Leukämien entstehen durch eine Proliferation unreifer Blasten im
Knochenmark und konsekutiver Verdrängung der normalen Hämatopoese. Es kommt zu
Anämie, Neutro- und
Thrombozytopenie. Ursache ist eine chromosomale Schädigung einer Stammzelle, die dadurch neoplastisch transformiert und klonal expandiert. Leukämien werden nach morphologischen, zytochemischen, immunologischen und zytogenetischen Kriterien eingeteilt. In Abhängigkeit der betroffenen Vorläuferzellen unterscheidet man myeloische von lymphatischen Leukämien.
Akute myeloische Leukämie (AML)
Bei der
akuten myeloischen Leukämie (AML
) handelt es sich um eine maligne Erkrankung myeloischer Vorläuferzellen im
Knochenmark. Es treten etwa 3 Neuerkrankungen pro 100.000 Einwohner pro Jahr auf. Die Inzidenz nimmt im höheren Alter deutlich zu. Das mediane Erkrankungsalter liegt bei knapp 70 Jahren (Nennecke et al.
2014; Shallis et al.
2019). In der Folge der gesteigerten klonalen Vermehrung myeloischer Vorläuferzellen (sog. Blasten) kommt es zu Verdrängungseffekten im Knochenmark mit Störung der physiologischen
Blutbildung. Die Symptome einer akuten myeloischen Leukämie lassen sich durch die zunehmende Knochenmarksinsuffizienz erklären: Eine Neutropenie führt zu einer gesteigerten Infektneigung z. B. mit vermehrtem Auftreten fieberhafter Infekte oder opportunistischer Infektionen. Eine
Thrombozytopenie kann die
Blutungsneigung erhöhen und eine verminderte Erythrozytenproduktion führt zu anämiebedingten Beschwerden (u. a. Leistungsabfall, Abgeschlagenheit, Blässe, Luftnot). Weitere Symptome können auftreten, sind aber häufig unspezifisch.
Als Ursache einer Leukämie gelten verschiedene Mutationen, die das Differenzierungs- und Teilungsverhalten einer hämatopoetischen Vorläuferzelle so beeinflussen, dass es zu einer ungerichteten Vermehrung einer klonalen Zellpopulation kommt, die sich den physiologischen Regulationsmechanismen entzieht. Die Kenntnis dieser Mutationen erlaubt eine Risikostratifizierung der AML und steuert heutzutage maßgeblich die Therapieentscheidung. Auch wenn im Einzelfall häufig keine spezifischen Risikofaktoren für die Entstehung einer AML ausgemacht werden können, so sind doch Faktoren beschrieben, die das Risiko für das Auftreten einer
akuten myeloischen Leukämie erhöhen (siehe Abschn.
2.1.1). Dies kann insbesondere für gutachterliche Fragestellung von Bedeutung sein.
Diagnostisch erfolgt im Rahmen einer umfangreichen Laboranalyse die Bestimmung des Differentialblutbildes. Häufig zeigt sich eine ausgeprägte Leukozytose, seltener ist aber auch eine Leukozytopenie möglich. Eine
Knochenmarkpunktion ist zur Diagnosesicherung erforderlich. Ab einem Anteil von ≥ 20 % Blasten im
Knochenmark liegt per Definition eine akute Leukämie vor. Weiterhin erfolgt eine immunphänotypische, molekular- und zytogenetische Aufarbeitung des Knochenmarks.
Die Prognose ist neben dem Allgemeinzustand und Alter des Patienten im hohen Maße vom molekulargenetischen Profil der AML abhängig. Daher ist der Nachweis AML-spezifischer Mutationen vor Therapieeinleitung erforderlich, anhand derer eine Einteilung in drei verschiedene Risikogruppen (nach der Klassifizierung des European LeukemiaNet, ELN 2017) erfolgt (Dohner et al.
2017). Die Therapie der
akuten myeloischen Leukämie wird dann unter Berücksichtigung der genetischen Risikostratifizierung, des Alters und des Allgemeinzustandes des Patienten festgelegt.
Patienten, deren Allgemeinzustand eine intensivierte chemotherapeutische Behandlung erlaubt, erhalten zunächst eine sogenannte Induktionstherapie. Bestimmte molekulargenetische Merkmale erlauben heute bereits den ergänzenden Einsatz zielgerichteter Substanzen, die ein besseres Therapieansprechen ermöglichen sollen (z. B. Midostaurin bei FLT3-mutierter AML). Gefolgt wird die Induktionstherapie von einer Konsolidierungstherapie, um eine Krankheitsremission möglichst lange zu erhalten. In Abhängigkeit des Risikoprofils erfolgt diese entweder mittels einer Chemotherapie oder einer allogenen Stammzelltransplantation.
Bei älteren Patienten (biologisches Alter > 75 Jahre) oder stark vorerkrankten Patienten geht eine intensive chemotherapeutische Behandlung mit einer hohen therapieassoziierten Mortalität einher, sodass hier die Möglichkeit einer kurativen Therapie nicht gegeben ist. Ziel ist es dann, im Sinne einer palliativen Behandlung die
Lebensqualität möglichst zu erhalten und mittels verträglicher Therapien eine Lebensverlängerung zu ermöglichen. Heute existiert mit den hypomethylierenden Substanzen 5-Azacitidin und Decitabin in Kombination mit dem bcl2-Inhibitor Venetoclax eine neue Therapieoption, die bei besserer Verträglichkeit auch im höheren Alter eine Lebensverlängerung ermöglicht (DiNardo et al.
2020).
Gutachtliche Bewertung
Für gutachtliche Fragestellung und insbesondere im Hinblick auf die Anerkennung einer
akuten myeloischen Leukämie als Berufskrankheit, ist die Kenntnis der Faktoren von Bedeutung, die das Risiko für das Auftreten der Erkrankung erhöhen können. Dazu zählen insbesondere:
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Exposition gegenüber ionisierender (radioaktiver) Strahlung: Ionisierende Strahlung
schädigt die DNA direkt und kann Mutationen induzieren, die in der Folge zu einer AML führen. Ein Zusammenhang wurde bereits bei Überlebenden der Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki beschrieben (Tsushima et al.
2012). Heute betrifft dies u. a. Menschen, die eine
Strahlentherapie erhalten haben (z. B. im Rahmen der Behandlung von Brustkrebs) (Curtis et al.
1992). Das Risiko steigt mit zunehmender Gesamtstrahlendosis, aber erhöht sich zusätzlich, wenn eine Kombination der Strahlentherapie mit einer systemischen zytostatischen Therapie (Chemotherapie) erfolgte. Auch eine langfristige berufliche Strahlenexposition kann dosisabhängig das Leukämierisiko erhöhen. Betroffene Berufsgruppen sind Menschen, die in der Kerntechnik, im Bergbau oder aber in der radiologischen Diagnostik und interventionellen Radiologie arbeiten. In Bezug auf die jährliche kumulative Gesamtdosis gilt Flugpersonal als die am stärksten strahlenexponierte Berufsgruppe (Höhenstrahlung) (Gundestrup und Storm
1999; Lee et al.
2019).
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Exposition gegenüber chemischen Substanzen: Exposition gegenüber zytostatischen
Substanzen im Rahmen einer vorangegangenen Chemotherapie (insbesondere eine Therapie mit alkylierenden und oder interkalierenden Substanzen). Weiterhin erhöht eine Exposition gegenüber
Benzol dosisabhängig das Leukämierisiko (berufliche Exposition, u. a. in der petrochemischen Industrie) (North et al.
2021). Auch langjähriger Tabakkonsum und eine Herbizid- bzw. Pestizidexposition erhöhen das Risiko für eine AML (Fircanis et al.
2014; Foucault et al.
2021).
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Eine Anerkennung als Berufskrankheit ist möglich, wenn eine langjährige berufliche
Benzol- oder Strahlenexposition
nachgewiesen werden kann. Dann liegt eine Berufskrankheit 1318 bzw. 2402 vor (
Vergleiche Tabelle: Berufskrankheiten mit hämatologischen Folgen. Merkblätter der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin). Alternative Risikofaktoren wie eine vorangegangene Strahlen- oder Chemotherapie oder o. g. genetische Syndrome müssen dann in die Gesamtbeurteilung einfließen.
Im ersten Jahr nach Diagnosestellung und unter Induktions-, Konsolidierungs- und Erhaltungstherapie ist der Grad der Schädigung/Grad der Behinderung (GdS/GdB) nach der Versorgungsmedizinverordnung 100.
Nach dem ersten Jahr ist die Bemessung des GdS/GdB abhängig vom Remissionsstatus. Bei inkompletter Remission bleibt er bei 100, bei vollständiger Remission für die ersten 3 Folgejahre bei 80. Im Anschluss an diese Zeit ist der GdS/GdB abhängig von den fortbestehenden Einschränkungen.
Nach allogener Stammzelltransplantation liegt der GdS über einen Zeitraum von 3 Jahren bei 100. Nach Abschluss der 3 Jahre sind die Spätfolgen für die Bemessung maßgeblich, der GdS/GdB beträgt jedoch immer mindestens 30.
Akute lymphatische Leukämie (ALL)
Es handelt sich um eine maligne Erkrankung, bei der es zu einer klonalen Vermehrung lymphatischer Vorläuferzellen im
Knochenmark kommt. Die ALL tritt am häufigsten im Kindesalter auf (Inzidenz 5–7/100.000/Jahr), kommt aber in allen Altersklassen vor. Die Inzidenz liegt in Deutschland über alle Bevölkerungsgruppen bei knapp einer Neuerkrankung auf 100.000 Einwohner pro Jahr (Redaelli et al.
2005).
Die Symptomatik ist geprägt von einer zunehmenden Knochenmarksinsuffizienz mit
Anämie, Infekt- und
Blutungsneigung. Ein Teil der Patienten weist eine Lymphknoten- oder Milzvergrößerung auf. Ist das zentrale Nervensystem betroffen, so können auch neurologische Beschwerden und Symptome auftreten.
Diagnostisch zeigt sich im Blutbild zumeist eine Leukozytose
bei begleitender
Anämie und
Thrombozytopenie. Bereits im peripheren
Blutausstrich kann häufig eine Blastenvermehrung
nachgewiesen werden. Diagnostisch wegweisend ist eine morphologische Beurteilung des
Knochenmarks (Beurteilung eines
Knochenmarkausstrichs oder einer Knochenmarkstanze). Mittels Immunphänotypisierung kann anhand der Beurteilung von Oberflächenantigenen die ALL von einer AML unterschieden werden. Zudem gelingt mittels Immunphänotypsisierung eine Differenzierung zwischen B- und T-ALL. Eine molekular- und zytogenetische Aufarbeitung erlaubt eine weitere Risikostratifizierung sowie den Nachweis möglicher therapeutischer Zielstrukturen (Philadelphia-Translokation). Eine Liquorpunktion zum Ausschluss eines zusätzlichen ZNS-Befalls ist obligat.
Die Therapie wird heutzutage auch über die molekulargenetische Bestimmung der minimalen Resterkrankung (MRD = minimal residual disease) gesteuert. Sie kann Blasten mit einer hohen Sensitivität nachweisen, sodass das Therapieansprechen im Verlauf deutlich präziser beurteilt werden kann. Das Erreichen einer molekularen Remission hat eine hohe prognostische Aussagekraft.
Die Therapie der ALL sollte im Rahmen einer Register- oder Therapiestudie erfolgen. Ziel der Therapie ist eine vollständige (molekulare) Remission. Die Therapie gliedert sich in verschiedene Phasen: Vorphase, Induktion, Konsolidierung und Erhaltungstherapie. Es kommen im Verlauf der Therapie verschiedene Kombinationen zytostatischer Substanzen zum Einsatz. Bei einem Teil der Patienten ist der Einsatz des CD20-Antikörpers Rituximab oder bei Nachweis einer Philadelphia-Translokation von Imatinib möglich. Begleitend erfolgt eine prophylaktische Zytostatikagabe in das Nervenwasser sowie eine ZNS-Bestrahlung, um Rezidiven im zentralen Nervensystem vorzubeugen.
Patienten mit einer genetischen Hochrisikokonstellation, nach Therapieversagen oder im Rezidiv erhalten einer allogene Stammzelltransplantation. Die Prognose ist vom Alter der Patienten sowie individueller klinischer und genetischer Faktoren abhängig. Die 5-Jahres-Überlebensrate liegt bei Kindern bei > 80 %, nimmt aber im höheren Patientenalter zunehmend ab (Nicola Gökbuget et al.
2022).
Gutachterliche Bewertung
Ähnlich der myeloischen Leukämie erhöht eine Strahlenexposition
sowie der Kontakt zu
Benzol oder eine vorangegangene Chemotherapie das Risiko für das Auftreten einer ALL. Eine Anerkennung als Berufskrankheit ist möglich. Eine Reihe genetischer Syndrome sind mit einem erhöhten Risiko einer ALL verbunden (z. B.
Trisomie 21,
Ataxia teleangiectatica).
Insbesondere jüngere Patienten haben eine hohe Heilungsrate. Die Patienten sind in der Phase der Remission zwar nicht immer beschwerdefrei, häufig aber arbeitsfähig und können ein normales Leben führen. Spätfolgen sind durch die ALL selbst oder aber durch die Therapie bedingt und beinhalten u. a. psychosoziale Folgen, chronische Fatigue, Zeugungsunfähigkeit und neurologische Erkrankungen (
Polyneuropathie, kognitive Störungen). Da besonders häufig junge Patienten betroffen sind, sind die Auswirkungen der Erkrankung und Spätfolgen auf Ausbildung und Beruf besonders bedeutsam. Auch das Risiko des Auftretens von Zweitneoplasien nach intensiver Chemo- und
Strahlentherapie ist erhöht.
Patienten mit akuten
Leukämien, die über lange Zeit eine klinische und evtl. zytogenetische Vollremission aufweisen, können privat versichert werden.
Bezüglich der Bemessung von GdS/GdB gelten die Richtwerte der akuten
Leukämien (siehe Abschn.
2.1 am Ende).
Chronische lymphatische Leukämie (CLL)
Bei der CLL
handelt es sich entsprechend der
WHO-Klassifikation um ein niedrig-malignes Non-Hodgkin-Lymphom
. Die Inzidenz liegt bei ca. 5 auf 100.000 Einwohner pro Jahr. Am häufigsten wird die CLL zwischen dem 65. und 70. Lebensjahr diagnostiziert (Redaelli et al.
2004). Männer sind etwa doppelt so häufig betroffen wie Frauen. Als äußerer Risikofaktor zählt die Exposition gegenüber organischen Lösungsmitteln (z. B.
Benzol). Ein gehäuftes Auftreten bei Verwandten ersten Grades weist auf mögliche genetische Risikofaktoren hin.
Leitbefund ist eine Lymphozytose im Blutbild. Die CLL verläuft über einen längeren Zeitraum häufig asymptomatisch. Typisch ist das Auftreten einer schmerzlosen Lymphknotenschwellung und der sog. B-Symptomatik (
Fieber, Nachtschweiß oder Gewichtsverlust) gemäß Ann-Arbor-Klassifikation der Hodgkin- und
Non-Hodgkin-Lymphome. Eine Vergrößerung von Leber und Milz sind möglich. Weitere Beschwerden ergeben sich aus den Folgen möglicher Blutbildveränderungen:
Anämie, Infektanfälligkeit und gesteigerte
Blutungsneigung.
Die Diagnose wird über die wiederholte Anfertigung eines
Differenzialblutbildes mit Nachweis einer über Monate persistierenden Lymphozytose gestellt. Eine Bildgebung mittels
Sonographie oder Computertomographie dient dem Nachweis einer Lymphknoten-, Milz- und Lebervergrößerung.
Eine ergänzende molekulargenetische Diagnostik erlaubt eine zusätzliche genetische Risikostratifizierung. Eine
Knochenmarkpunktion ist nur bei diagnostischer Unsicherheit erforderlich.
Anhand des Blutbildes und der Anzahl betroffener Lymphknotenregionen erfolgt eine Einteilung in drei verschiedene Risikostadien (Binet A-C). In niedrigem Stadium ohne Risikofaktoren und bei Symptomfreiheit kann ein zurückhaltendes beobachtendes therapeutisches Vorgehen gerechtfertigt sein. Besteht eine Therapieindikation, so richtet sich die Therapieentscheidung nach dem Risikoprofil der CLL und dem klinischen Allgemeinzustand des Patienten. Die Therapie hat in den letzten Jahren einen Wandel vollzogen. Der Einsatz zielgerichteter Substanzen hat chemotherapeutische Konzepte, denen sie in Bezug auf Wirksamkeit und Verträglichkeit überlegen sind, zunehmend abgelöst. Relevante Substanzen sind Bruton-Tyrosinkinaseinhibitoren (Ibrutinib, Acalabrutinib), der Bcl-2-Hemmer Venetoclax und
Antikörper gegen CD20 (Rituximab, Obinutuzumab). Eine Heilung ist nur durch eine allogene Stammzelltransplantation möglich. Die Bedeutung der Stammzelltransplantation in der Therapie der CLL hat in den letzten Jahren dank der überlegenen zielgerichteten Substanzen abgenommen.
Gutachterliche Bewertung:
Seit 2017 sind sowohl die CLL als auch die CML als Berufskrankheiten anerkennungsfähig, wenn eine berufliche Exposition mit 1,3-Butadien in einer definierten Mindestdosis nachgewiesen wird (Berufskrankheit 1320, „Chronisch-myeloische oder chronisch-lymphatische Leukämie durch 1,3-Butadien bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Dosis von mindestens 180 Butadien-Jahren (
ppm x Jahre“)). Dies betrifft z. B. Arbeiter in der chemischen Industrie. Wie bei anderen Leukämieformen kann auch eine berufliche Benzolexposition zu einer Anerkennung der CLL als Berufskrankheit führen.
Auch bei stabilem Krankheitsgeschehen und geringer Symptomlast kann ein GdS/GdB von 30 bis 40 festgestellt werden. Bei schwerem klinischem Verlauf kann der GdS/GdB auch 80 bis 100 betragen.