrankung myeloischer Vorläuferzellen im Knochenmark. Es treten etwa 3 Neuerkrankungen pro 100.000 Einwohner pro Jahr auf. Die Inzidenz nimmt im höheren Alter deutlich zu. Das mediane Erkrankungsalter liegt bei knapp 70 Jahren (Nennecke et al. 2014; Shallis et al. 2019). In der Folge der gesteigerten klonalen Vermehrung myeloischer Vorläuferzellen (sog. Blasten) kommt es zu Verdrängungseffekten im Knochenmark mit Störung der physiologischen Blutbildung. Die Symptome einer akuten myeloischen Leukämie lassen sich durch die zunehmende Knochenmarksinsuffizienz erklären: Eine Neutropenie führt zu einer gesteigerten Infektneigung z. B. mit vermehrtem Auftreten fieberhafter Infekte oder opportunistischer Infektionen. Eine Thrombozytopenie kann die Blutungsneigung erhöhen und eine verminderte Erythrozytenproduktion führt zu anämiebedingten Beschwerden (u. a. Leistungsabfall, Abgeschlagenheit, Blässe, Luftnot). Weitere Symptome können auftreten, sind aber häufig unspezifisch.
Als Ursache einer Leukämie gelten verschiedene Mutationen, die das Differenzierungs- und Teilungsverhalten einer hämatopoetischen Vorläuferzelle so beeinflussen, dass es zu einer ungerichteten Vermehrung einer klonalen Zellpopulation kommt, die sich den physiologischen Regulationsmechanismen entzieht. Die Kenntnis dieser Mutationen erlaubt eine Risikostratifizierung der AML und steuert heutzutage maßgeblich die Therapieentscheidung. Auch wenn im Einzelfall häufig keine spezifischen Risikofaktoren für die Entstehung einer AML ausgemacht werden können, so sind doch Faktoren beschrieben, die das Risiko für das Auftreten einer akuten myeloischen Leukämie erhöhen (siehe Abschn. 2.1.1). Dies kann insbesondere für gutachterliche Fragestellung von Bedeutung sein.
Diagnostisch erfolgt im Rahmen einer umfangreichen Laboranalyse die Bestimmung des Differentialblutbildes. Häufig zeigt sich eine ausgeprägte Leukozytose, seltener ist aber auch eine Leukozytopenie möglich. Eine Knochenmarkpunktion ist zur Diagnosesicherung erforderlich. Ab einem Anteil von ≥ 20 % Blasten im Knochenmark liegt per Definition eine akute Leukämie vor. Weiterhin erfolgt eine immunphänotypische, molekular- und zytogenetische Aufarbeitung des Knochenmarks.
Die Prognose ist neben dem Allgemeinzustand und Alter des Patienten im hohen Maße vom molekulargenetischen Profil der AML abhängig. Daher ist der Nachweis AML-spezifischer Mutationen vor Therapieeinleitung erforderlich, anhand derer eine Einteilung in drei verschiedene Risikogruppen (nach der Klassifizierung des European LeukemiaNet, ELN 2017) erfolgt (Dohner et al. 2017). Die Therapie der akuten myeloischen Leukämie wird dann unter Berücksichtigung der genetischen Risikostratifizierung, des Alters und des Allgemeinzustandes des Patienten festgelegt.
Patienten, deren Allgemeinzustand eine intensivierte chemotherapeutische Behandlung erlaubt, erhalten zunächst eine sogenannte Induktionstherapie. Bestimmte molekulargenetische Merkmale erlauben heute bereits den ergänzenden Einsatz zielgerichteter Substanzen, die ein besseres Therapieansprechen ermöglichen sollen (z. B. Midostaurin bei FLT3-mutierter AML). Gefolgt wird die Induktionstherapie von einer Konsolidierungstherapie, um eine Krankheitsremission möglichst lange zu erhalten. In Abhängigkeit des Risikoprofils erfolgt diese entweder mittels einer Chemotherapie oder einer allogenen Stammzelltransplantation.
Bei älteren Patienten (biologisches Alter > 75 Jahre) oder stark vorerkrankten Patienten geht eine intensive chemotherapeutische Behandlung mit einer hohen therapieassoziierten Mortalität einher, sodass hier die Möglichkeit einer kurativen Therapie nicht gegeben ist. Ziel ist es dann, im Sinne einer palliativen Behandlung die Lebensqualität möglichst zu erhalten und mittels verträglicher Therapien eine Lebensverlängerung zu ermöglichen. Heute existiert mit den hypomethylierenden Substanzen 5-Azacitidin und Decitabin in Kombination mit dem bcl2-Inhibitor Venetoclax eine neue Therapieoption, die bei besserer Verträglichkeit auch im höheren Alter eine Lebensverlängerung ermöglicht (DiNardo et al. 2020).

Gutachtliche Bewertung

Für gutachtliche Fragestellung und insbesondere im Hinblick auf die Anerkennung einer akuten myeloischen Leukämie als Berufskrankheit, ist die Kenntnis der Faktoren von Bedeutung, die das Risiko für das Auftreten der Erkrankung erhöhen können. Dazu zählen insbesondere:
  • Exposition gegenüber ionisierender (radioaktiver) Strahlung: Ionisierende Strahlung schädigt die DNA direkt und kann Mutationen induzieren, die in der Folge zu einer AML führen. Ein Zusammenhang wurde bereits bei Überlebenden der Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki beschrieben (Tsushima et al. 2012). Heute betrifft dies u. a. Menschen, die eine Strahlentherapie erhalten haben (z. B. im Rahmen der Behandlung von Brustkrebs) (Curtis et al. 1992). Das Risiko steigt mit zunehmender Gesamtstrahlendosis, aber erhöht sich zusätzlich, wenn eine Kombination der Strahlentherapie mit einer systemischen zytostatischen Therapie (Chemotherapie) erfolgte. Auch eine langfristige berufliche Strahlenexposition kann dosisabhängig das Leukämierisiko erhöhen. Betroffene Berufsgruppen sind Menschen, die in der Kerntechnik, im Bergbau oder aber in der radiologischen Diagnostik und interventionellen Radiologie arbeiten. In Bezug auf die jährliche kumulative Gesamtdosis gilt Flugpersonal als die am stärksten strahlenexponierte Berufsgruppe (Höhenstrahlung) (Gundestrup und Storm 1999; Lee et al. 2019).
  • Exposition gegenüber chemischen Substanzen: Exposition gegenüber zytostatischen Substanzen im Rahmen einer vorangegangenen Chemotherapie (insbesondere eine Therapie mit alkylierenden und oder interkalierenden Substanzen). Weiterhin erhöht eine Exposition gegenüber Benzol dosisabhängig das Leukämierisiko (berufliche Exposition, u. a. in der petrochemischen Industrie) (North et al. 2021). Auch langjähriger Tabakkonsum und eine Herbizid- bzw. Pestizidexposition erhöhen das Risiko für eine AML (Fircanis et al. 2014; Foucault et al. 2021).
  • Prädisponierende hämatologische Erkrankungen wie das myelodysplastische Syndrome oder myeloproliferative Erkrankungen.
  • Genetische Syndrome: u. a. Trisomie 21, Fanconi-Anämie und Li-Fraumeni-Syndrom
Eine Anerkennung als Berufskrankheit ist möglich, wenn eine langjährige berufliche Benzol- oder Strahlenexposition nachgewiesen werden kann. Dann liegt eine Berufskrankheit 1318 bzw. 2402 vor (Vergleiche Tabelle: Berufskrankheiten mit hämatologischen Folgen. Merkblätter der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin). Alternative Risikofaktoren wie eine vorangegangene Strahlen- oder Chemotherapie oder o. g. genetische Syndrome müssen dann in die Gesamtbeurteilung einfließen.
Im ersten Jahr nach Diagnosestellung und unter Induktions-, Konsolidierungs- und Erhaltungstherapie ist der Grad der Schädigung/Grad der Behinderung (GdS/GdB) nach der Versorgungsmedizinverordnung 100.
Nach dem ersten Jahr ist die Bemessung des GdS/GdB abhängig vom Remissionsstatus. Bei inkompletter Remission bleibt er bei 100, bei vollständiger Remission für die ersten 3 Folgejahre bei 80. Im Anschluss an diese Zeit ist der GdS/GdB abhängig von den fortbestehenden Einschränkungen.
Nach allogener Stammzelltransplantation liegt der GdS über einen Zeitraum von 3 Jahren bei 100. Nach Abschluss der 3 Jahre sind die Spätfolgen für die Bemessung maßgeblich, der GdS/GdB beträgt jedoch immer mindestens 30.

Akute lymphatische Leukämie (ALL)

Es handelt sich um eine maligne Erkrankung, bei der es zu einer klonalen Vermehrung lymphatischer Vorläuferzellen im Knochenmark kommt. Die ALL tritt am häufigsten im Kindesalter auf (Inzidenz 5–7/100.000/Jahr), kommt aber in allen Altersklassen vor. Die Inzidenz liegt in Deutschland über alle Bevölkerungsgruppen bei knapp einer Neuerkrankung auf 100.000 Einwohner pro Jahr (Redaelli et al. 2005).
Die Symptomatik ist geprägt von einer zunehmenden Knochenmarksinsuffizienz mit Anämie, Infekt- und Blutungsneigung. Ein Teil der Patienten weist eine Lymphknoten- oder Milzvergrößerung auf. Ist das zentrale Nervensystem betroffen, so können auch neurologische Beschwerden und Symptome auftreten.
Diagnostisch zeigt sich im Blutbild zumeist eine Leukozytose bei begleitender Anämie und Thrombozytopenie. Bereits im peripheren Blutausstrich kann häufig eine Blastenvermehrung nachgewiesen werden. Diagnostisch wegweisend ist eine morphologische Beurteilung des Knochenmarks (Beurteilung eines Knochenmarkausstrichs oder einer Knochenmarkstanze). Mittels Immunphänotypisierung kann anhand der Beurteilung von Oberflächenantigenen die ALL von einer AML unterschieden werden. Zudem gelingt mittels Immunphänotypsisierung eine Differenzierung zwischen B- und T-ALL. Eine molekular- und zytogenetische Aufarbeitung erlaubt eine weitere Risikostratifizierung sowie den Nachweis möglicher therapeutischer Zielstrukturen (Philadelphia-Translokation). Eine Liquorpunktion zum Ausschluss eines zusätzlichen ZNS-Befalls ist obligat.
Die Therapie wird heutzutage auch über die molekulargenetische Bestimmung der minimalen Resterkrankung (MRD = minimal residual disease) gesteuert. Sie kann Blasten mit einer hohen Sensitivität nachweisen, sodass das Therapieansprechen im Verlauf deutlich präziser beurteilt werden kann. Das Erreichen einer molekularen Remission hat eine hohe prognostische Aussagekraft.
Die Therapie der ALL sollte im Rahmen einer Register- oder Therapiestudie erfolgen. Ziel der Therapie ist eine vollständige (molekulare) Remission. Die Therapie gliedert sich in verschiedene Phasen: Vorphase, Induktion, Konsolidierung und Erhaltungstherapie. Es kommen im Verlauf der Therapie verschiedene Kombinationen zytostatischer Substanzen zum Einsatz. Bei einem Teil der Patienten ist der Einsatz des CD20-Antikörpers Rituximab oder bei Nachweis einer Philadelphia-Translokation von Imatinib möglich. Begleitend erfolgt eine prophylaktische Zytostatikagabe in das Nervenwasser sowie eine ZNS-Bestrahlung, um Rezidiven im zentralen Nervensystem vorzubeugen.
Patienten mit einer genetischen Hochrisikokonstellation, nach Therapieversagen oder im Rezidiv erhalten einer allogene Stammzelltransplantation. Die Prognose ist vom Alter der Patienten sowie individueller klinischer und genetischer Faktoren abhängig. Die 5-Jahres-Überlebensrate liegt bei Kindern bei > 80 %, nimmt aber im höheren Patientenalter zunehmend ab (Nicola Gökbuget et al. 2022).

Gutachterliche Bewertung

Ähnlich der myeloischen Leukämie erhöht eine Strahlenexposition sowie der Kontakt zu Benzol oder eine vorangegangene Chemotherapie das Risiko für das Auftreten einer ALL. Eine Anerkennung als Berufskrankheit ist möglich. Eine Reihe genetischer Syndrome sind mit einem erhöhten Risiko einer ALL verbunden (z. B. Trisomie 21, Ataxia teleangiectatica).
Insbesondere jüngere Patienten haben eine hohe Heilungsrate. Die Patienten sind in der Phase der Remission zwar nicht immer beschwerdefrei, häufig aber arbeitsfähig und können ein normales Leben führen. Spätfolgen sind durch die ALL selbst oder aber durch die Therapie bedingt und beinhalten u. a. psychosoziale Folgen, chronische Fatigue, Zeugungsunfähigkeit und neurologische Erkrankungen (Polyneuropathie, kognitive Störungen). Da besonders häufig junge Patienten betroffen sind, sind die Auswirkungen der Erkrankung und Spätfolgen auf Ausbildung und Beruf besonders bedeutsam. Auch das Risiko des Auftretens von Zweitneoplasien nach intensiver Chemo- und Strahlentherapie ist erhöht.
Patienten mit akuten Leukämien, die über lange Zeit eine klinische und evtl. zytogenetische Vollremission aufweisen, können privat versichert werden.
Bezüglich der Bemessung von GdS/GdB gelten die Richtwerte der akuten Leukämien (siehe Abschn. 2.1 am Ende).

Chronische lymphatische Leukämie (CLL)

Bei der CLL handelt es sich entsprechend der WHO-Klassifikation um ein niedrig-malignes Non-Hodgkin-Lymphom. Die Inzidenz liegt bei ca. 5 auf 100.000 Einwohner pro Jahr. Am häufigsten wird die CLL zwischen dem 65. und 70. Lebensjahr diagnostiziert (Redaelli et al. 2004). Männer sind etwa doppelt so häufig betroffen wie Frauen. Als äußerer Risikofaktor zählt die Exposition gegenüber organischen Lösungsmitteln (z. B. Benzol). Ein gehäuftes Auftreten bei Verwandten ersten Grades weist auf mögliche genetische Risikofaktoren hin.
Leitbefund ist eine Lymphozytose im Blutbild. Die CLL verläuft über einen längeren Zeitraum häufig asymptomatisch. Typisch ist das Auftreten einer schmerzlosen Lymphknotenschwellung und der sog. B-Symptomatik (Fieber, Nachtschweiß oder Gewichtsverlust) gemäß Ann-Arbor-Klassifikation der Hodgkin- und Non-Hodgkin-Lymphome. Eine Vergrößerung von Leber und Milz sind möglich. Weitere Beschwerden ergeben sich aus den Folgen möglicher Blutbildveränderungen: Anämie, Infektanfälligkeit und gesteigerte Blutungsneigung.
Die Diagnose wird über die wiederholte Anfertigung eines Differenzialblutbildes mit Nachweis einer über Monate persistierenden Lymphozytose gestellt. Eine Bildgebung mittels Sonographie oder Computertomographie dient dem Nachweis einer Lymphknoten-, Milz- und Lebervergrößerung.
Eine ergänzende molekulargenetische Diagnostik erlaubt eine zusätzliche genetische Risikostratifizierung. Eine Knochenmarkpunktion ist nur bei diagnostischer Unsicherheit erforderlich.
Anhand des Blutbildes und der Anzahl betroffener Lymphknotenregionen erfolgt eine Einteilung in drei verschiedene Risikostadien (Binet A-C). In niedrigem Stadium ohne Risikofaktoren und bei Symptomfreiheit kann ein zurückhaltendes beobachtendes therapeutisches Vorgehen gerechtfertigt sein. Besteht eine Therapieindikation, so richtet sich die Therapieentscheidung nach dem Risikoprofil der CLL und dem klinischen Allgemeinzustand des Patienten. Die Therapie hat in den letzten Jahren einen Wandel vollzogen. Der Einsatz zielgerichteter Substanzen hat chemotherapeutische Konzepte, denen sie in Bezug auf Wirksamkeit und Verträglichkeit überlegen sind, zunehmend abgelöst. Relevante Substanzen sind Bruton-Tyrosinkinaseinhibitoren (Ibrutinib, Acalabrutinib), der Bcl-2-Hemmer Venetoclax und Antikörper gegen CD20 (Rituximab, Obinutuzumab). Eine Heilung ist nur durch eine allogene Stammzelltransplantation möglich. Die Bedeutung der Stammzelltransplantation in der Therapie der CLL hat in den letzten Jahren dank der überlegenen zielgerichteten Substanzen abgenommen.

Gutachterliche Bewertung:

Seit 2017 sind sowohl die CLL als auch die CML als Berufskrankheiten anerkennungsfähig, wenn eine berufliche Exposition mit 1,3-Butadien in einer definierten Mindestdosis nachgewiesen wird (Berufskrankheit 1320, „Chronisch-myeloische oder chronisch-lymphatische Leukämie durch 1,3-Butadien bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Dosis von mindestens 180 Butadien-Jahren (ppm x Jahre“)). Dies betrifft z. B. Arbeiter in der chemischen Industrie. Wie bei anderen Leukämieformen kann auch eine berufliche Benzolexposition zu einer Anerkennung der CLL als Berufskrankheit führen.
Auch bei stabilem Krankheitsgeschehen und geringer Symptomlast kann ein GdS/GdB von 30 bis 40 festgestellt werden. Bei schwerem klinischem Verlauf kann der GdS/GdB auch 80 bis 100 betragen.

Myelodysplastische Syndrome (MDS)

Eine Gruppe von Erkrankungen hämatopoetischer Stammzellen, bei der es als Folge einer klonalen Proliferation und Differenzierungsstörung zu Zytopenien aller Zellreihen kommen kann. Es handelt sich um eine Erkrankung des höheren Lebensalters, die Inzidenz liegt in der Gesamtbevölkerung bei ca. 3–5/100.000 und steigt bei > 70-Jährigen auf > 30/100.000 Einwohner. Das mediane Erkrankungsalter liegt zwischen 70 und 75 Jahren (Cogle 2015; Neukirchen et al. 2011).
In den meisten Fällen bleibt die Ursache des MDS unklar (primäres MDS). Beim sekundären oder therapieassoziierten MDS ist die Erkrankung Folge einer vorangegangenen Chemotherapie oder Strahlentherapie.
Es sind heute eine Vielzahl genetischer Veränderungen der Stammzellen bekannt, deren Akkumulation zur klonalen Proliferation und unzureichenden Ausdifferenzierung hämatopoetischer Zellpopulationen führt. In der Folge kann es zu Zytopenie der Erythrozyten, Leukozyten und Thrombozyten in unterschiedlichem Ausmaß kommen. Lange, klinisch unauffällige Verläufe sind möglich, die Erkrankung wird dann häufig als Zufallsbefund im Rahmen einer Blutbildkontrolle diagnostiziert. Im späten Stadium manifestiert sich eine zunehmenden Knochenmarkinsuffizienz mit Symptomen einer Anämie, Infektanfälligkeit und Blutungskomplikationen. Die Diagnostik eines MDS beinhaltet die Anfertigung eines Differentialblutbildes sowie eine Knochenmarkpunktion mit zytomorphologischer und histologischer Aufarbeitung. Charakteristisch zeigen sich im Knochenmark Dysplasiezeichen einer oder mehrerer Zellreihen. Für die Prognoseabschätzung ist die Bestimmung des Blastenanteils im Knochenmark und peripheren Blut essenziell. Eine molekulargenetische Diagnostik ermöglicht eine Risikoklassifikation (Risikostratifizierung nach dem Revised International Prognostic Scoring System, IPSS-R).
Da es sich beim MDS um eine Ausschlussdiagnose handelt, sollte die Diagnostik alternative Ursachen einer Zytopenie ausschließen. Dazu gehören ein Eisen-, Vitamin-B12- und Folsäuremangel, ein medikamentös-toxischer Knochenmarkschaden oder reaktiv-entzündliche Knochenmarkveränderungen. Differentialdiagnostisch muss auch eine akute Leukämie oder eine Infiltration des Knochenmarks durch eine Tumorerkrankung bedacht werden.
Die Einteilung erfolgt entsprechend der WHO-Klassifikation von 2016 und richtet sich nach zytomorphologischen und molekulargenetischen Merkmalen.
Die Therapie ist abhängig von Alter und Allgemeinzustand des Patienten sowie der o. g. Risikostratifizierung. Eine symptomatische Therapie beinhaltet die bedarfsgerechte Transfusion von Erythrozyten- und Thrombozytenkonzentraten. Bei einer Hochrisikokonstellation sollte die Möglichkeit einer allogenen Stammzelltransplantation geprüft werden. Sie ist aufgrund des  häufig hohen Alters und Komorbiditäten für die meisten Patienten nicht möglich, stellt jedoch die einzige potenziell kurative Therapieoption dar.
Alternativ erfolgt eine Therapie mit der hypomethylierenden Substanz 5-Azacytidin. Unter dieser Therapie konnte in Studien neben einer Abnahme der Transfusionsbedürftigkeit auch eine Verlängerung des Gesamtüberlebens nachgewiesen werden (Fenaux et al. 2009).

Gutachterliche Bewertung

Es handelt sich um eine chronisch verlaufende Erkrankung, die nur in den seltensten Fällen heilbar ist. Ein Übergang in eine akute myeloische Leukämie ist möglich und abhängig vom Risikoprofil der Erkrankung. Die Exposition gegenüber verschiedenen Substanzen (Chemotherapeutika, Chemikalien) und ionisierender Strahlung erhöht das Risiko der Krankheitsentstehung. Insbesondere eine zytostatische Therapie mit Alkylanzien ist mit einem erhöhten MDS-Risiko assoziiert. Eine weitere Risikogruppe sind Personen, die einer langjährigen beruflichen Exposition gegenüber organischen Lösungsmitteln ausgesetzt waren. Auch für die Entstehung eines MDS ist eine Benzolexposition als Risikofaktor beschrieben worden, sodass eine Anerkennung als Berufskrankheit möglich ist. Dies betrifft insbesondere Personen, die beruflich mit Farben und Lacken oder mit Treibstoff in Kontakt kommen (z. B. Maler, Lackierer, Mitarbeiter im Treibstoff- oder Kraftfahrzeuggewerbe sowie in der Flugzeugbetankung).
Als Richtwert für die Beeinträchtigung und die Auswirkungen eines MDS kann zur Bemessung des GdS/GdB neben der Beurteilung von krankheitsbedingten Komplikationen die Transfusionsbedürftigkeit herangezogen werden. Das MDS ist eine Erkrankung des höheren Lebensalters und viele Patienten haben bereits Komorbiditäten, die berücksichtigt werden müssen. Im Falle eines Übergangs in eine akute myeloische Leukämie liegt der GdS/GdB bei 100.

Chronisch myeloproliferative Neoplasien (CMPN)

Eine Gruppe verschiedener hämatologisch-onkologischer Erkrankungen, deren Gemeinsamkeit in der gesteigerten klonalen Proliferation verschiedener hämatopoetischer Zellreihen mit normaler Ausreifung besteht. Zu ihnen werden hauptsächlich gezählt:
  • Chronisch myeloische Leukämie (CML)
  • Polycythaemia vera (PV) (Polycythaemia vera capsule)
  • Essenzielle Thrombozythämie (ET) (Essenzielle Thrombozythämie capsule)
  • Primäre Myelofibrose (PMF)

Chronische myeloische Leukämie (CML)

Die CML ist eine myeloproliferative Erkrankung, bei der es zu einer starken klonalen Vermehrung von Granulozyten kommt. Die Inzidenz beträgt ca. 1/100.000 Einwohner pro Jahr. Die Erkrankung tritt in jedem Alter auf, wird jedoch zwischen dem 50. und 60. Lebensjahr am häufigsten diagnostiziert (Hoglund et al. 2015).
Der CML liegt eine charakteristische Chromosomen-Translokation hämatopoetischer Stammzellen zu Grunde, dem sog. Philadelphia-Chromosom. Diese kann bei > 95 % der Patienten nachgewiesen werden. Es handelt sich um die Translokation t(9;22), bei der ein BCR-ABL-Fusionsgen entsteht. Folge dieser Translokation ist eine hochaktive Tyrosinkinase, die zu einer unkontrollierten Proliferation von Granulozyten führt. Untherapiert verläuft die Erkrankung in 3 Phasen: In der chronischen Phase, die viele Jahre bis Jahrzehnte andauern kann, kommt es häufig nur zu unspezifischen Symptomen wie etwa Abgeschlagenheit. Häufig wird die Erkrankung in diesem Stadium als Zufallsbefund entdeckt (massive Leukozytose, ggf. Splenomegalie). Erfolgt keine spezifische Behandlung, so kann die Erkrankung in eine Akzelerationsphase übergehen. In dieser Phase kommt es zu der Entstehung weiterer Mutationen und einem zunehmenden Blastenaufkommen. Übersteigt dieser Blastenanteil im Knochenmark oder peripheren Blut 30 %, spricht man von einer Blastenkrise, die den Übergang in eine akute Leukämie definiert.
Diagnostisch wegweisend ist eine ausgeprägte Leukozytose mit pathologischer „Linksverschiebung“, es handelt sich um ausreifende Granulozyten. Eine Knochenmarkpunktion sowie eine molekulargenetische Aufarbeitung zum Nachweis eines BCR-ABL-Fusionsgens sichert die Diagnose.
Therapeutisch kommen spezifische Tyrosinkinase-Inhibitoren (Imatinib, Nilotinib, Dasatinib u. a.) zum Einsatz. Unter einer Langzeittherapie sind vollständige (molekulare) Remissionen möglich. Bei Therapieversagen einer medikamentösen Therapie stellt die allogene Stammzelltransplantation einer alternative Therapieoption dar.

Primäre Myelofibrose

Die Primäre Myelofibrose ist eine myeloproliferative Erkrankung, bei der eine zunehmende Fibrosierung des Knochenmarks zur verminderten Blutbildung und Splenomegalie führt. Die Inzidenz liegt bei ca. einer Neuerkrankung auf 100.000 Einwohner pro Jahr (Moulard et al. 2014). Das mittlere Erkrankungsalter liegt bei ca. 65 Jahren.
Es handelt sich um eine Erkrankung der hämatopoetischen Stammzellen. Ähnlich anderen myeloproliferativen Erkrankungen können Mutationen der Janus-Kinase 2 (JAK2V617F), des Calreticulin- (CALR-) und Thrombopoetin-Rezeptors (MPL) gefunden werden. Zu Beginn der Erkrankung ist eine Hyperproliferation des Knochenmarks möglich, im Verlauf zeigt sich bei fortschreitender Fibrosierung eine Knochenmarksinsuffizienz mit Anämie, Thrombozyto- und Leukopenie (Panzytopenie). In der Folge einer kompensatorischen extramedullären Hämatopoese kann eine ausgeprägte Splenomegalie auftreten. Neben Anämiesymptomen treten unspezifische Beschwerden wie Leistungsminderung, Fatigue, Fieber, Nachtschweiß, Gewichtsverlust sowie thromboembolische Komplikationen auf.
Die Diagnose erfolgt entsprechend den WHO-Kriterien aus dem Jahr 2016 und beinhaltet neben klinischen und laboranalytischen Parametern eine zytomorphologische und histologische Knochenmarkdiagnostik sowie molekulargenetische Untersuchungen. Die Therapie erfolgt entsprechend einer Risikostratifizierung nach klinischen und molekulargenetischen Kriterien. Bei niedrigem oder intermediärem Risiko kann bei Symptomfreiheit zunächst ein zurückhaltendes therapeutisches Vorgehen (watch and wait) gerechtfertigt sein. Bei ausgeprägter Anämie oder Thrombopenie erfolgt die Transfusion entsprechender Blutprodukte. Bei klinischen Beschwerden und bei progredienter Splenomegalie besteht die Empfehlung zur langfristigen Therapie mit dem JAK1/2-Inhibitor Ruxolitinib oder alternativ mit Fedratinib. Es konnte für beide Substanzen neben einem Rückgang der Splenomegalie auch ein Überlebensvorteil gezeigt werden. Die allogene Stammzelltransplantation als möglicher kurativer Ansatz sollte bei ungünstigem Risikoprofil und insbesondere bei jüngeren Patienten geprüft werden. Der Krankheitsverlauf ist sehr individuell, die Prognose von verschiedenen klinischen sowie molekulargenetischen Kriterien abhängig.

Gutachterliche Bewertung von CMPN

Das Risiko für die Entstehung myeloproliferativer Erkrankungen steigt durch Strahlenexposition und Kontakt zu bestimmten Chemikalien wie Benzol. Kann eine intensive berufliche Benzol- oder Strahlenexposition nachgewiesen werden, so kann sowohl die CML als auch die Primäre Myelofibrose als Berufskrankheit anerkannt werden (Berufskrankheit Nummer 1318 „Erkrankungen des Blutes, des blutbildenden und des lymphatischen Systems durch Benzol“ und 2402 „Erkrankungen durch ionisierende Strahlen“). Insbesondere eine Myelofibrose kann auch Folge verschiedener medikamentöser oder zytostatischer Therapien sein, sodass im Rahmen einer Begutachtung die ausführliche medizinische Vorgeschichte berücksichtigt werden muss.
Die Prognose der CML hat sich durch die Entwicklung der Tyrosinkinase-Inhibitoren in den letzten Jahren deutlich gebessert, vollständige molekulare und zytogenetische Remissionen und eine normale Lebenserwartung sind möglich, therapieassoziierte Nebenwirkungen jedoch häufig. Als Anhaltspunkt für die Bemessung des GdS/GdB nach der Versorgungsmedizinverordnung dient der hämatologische und molekulare Remissionsstatus. Auch bei guter Krankheitskontrolle ist die Anerkennung eines GdS/GdB zwischen 10 und 40 möglich. Im ersten Jahr nach Diagnosestellung, bei ausbleibender Remission, Rezidiv, in der chronischen Phase oder bei krankheits- oder therapiebedingten stärkeren Beschwerden kann ein GdS/GdB von bis zu 80, in der akzelerierten Phase und Blastenkrise bis zu 100 bemessen werden.
Die Richtwerte zur Bemessung eines GdS/GdB bei Diagnose der Primären Myelofibrose sind insbesondere von den Auswirkungen auf das Blutbild und die Milzgröße abhängig. Dieser kann bis zu 100 betragen.
Tabelle:
Berufskrankheiten mit hämatologischen Folgen. (Merkblätter der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin). (Liste der Berufskrankheiten 2021)
Nummer
Berufskrankheit
Hämatologische Folgen
1101
Erkrankungen durch Blei oder seine Verbindungen
Toxisch-hämolytische Anämie, Störung des Hämoglobinstoffwechsels mit Porphyrinurie (Koproporphyrin III). Vermehrung der basophil getüpfelten Erythrozyten (ist jedoch nicht spezifisch für Bleiintoxikation)
1108
Erkrankungen durch Arsen oder seine Verbindungen
Toxisch-hämolytische Anämie durch Arsen-Wasserstoff, Hämoglobinurie
1201
Erkrankungen durch Kohlenmonoxid
Kohlenmonoxid-Hämoglobin
1302
Erkrankungen durch Halogenkohlenwasserstoffe
Aplastische Anämie, Granulozytopenie bis zur Agranulozytose, Thrombozytopenie
1303
Erkrankungen durch Benzol, seine Homologe oder durch Styrol
Quantitative und qualitative Veränderungen der Leukozyten, Erythrozyten und Thrombozyten
1304
Erkrankungen durch Nitro- oder Aminoverbindungen des Benzols oder seiner Homologe oder ihrer Abkömmlinge
Toxisch-hämolytische Anämie, Methämoglobinbildung, Porphyrinurie
1309
Erkrankungen durch Salpetersäureester
Methämoglobinbildung
1318
Erkrankungen des Blutes, des blutbildenden und des lymphatischen Systems durch Benzol
Toxische Knochenmarkdepression, aplastische Anämie, MDS, Leukämien, Non-Hodgkin-Lymphome, myeloproliferative Neoplasien
1320
Chronisch-myeloische oder chronisch-lymphatische Leukämie durch 1,3-Butadien bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Dosis von mindestens 180 Butadien-Jahren (ppm x Jahre)
Chronisch myeloische und chronisch lymphatische Leukämie
2402
Aplastische Anämie, Granulozytopenie bis zur Agranulozytose, Thrombozytopenie, chronisch myeloische Leukämie, akute lymphatische und myeloische Leukämie
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