Die Gemeinsamkeit der in diesem Abschnitt behandelten Störungen
besteht darin, dass für sie primär zerebrale oder sekundär zerebral manifestierende systemische Erkrankungen zumindest einen prädisponierenden ätiopathogenetischen Faktor darstellen. Die Funktionsstörung kann also primär sein wie bei Krankheiten, Verletzungen oder Störungen, die das Gehirn direkt oder in besonderem Maße schädigen, oder sekundär wie bei systemischen Krankheiten oder Störungen, die das Gehirn als eines von vielen anderen Organen oder Körpersystemen betreffen. Die Identifikation einer eingliedrigen Ursache-Wirkungs-Beziehung wird allerdings die Ausnahme darstellen. Auch wird das Erscheinungsbild der Störungen in der Regel nicht durch die Art der im Einzelfall zugrunde liegenden körperlichen Erkrankung oder Schädigung bestimmt. Oft sind sie phänomenologisch nicht zu unterscheiden von „nichtorganischen“ Störungen. Gefordert ist, dass die Kriterien für die Diagnose einer
Demenz oder eines Delirs in keinem Fall erfüllt werden. Aus diesem Grund können die in diesem Abschnitt aufgeführten Störungen auch nicht als nichtkognitive Störungen bei Demenzerkrankungen
(„behavioral and psychological symptoms of dementia“, BPSD) aufgefasst werden, obwohl sie im Einzelfall allein psychopathologisch davon nicht unterschieden werden können. Als wesentliches Diagnosekriterium gilt in der ICD-10 das Vorhandensein einer zerebralen oder systemischen Erkrankung mit zerebralem Manifestationsrisiko einschließlich Hormonstörungen und Effekten, die durch nichtpsychoaktive Substanzen bedingt sind. Auch wird ein zeitlicher Zusammenhang zwischen Grunderkrankung und psychischen Symptomen sowohl im Auftreten wie ggf. im Abklingen gefordert. Schließlich sollte keine andere Verursachung der psychischen Symptomatik plausibel gemacht werden können.
Leichte kognitive Störung
Beim kontinuierlichen Übergang von altersgemäßen normalen kognitiven Funktionen zum
Demenzsyndrom gibt es einen Bereich mit lediglich leichten kognitiven Defiziten, der häufig – aber durchaus nicht regelhaft – durch subjektive Klagen über Gedächtnisprobleme charakterisiert ist (Mitchell
2008). Diese Defizite gehen zwar über die physiologische, altersbedingte Leistungsabnahme hinaus, erfüllen jedoch nicht die für
Demenzen festgelegten Kriterien. In der ICD-10 wie auch im
DSM-IV sind deshalb vorläufige Diagnosemöglichkeiten für leichte kognitive Störungen oder für ein „mild cognitive impairment“
(MCI; Petersen et al.
1999) vorgesehen. Im
DSM-5 korrespondieren diese Defizite am ehesten mit einer leichten neurokognitiven Störung (331.8; APA
2013), die jedoch einen etwas breiteren Streuungsbereich in neuropsychologischen Tests repräsentieren (während nach den Petersen-Kriterien > 1,5
Standardabweichungen unterhalb der alters- und bildungsadjustierten Mittelwertes angegeben werden [Petersen et al.
1999], sind es im DSM-5 1–2 Standardabweichungen [APA
2013]). Einer Demenzerkrankung geht in der Regel eine Phase leichterer kognitiver Beeinträchtigungen voraus, andererseits entwickelt nur ein Teil der Patienten mit MCI im weiteren Verlauf das Vollbild einer Demenz. Für diejenigen ohne deutliche Progredienz und auch ohne Alltagsbeeinträchtigungen wurde die Bezeichnung „gutartige Altersvergesslichkeit
“ oder auch „altersassoziierte Vergesslichkeit“ („age-associated memory impairment“
, AAMI; Crook et al.
1986) vorgeschlagen. Auch für ein weiter gehendes Störungsmuster, das Syndrom des „aging-associated cognitive decline
“ (AACD), wurden diagnostische Kriterien konsentiert (Levy
1994). Das Konzept des MCI geht noch darüber hinaus und fordert, dass durch Eigen- und/oder Fremdberichte gestützte Hinweise auf das Nachlassen der kognitiven Leistungsfähigkeit vorliegen, die durch die Ergebnisse in psychometrischen
Testverfahren belegt werden. Das Konzept der leichten neurokognitiven Störung im DSM-5 verlangt jedoch zusätzlich die Spezifikation einer zugrunde liegenden Ätiologie; diese wird in der Mehrzahl der Fälle unspezifiziert bleiben.
Besonders an der ursprünglichen Fokussierung auf
Gedächtnisstörungen und der Forderung nach dem Vorliegen subjektiver Gedächtnisprobleme wurde Kritik geübt, was zur Empfehlung entsprechender Modifikationen geführt hat (Winblad et al.
2004). Zwischen kognitiver Gesundheit und
Demenz erstreckt sich also ein Bereich kontinuierlich zunehmender Leistungseinbuße, der durch Konzepte wie AAMI, AACD und MCI abgesteckt werden soll. Die leichte kognitive Störung im Sinne der ICD-10 fügt sich nicht bruchlos in dieses Kontinuum, sondern meint meist zeitlich begrenzte Syndrome, nicht jedoch die subsyndromalen Vorstufen einer demenziellen Erkrankung. Die
WHO-Klassifikation erlaubt diese Diagnose nur vor, während oder nach einer näher zu bezeichnenden zerebralen oder systemischen Ursache, wobei der direkte Nachweis einer zerebralen Beteiligung nicht gefordert ist. Es sind also hinsichtlich Struktur und Verlaufscharakteristik höchst unterschiedliche Konzepte, die in diesem Abschnitt zu unterscheiden sind.
Risikofaktoren, Verlauf und Prognose
Das wesentliche Verlaufskriterium der leichten kognitiven Störung
ist die Konversion
zur
Demenz. Allerdings variieren die Angaben zu Konversionsraten wegen unterschiedlicher diagnostischer Kriterien und Beobachtungszeiträume erheblich. Schönknecht et al. (
2005) ermittelten in einer Kohorte von 500 im eigenen Haushalt lebenden jüngeren Alten bei 13,4 % ein AACD. Die
Prävalenz der Störung stieg mit dem Alter und war über einen Zeitraum von 4 Jahren sehr stabil. Mehr als die 1/2 blieb in dieser Diagnosekategorie, 1/4 war bei der Nachuntersuchung sogar kognitiv unauffällig. Nur 4,6 % der Untersuchten entwickelten im Untersuchungszeitraum ein MCI, keiner eine Demenz. Auch bei rechnerischer Ermittlung jährlicher Konversionsraten für unterschiedliche Studien ergeben sich noch substanzielle Unterschiede, wobei die Werte in der Regel über 10 % liegen und im Mittel 15 % erreichen (Weyerer und Bickel
2006). Die Vorhersage einer Demenzentwicklung allein mit den MCI-Kriterien weist zwar eine hohe Sensitivität, aber nur eine unbefriedigende Spezifität auf, was der Umstand beleuchtet, dass bei 16–40 % der MCI-Patienten eine Verbesserung im Verlauf beobachtet wird und Larrieu et al. (
2002) für einen Zeitraum von 2 Jahren sogar die Verbesserung als häufigste Ausgangsvariante bezeichnen.
In letzter Zeit wird deshalb die Suche nach zusätzlichen Prädiktoren für kognitive Verschlechterungen bis hin zur manifesten
Demenz verstärkt. Das Spektrum der hierzu herangezogenen Variablen schließt Parameter der
Liquordiagnostik oder Bildgebung ebenso ein wie klinische, genetische oder neuropsychologische Maße. Plausibel sind Hinweise dafür, dass sich die kognitiven Leistungen in Abhängigkeit vom Grad der globalen Leistungsminderung bei Studienbeginn verschlechtern (Morris et al.
2001). Bei Betrachtung des Leistungsprofils haben aus dem kognitiven Bereich Maße des episodischen Gedächtnisses, des zeitlich verzögerten Abrufs und der Wortflüssigkeit eine hohe prognostische Bedeutung. Danach folgen Bereiche wie abstraktes Denken, visuokonstruktive Fähigkeiten, Sprachproduktion und Sprachverständnis, Aufmerksamkeit und Wahrnehmungsgeschwindigkeit (Weyerer und Bickel
2006). Insbesondere Verfahren zur Messung des verzögerten Abrufs sollten als Frühindikator für eine beginnende
Alzheimer-Demenz eine Rolle spielen, da hier Konversionsraten von über 40 % gezeigt werden konnten (Vos et al.
2013).
Prognostisch besonders ungünstig scheinen neben amnestischen Snydomen aber kombinierte Einbußen in mehreren Bereichen zu sein. Bickel et al. (
2006) konnten in ihrer Untersuchung zeigen, dass sich die amnestische Variante der „multiple-domain MCI“ durch eine im Vergleich zu den anderen MCI-Untergruppen 3-mal so große Konversionsrate zur
Demenz auszeichnet. Dass Defizite in multiplen kognitiven Domänen ein wesentlicher Prädiktor für eine Konversion zur Demenz sind, ist auch den Ergebnissen einer Studie von Rasquin et al. (
2005) zu entnehmen. Unter den nichtkognitiven Symptomen bei MCI erwiesen sich Ängstlichkeit, Depressivität und Apathie als prognostisch besonders ungünstig (Förstl et al.
2008). Auch Befunde der Neurobiologie können zur Präzisierung der prognostischen Aussage beitragen. Für eine rasche Verschlechterung von kognitiven oder funktionalen Leistungen bei Patienten mit amnestischem MCI sprechen neben dem Muster und der Verlaufsdynamik neuropsychiatrischer Symptome besonders die im Vergleich zu gesunden Kontrollen mittels MRT gemessenen reduzierten Volumina im Bereich der mesiotemporalen Strukturen (Devanand et al.
2007).
Neuere Ansätze verknüpfen Hinweise dafür, dass zur Vorhersage der Konversion von MCI zur
Alzheimer-Demenz (AD) auch Liquormarker (Τau-Protein, β-Amyloid 1-42) herangezogen werden können (Hampel et al.
2004). Nach den Kriterien des National Institute on Aging und der Alzheimer’s Association (NIA-AA) liegt ein MCI im Kontext der Alzheimerkrankheit („MCI due to Alzheimer’s Disease“) vor, wenn neben subjektiven und objektiven Leistungsdefiziten ein rascher Verlauf in Abwesenheit anderer möglicher, also z. B. vaskulärer Ursachen gegeben ist und zudem Biomarker Hinweise auf eine Alzheimer-Pathologie liefern (Albert et al.
2011). Besonders vielversprechend scheint hier also die Kombination von potenziellen Prädiktorvariablen aus
Neuropsychologie und -biologie zu sein (Visser et al.
2002; Devanand et al.
2008; Nordberg et al.
2013).
Derzeit sind über 20 Substanzen in der klinischen Entwicklung, die über verschiedene Wirkmechanismen in die Amyloidpathologie eingreifen. Zu den viel versprechenden Strategien gehören die aktive und die passive Immunisierung gegen β-Amyloid (Aβ), die allerdings noch nicht ohne Risiko eingesetzt werden kann. Deutlich weniger Substanzen werden experimentell gegen die Neurofibrillenveränderungen erprobt; sie sollen die pathologische Hyperphosphorylierung des zellulären Transportproteins Tau verhindern. Ziel dieser Entwicklungen ist ebenfalls nicht allein der Einsatz bei manifester
Demenz, sondern bereits bei MCI.
Im Bereich der nichtmedikamentösen Präventionsmaßnahmen zeigen neuere
Metaanalysen kleine bis mittlere Effektstärken sowohl für Gedächtnistraining als auch körperliche Aktivität (Wang et al.
2014); hier sind jedoch zur Absicherung weitere randomisierte kontrollierte Studien erforderlich.
Angesichts dieser vielfältigen Bemühungen muss nachhaltig auf das ethische Grundprinzip des „nihil nocere“ hingewiesen werden: Jedes Therapieprinzip muss ein gut abschätzbares und insgesamt besonders günstiges Nutzen-Risiko-Verhältnis belegen können, bevor es bei diesen Patienten im Grenzbereich zwischen kognitiver Gesundheit und
Demenz zum Einsatz kommen kann. Dabei sind medikamentöse ebenso wie nichtmedikamentöse Interventionen zu berücksichtigen.
Organische Halluzinosen
Organische Halluzinosen sind gekennzeichnet durch eine umschriebene ständige oder wiederkehrende halluzinatorische Symptomatik, meist im optischen oder akustischen Sinnesbereich, wobei
Bewusstseinsstörungen oder deutlichere kognitive Einbußen in der Regel fehlen. Eine wahnhafte Verarbeitung kann vorhanden sein, sollte das Bild jedoch nicht dominieren.
Die organische Halluzinose gilt als sehr seltene Störung. Allerdings tritt sie als
Alkoholhalluzinose bei Alkoholabhängigen in etwa 1 % der Fälle auf, was bei einer Inzidenz von 5–10 % der Bevölkerung für die
Alkoholabhängigkeit hochgerechnet immerhin eine Inzidenz von 0,1 % der Allgemeinbevölkerung ausmacht. Chronischer Kokainmissbrauch führt häufig zu einer spezifischen Halluzination, bei der krabbelnde Insekten unter der Haut erlebt werden. Diese Störung tritt bei bis zu 20 % der Kokainabhängigen auf (Strang und Edwards
1993). Auch bei anderen Erkrankungen kann ein Dermatozoenwahn auftreten (Bhandary et al.
2008), wobei vielleicht weniger hirnstrukturelle Momente von Bedeutung sind als vielmehr funktionelle Abweichungen wie Schädigungen im Dopamin- und Prolaktinhaushalt (Takeda et al.
1985).
Organische Halluzinosen, die durch eine
Epilepsie verursacht werden, treten bei bis zu 10 % der Patienten auf und sind v. a. bei der Temporallappenepilepsie häufig (Slater et al.
1963). Tumoren, insbesondere des Temporallappens, führen ebenfalls bisweilen zu einer organischen Halluzinose. Diese Befunde legen nahe, dass eine enge Verbindung zwischen Läsionen des Temporallappens und organischen Halluzinosen besteht (Davison
1983). Der pathophysiologische Zusammenhang ist jedoch nicht eindeutig geklärt, wobei gelegentlich eine Störung des temporolimbischen Systems als mögliche Ursache betrachtet wird, die zu einer Fehlinterpretation sensorischer Reize und ihrer emotionalen Besetzung führen könnten. Auch in den Frühphasen demenzieller Erkrankungen (im MCI-Stadium) können überwiegend optische komplexe und bewegte
Halluzinationen (in der Regel Menschen oder Tiere) beobachtet werden. Im Einzelfall können komplexe Halluzinationen einer manifesten
Lewy-Körperchen-Demenz um mehr als 10 Jahre vorausgehen (Abbate et al.
2014). Klinisch scheinen akustische Halluzinationen häufig dialogischer Natur zu sein, die oft mehrere Personen umfassen und mit visuellen Halluzinationen einhergehen können. Bisweilen können diese Halluzinationen derart drängend sein, dass sie bei den Patienten die Ausbildung paranoider Ideen anregen, die bis zum manifesten und strukturierten
Wahn ausgebaut sein können. Angst und Depression sind dabei eine häufige Begleitsymptomatik.
Von Morsier wurde der Begriff Charles-Bonnet-Syndrom
zur Bezeichnung von
Halluzinationen (eigentlich: Pseudohalluzinationen
) bei Augenkrankheiten älterer Menschen vorgeschlagen, ohne dass diese auf eine psychiatrische Erkrankung – z. B.
Schizophrenie – bezogen werden könnten. Zu den diagnostischen Kriterien (Podoll et al.
1989) zählen bei Bewusstseinsklarheit auftretende Halluzinationen, das Fehlen grober kognitiver Einbußen, das Fehlen bedeutsamer
affektiver Störungen, die Abwesenheit einer dominierenden Wahnsymptomatik sowie der Ausschluss einer neurologischen Grunderkrankung mit Läsionen der zentralen Sehbahnen und der Sehrinde. Eine Visusminderung findet sich bei der Mehrzahl der Patienten (87 %), ist aber nicht obligat. Ein ähnliches Syndrom in einer anderen Sinnesmodalität ist die musikalische Halluzinose bei Schwerhörigkeit. Musikalische Halluzinationen
, die durchaus angenehmen Charakter haben können (Sanjuan et al.
2004), treten allerdings nicht nur im Kontext schwerer Hörminderungen auf, sie wurden vielmehr bei zahlreichen neurologischen und psychiatrischen Patienten beobachtet, wobei ihr pathophysiologischer Mechanismus bisher nicht hinreichend verstanden ist. Bei den publizierten Fällen können neben einer Hypakusis, unter der der Großteil der Patienten leidet, und psychiatrischen Erkrankungen auch hirnlokale Schädigungen, Anfallsleiden und
Vergiftungen als weitere ätiologische Konstellationen differenziert werden (Evers
2006). Es findet sich eine Bevorzugung des weiblichen Geschlechts (70 %). Musikalische Halluzinationen treten meist jenseits des 60. Lebensjahres auf, ein früheres Manifestationsalter findet sich vorwiegend bei lokalen Hirnläsionen. Eine deutliche Orientierung an der Hemisphärendominanz findet sich nicht.
Differenzialdiagnostisch sind von den
organischen Halluzinosen die
Schizophrenie und die schizoaffektive Störung abzugrenzen. Dies kann nicht allein psychopathologisch erfolgen. Die Diagnostik der organischen Halluzinose muss deshalb die Suche nach möglichen organischen Ursachen beinhalten, die paraklinisch durch elektrophysiologische und bildgebende Verfahren sowie mittels einer
Liquordiagnostik erfolgen sollte. Auch die Isolierung einer möglichen Ursache, wie etwa eine Alkohol- oder Kokainabhängigkeit alleine reichen für die Diagnosestellung nicht aus. Es ist in diesem Kontext zu bedenken, dass Patienten, die an einer Schizophrenie leiden, häufig ebenfalls eine Abhängigkeitsproblematik im Sinne einer Doppeldiagnose aufweisen.
Neben einer symptomatischen neuroleptischen Therapie steht bei Abhängigkeitserkrankungen die Behandlung der Sucht im Vordergrund. Längere Abstinenz führt häufig zur Vollremission der Halluzinose.
Vorsicht ist bei
organischen Halluzinosen auf der Basis einer Temporallappenepilepsie geboten, da hier eine neuroleptische Behandlung zu einer Erhöhung der Anfallsbereitschaft führen und somit die Symptomatik verstärken kann.
Hier empfiehlt sich eine Therapie mit
Carbamazepin oder
Valproinsäure. Die besten therapeutischen Resultate werden bei musikalischen
Halluzinationen durch strikte Orientierung an der wahrscheinlichen Ätiologie erzielt (Coebergh et al.
2015).
Organische katatone Störung
Die organische katatone Störung
ist insgesamt nicht sehr selten. Von allen katatonen Störungen werden mehr als 20 % als organisch begründet angesehen, wobei besonders vorangegangene Schädel-Hirn-Traumen, Enzephalitiden sowie verschiedene
Intoxikationen und schwere metabolische Störungen von ätiologischer Relevanz sind (Ahuja
2000).
Von besonderer Bedeutung ist bei erhöhtem intrakraniellen Druck eine mögliche Beteiligung des Dienzephalon, die eine sorgfältige neurologische Untersuchung (Pupillenreaktion! Augenhintergrund!) erfordert und als neuropsychiatrischer Notfall anzusehen ist.
Von den Intoxikationen sind v. a. die Kohlenmonoxidvergiftung, die akute Drogenintoxikation, aber auch das maligne neuroleptische Syndrom von Bedeutung.
Relativ häufige
metabolische Ursachen sind
Kasuistisch wurde über einen katatonen
Stupor Jahre nach einem rechtshemispheralen Insult berichtet (Jørgensen und Jørgensen
2009). Insbesondere bei älteren Patienten sollte auch an die Möglichkeit eines Parkinson-Stupors gedacht werden.
Klinisch kann das Bild zwischen
Stupor und
Erregungszuständen wechseln. Eine stuporöse Symptomatik legt eine Beteiligung des Hirnstamms nahe, während ein erregt-katatones Bild eher an frontale oder generalisierte Läsionen denken lässt; eine eindeutige Zuordnung ist nach der Klinik jedoch nicht möglich. Oft sind die Patienten schläfrig bis somnolent, Okulomotoriusparesen sind nicht selten. Jeder Stupor ist somit bis zum Ausschluss möglicher organischer Ursachen als Notfall zu betrachten, der eine intensive und rasche Diagnostik erfordert, die sich nach den Leitlinien zur Diagnostik eines Delirs richtet (Leentjes und Diefenbacher
2006). Die Akuität des Verlaufes kann Hinweise auf die Ursache des Stupors geben; so weist ein perakuter Beginn auf eine infektiöse, ein schleichender Beginn eher auf eine chronisch toxische Ursache wie etwa die
Hyperthyreose hin. Vom Stupor bei
katatoner Schizophrenie oder bei schweren
depressiven Episoden kann die organische katatone Störung meist durch eine gezielte Fremdanamnese abgegrenzt werden.
Die Fremdanamnese entbindet jedoch nicht von einer sorgfältigen Diagnostik, insbesondere dann nicht, wenn neurologische Symptome vorliegen oder initiale Therapieversuche erfolglos geblieben sind.
So kann mit Lorazepam-Kurzinfusionen das stuporöse Bild durchbrochen werden. Hier ist jedoch zu beachten, dass insbesondere bei schwerer Intoxikation eine dramatische Verschlechterung des klinischen Bilds zu erwarten ist. Zeigt sich initial jedoch eine Besserung, sollte die Behandlung in kurzen Abständen wiederholt werden. Bei fehlendem Therapieerfolg kann nach Identifikation einer Ursache auch ein vorsichtiger Therapieversuch mit niedrigen Dosen eines hochpotenten Neuroleptikums vorgenommen werden. Beim älteren Patienten empfiehlt sich ein Therapieversuch mit Amantadin-Infusionen, insbesondere dann, wenn eine vaskuläre Ursache oder ein M. Parkinson gegeben ist. Die Prognose des organischen katatonen Stupors ist, insbesondere im Alter, oft ungünstig. Sie hängt in erster Linie von der raschen Identifikation und Behandlung der Grunderkrankung ab.
Organische wahnhafte Störung
Organische
wahnhafte Störungen treten bei klarem Bewusstsein und nicht nennenswert beeinträchtigter intellektueller Leistungsfähigkeit auf.
Halluzinationen können begleitend vorhanden sein, dominieren aber nicht das Bild und brauchen nicht den Rahmen für den
Wahn abzustecken. Auch
formale Denkstörungen sowie einzelne psychomotorische Auffälligkeiten im Sinne katatoner Symptome können vorhanden sein. Dominieren sie, ist eine organische katatone Störung zu diagnostizieren. Das klinische Bild bei Temporallappenepilepsien ist oft kaum von einer
Schizophrenie zu trennen, wenn auch diese Patienten charakteristischerweise oft leichte kognitive Störungen und darüber hinaus auch sensorische Einbußen aufweisen (Cornelius et al.
1991). Thematisch handelt es sich meist um paranoide Wahnideen, jedoch treten auch hypochondrische Wahninhalte sowie Größen- und Verarmungswahn auf. Beim chronischen Missbrauch von
Amphetaminen und
Kokain ist ein Verfolgungswahn typisch, bei
Alkoholabhängigkeit nicht selten ein Eifersuchtswahn. Der Wahn bei der organischen wahnhaften Störung ist häufig auf realitätsnahe Inhalte gerichtet und wird deshalb auch als pseudorealistischer Wahn
bezeichnet. In einigen Fällen können
Ich-Störungen, insbesondere das Gefühl des Gemachten, aber auch Denkzerfahrenheit auftreten. Auch das Vorliegen akustischer Halluzination ist bei der Temporallappenepilepsie nicht selten. Angst und Depression können als Begleitsymptome auftreten. Die Themenwahl ist besonders beim älteren Patienten oft persönlichkeits- und biografiesynton. So sind Verfolgungserleben und Wahninhalte oft auf nahe Angehörige oder das direkte, konkrete Lebensumfeld der Patienten bezogen, wodurch sich die differenzialdiagnostische Abgrenzung gegen eine funktionelle Störung problematisch gestalten kann.
Organische
wahnhafte Störungen sind selten und folgen einem ähnlichen ätiologischen Muster wie die
organischen Halluzinosen. Ätiologisch ist besonders an eine Temporallappenepilepsie zu denken, bei der der Beginn der psychotischen Symptomatik 15 oder mehr Jahre gegenüber dem Beginn der Anfälle verschoben sein kann. Iktales und psychotisches Geschehen können einander auch in kürzeren Zyklen im Sinne einer Alternativpsychose abwechseln. Neben Krampfleiden sind auch hier der chronische Missbrauch von
Kokain,
Amphetaminen und Alkohol sowie Traumata und Infektionen häufige Ursachen. Differenzialdiagnostisch sind die
Schizophrenie, aber auch das
Delir sowie Wahnsymptome im Rahmen eines Demenzprozesses abzugrenzen. Der Verlauf ist oft chronisch stabil; nach einer initial akut oder subakut auftretenden Symptomatik bleibt diese über lange Zeiträume hin unverändert.
Wahnhafte Fehlidentifikationen
Wahnhafte Fehlidentifikationen
(„delusional misidentification syndromes“
, DMS) können im Rahmen einer großen Zahl von
psychischer Störungen auftreten. Neben schizophrenen Störungsbildern sind dies v. a. organisch bedingte Störungen, besonders demenzielle Erkrankungen. In diesem Kontext sind sie ein gutes Beispiel für die Interdependenz organischer und psychodynamischer Faktoren bei der Syndromgenese, wobei eine leichte bis mittelgradige Beeinträchtigung amnestischer und exekutiver Funktionen im Sinne einer gestörten Realitätsprüfung ihr Auftreten begünstigt (Rentrop et al.
2002). Als gemeinsames Kennzeichen haben diese unspezifischen psychopathologischen Symptome die Leugnung der eigenen Identität oder die rational nicht korrigierbare Überzeugung, dass die eigene oder die Identität von vertrauten Personen verändert wurde. Die bekannteste Störung dieser Gruppe ist das Capgras-Syndrom
. Es zählt zu den wahnhaften Personenverkennungen, bei der eine vertraute Person für ihren Doppelgänger gehalten wird. Gelegentlich werden auch Objekte im Sinne einer inszenierten Fälschung verkannt. Meist tritt es nicht als isoliertes psychopathologisches Phänomen auf, vielmehr ist es oft eingebunden in eine komplexere Wahnsystematik, zu der organische und psychodynamische Faktoren gleichermaßen beitragen. Das Fregoli-Syndrom
ist gekennzeichnet durch den wahnhaften Glauben, dass ein vermeintlich bekannter Verfolger seine Identität blitzschnell und polymorph wechseln kann. Das Syndrom der Intermetamorphose
besteht in dem wahnhaften Glauben, dass eine andere Person sowohl ihre physische als auch ihre psychische Identität rasch wechseln kann (Assal und Mendez
2003). Beim Doppelgängerwahn
ist der Patient davon überzeugt, dass eine andere Person einen physisch identischen Doppelgänger der eigenen Gestalt darstellt.
Während das Capgras-Syndrom als Hypoidentifikationssyndrom
im Sinne einer fehlenden Vertrautheit
gegenüber eigentlich vertrauten Personen oder Sachen charakterisiert wurde, kennzeichnen die drei übrigen als Hyperidentifikationssyndrome
Situationen unangemessener Vertrautheit (Christodoulou et al.
2009). Fleminger (
1994) beschrieb eine inverse Beziehung zwischen dem Grad der organischen Schädigung und dem Vorhandensein paranoider Wahninhalte. Die klinische Bedeutung dieser Syndrome liegt nicht zuletzt darin, dass Patienten mit diesen Störungen ein höheres Risiko für aggressive Verhaltensstörungen tragen (Rentrop et al.
2002), was sich aus der Sicht der Patienten, die sich von Betrügern und Doppelgängern umstellt sehen, auch gut nachvollziehen lässt. Die
Prävalenz für alle wahnhaften Fehlidentifikationen
wird mit etwa 4 % aller Patienten mit „funktionellen Psychosen“ angegeben (Arenz
2000), bei der
Alzheimer-Demenz fand sich ein vergleichbares Störungsbild bei mehr als 1/4 der Fälle (Förstl et al.
1994). Shah et al. (
2001) untersuchten die Frage der neuronalen Korrelate des Gefühls der Vertrautheit von Gesichtern und Stimmen mittels MRT und fanden sie unabhängig von der Stimulusmodalität assoziiert mit einer bilateral vermehrten Aktivität im posterioren Zingulum einschließlich des retrosplenialen Kortex. Dieser Befund lässt daran denken, dass das Erkennen einer Person einen Informationsfluss von modalitätsspezifischen Modulen vom temporalen zum retrosplenialen Kortex voraussetzt. Letztgenannte Region wird sowohl mit dem episodischen Gedächtnis als auch mit emotionaler Salienz in Beziehung gebracht und scheint ein Schlüsselort für die Fähigkeit zu sein, einer Person Vertrautheit zuzuordnen. Störungen in diesem Bereich könnten also klinisch den wahnhaften Personenverkennungen ebenso zugrunde liegen wie der Prosop- und der Phonagnosie.
Organische affektive Störung
Die organische affektive Störung ist die häufigste sekundäre organische Störung. Obgleich gesicherte epidemiologische Daten fehlen, ist angesichts der Multimorbidität im Alter mit einer Zunahme der Inzidenz zu rechnen.
Vom
Delir als wesentlichster Differenzialdiagnose unterscheiden sich Störungen dieser Gruppe durch Stimmungsauffälligkeiten
und häufig auch durch Veränderungen im Antriebsniveau bei gleichzeitigem Fehlen von
Bewusstseinsstörungen. Von einem
Demenzsyndrom lassen sie sich durch das Fehlen gravierender kognitiver Einbußen differenzieren. Gemeint ist beim organischen Affektsyndrom die durch eine organische Erkrankung oder durch eine verordnete Medikation begründete und nicht die als Reaktion auf das Erleben einer Erkrankung hervorgerufene Affektstörung. Es kann sich dabei sowohl um depressive als auch um manische Syndrome handeln. Auch alternierende oder gemischte Zustandsbilder werden beobachtet.
Affektive Störungen im Rahmen von demenziellen Erkrankungen werden dort diagnostiziert, es sei denn die
Demenz wäre mit großer Wahrscheinlichkeit nicht im Zusammenhang mit der affektiven Störung zu sehen.
Affektive Störungen, die die direkten pathophysiologischen Konsequenzen eines
Schlaganfalls oder anderer medizinischer Erkrankungen sind, zählen weder in der ICD-10 noch im
DSM-5 zur Gruppe der
bipolaren affektiven Störungen, obwohl sie üblicherweise mit abgegrenzten Krankheitsepisoden und intermittierenden Phasen affektiven Wohlbefindens – mithin bipolar – verlaufen (Subramaniam et al.
2007). Das sich daraus ergebende diagnostische Dilemma wird oft durch ein Ausblenden der sekundären Manien aus dem Spektrum affektiver Erkrankungen gelöst.
Klinisch können sämtliche Symptomkonstellationen vorkommen, die bei den
affektiven Störungen nichtorganischer Genese auftreten. Die Abgrenzung zu den primär affektiven Störungen ist schwierig. Häufig sind somatische Beschwerden, die allerdings angesichts der organischen Ursache trivial erscheinen. Hier zeigt sich jedoch eine Schwierigkeit der differenzialdiagnostischen Abgrenzung der organischen Depression zur reaktiven Depression bei einer körperlichen Grunderkrankung. Keine der im Alter gehäuft auftretenden organischen Grunderkrankungen führt unausweichlich zu einer Depression, was dafür spricht, dass ein gemeinsames Auftreten im Einzelfall auch Zufall sein kann. Die häufige Verschränkung organischen Krankseins mit affektiver Psychopathologie im Alter zwingt aber in jedem Falle zu einer gründlichen körperlichen Untersuchung einschließlich einer angemessenen Bildgebung (Baldwin et al.
2005). Schließlich können die Einschränkungen im Alltags- und Sozialleben, die manche Erkrankungen mit sich bringen, auch auslösende Faktoren für eine
depressive Episode sein, ohne dass organische Prozesse daran beteiligt sind.
Organische Depressionen
Bei vielen hirnorganischen Schädigungen älterer Patienten finden sich depressive Symptome. Prinzipiell kommen alle körperlichen Erkrankungen, die mittelbar oder unmittelbar eine Funktionsstörung des Gehirns bedingen, in Frage. Dazu zählen auch schwere Infektionskrankheiten, Karzinome (insbesondere mit paraneoplastischen Endokrinopathien), kardiovaskuläre Erkrankungen (insbesondere die
Herzinsuffizienz), die
Hypothyreose, die
Hyperkalzämie und der M. Cushing. Eine häufige Konstellation ist die medikamentös induzierte Depression
, insbesondere im Alter, die durch eine Vielzahl von Substanzen ausgelöst werden kann (z. B. Reserpin, Clonidin, Statine,
Kalziumantagonisten, Interferone, Steroide, β-Blocker, Methyldopa, Nifedipin und
Digoxin,
Antibiotika, H
2-Blocker). Bei Schlaganfällen ist das Risiko begleitend ausgelöster Depressionen hoch. Etwa 1/3 aller Schlaganfallpatienten entwickelt in den ersten 6 Monaten ein depressives Syndrom (House et al.
1989). Sie sind neben den
Demenzen häufigste Ursachen organischer Depressionen
im Alter (Robinson et al.
1984). Rein psychopathologisch existieren keine sicher differenzierenden Einzelkriterien, wenn auch eine Gruppe von Merkmalen identifiziert wurde, die gehäuft bei organischen Depressionen zu beobachten sind (Cornelius et al.
1993). Dazu zählen neben Hinweisen auf das Vorliegen einer leichten kognitiven Störung auch Affektlabilität und -verflachung, Aggressivität, Verlangsamungen in Sprache und Denken sowie sensorische Einschränkungen. In die gleiche Richtung weisen Befunde von Eisenberg et al., die mittels der Positive and Negative Symptoms Scale (PANSS) depressive Syndrome bei
Schizophrenien, Major Depressionen und
Alzheimer-Demenzen differenzieren konnten (Eisenberg et al.
2009). Im Einzelfall wurden auch spezifische psychopathologische Symptomkonstellationen bei körperlichen Erkrankungen beschrieben. So gelten für die Depression bei Herzinsuffizienz schwere nächtliche
Albträume als charakteristisch. In vielen Fällen fällt es allerdings schwer, den Anteil des neurobiologischen Faktors in Abgrenzung zu psychodynamischen Variablen exakt zu bestimmen.
Organische Manien
Die organische, sekundäre Manie
ist seltener als die organische Depression. Während spät manifestierende
bipolare Störungen eng verknüpft sind mit organischen Hirnschädigungen, weisen früh manifestierende Fälle häufiger eine familiäre Belastung mit Affektstörungen auf. Snowdon (
1991) konnte bei der 1/2 seiner alten manischen Patienten ohne neurologische Komorbidität eine familiäre Belastung identifizieren, während nur 15 % der manischen Patienten mit einer neurologischen Begleiterkrankung eine spezifische Familienanamnese einer affektiven Erkrankung aufwiesen. An diesem Punkt wird der fließende Übergang zwischen der
manischen Episode bei bipolarer Erkrankung mit somatischer Komorbidität und dem Konzept der sekundären Manie
deutlich (Krauthammer und Klerman
1978; Stasiek und Zetin
1985). Als Ursachen kommen neben zerebrovaskulären Ereignissen, zerebrale Tumoren, Infektionen und Medikamente in Frage, v. a.
Kortikosteroide und Levodopa. Die in Frage kommenden zerebralen Läsionen betreffen meist orbitofrontale, temporale oder temporoparietale Bereiche der rechten Hemisphäre (Brooks und Hoblyn
2005). Auch die Hyperglykämie bei schlecht eingestelltem
Diabetes mellitus kann zu einem organisch bedingten manischen Syndrom führen
Sekundäre Manien älterer Patienten sind eine gravierende Erkrankung, die zwingend eine umfassende Diagnostik unter Einschluss bildgebender Verfahren erfordert, um zerebrale Insulte oder Tumoren auszuschließen (Carlino et al.
2013). Da diese Patientengruppe ein höheres Erkrankungsrisiko für eine Fülle von Störungen aufweist, die sämtlich geeignet sind, sekundäre Manien auszulösen, ist eine sorgfältige Anamneseerhebung unverzichtbar. Spät manifestierende primäre Manien sind mit Abstand die unwahrscheinlichere ätiologische Option im Alter (Tohen et al.
1994).
Organische Angststörung
Epidemiologische Daten zur organischen Angststörung
sind spärlich. Wahrscheinlich ist sie jedoch, wie die organische affektive Störung, eine häufige sekundäre organische Erkrankung. Bei neurologischen Grunderkrankungen ist sie sogar häufiger als die organische Affektstörung (Wise und Rundell
1999) und bei der chronisch
obstruktiven Lungenerkrankung wird die
Prävalenz klinisch bedeutsamer Depressionen oder
Angststörungen mit 50 % angegeben (Mikkelsen et al.
2004). Ursächlich kommt eine Reihe von somatischen Ursachen in Frage, die sich weitgehend mit den Ursachen für eine organische Depression überschneiden. Als relativ spezifisch gelten Schilddrüsenfunktionsstörungen, das
Phäochromozytom sowie hormonelle Störungen bei Frauen (Mackenzie und Popkin
1983). Eine Reihe von somatischen Störungen verursacht Symptome, die denen der Angst- oder
Panikstörung ähneln können. Hierzu zählen die
ventrikuläre Tachykardie, das
Asthma bronchiale, das
Lungenemphysem, der
Tinnitus und die chronische Gastritis. Bei dieser Gruppe fällt eine Differenzierung nach dem Kausalitätsprinzip oft schwer. Die klinische Erfahrung zeigt, dass auch viele verordnete (z. B. Reserpin,
Theophyllin, β-Mimetika) und frei verkäufliche Medikamente (z. B. Appetitzügler) Angst- oder Panikstörungen oder wenigstens Teilsymptome wie Herzklopfen, Enge- oder Entfremdungsgefühl,
Schwindel und Schwächegefühle auslösen können.
Klinisch ist den organischen
Angststörungen eine hohe Variabilität im Verlauf gemeinsam. Frei flottierende Ängste stehen neben akuten Panikattacken, die von subakuten Verwirrtheitszuständen oder einer ängstlichen Grundstimmung abgelöst werden können. Oft liegen spezifische körperliche Auslösemechanismen vor, die die Patienten berichten können, wie etwa große körperliche Anstrengung, plötzliches Aufstehen oder erhöhter intraabdomineller Druck. Die klinische Differenzierung muss immer auch körperliche Symptome der Grunderkrankung berücksichtigen, wie etwa Tachykardie, Hypertonus oder Hyperreflexie. Die Abgrenzung zur Angststörung nichtorganischer Genese ist häufig schwierig. Wie bei der organisch affektiven Störung können Angststörungen neben potenziell auslösenden körperlichen Erkrankungen vorliegen, ohne dass ein direkter Zusammenhang eindeutig ist. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn die Symptome nach erfolgreicher Behandlung der Grunderkrankung persistieren. Da die organisch begründeten Angststörungen ebenso wie die vergleichbaren funktionellen Syndrome mit massiven psychosozialen Auffälligkeiten einhergehen können, werden diese leicht als Ursache und nicht als Folgeerscheinung interpretiert. Die Prognose ist insgesamt als schwierig einzuschätzen.
Ob Patienten mit einer organischen Angststörung sich ebenso verhalten wie die Mehrheit der von einer
generalisierten Angststörung Betroffenen, indem sie deutlich seltener als erwartet um Therapie nachsuchen (Kessler et al.
2001), ist nicht bekannt.
Organische dissoziative Störung
Die organische dissoziative Störung
ist wahrscheinlich selten. Verlässliche epidemiologische Daten fehlen jedoch. Ätiologisch werden v. a. vaskuläre Störungen diskutiert, wenn auch hier an eine große Zahl von möglichen Ursachen gedacht werden kann (Good
1993). Während eine diagnostische Kategorie für die organische dissoziative Störung in der ICD-10 existiert, war eine solche im Instrument der APA bis zum DSM-III nicht vorgesehen, konnte auch im
DSM-IV nur ohne jegliche Spezifizierung in der Kategorie 293.9 abgebildet werden und fehlt erneut im
DSM-5.
Klinisch ähnelt die organische dissoziative Störung der psychogenen dissoziativen Störung. So können
dissoziative Amnesie,
dissoziative Fugue und dissoziativer
Stupor ebenso auftreten wie motorische dissoziative oder
Konversionsstörungen. Grundsätzlich gilt auch hier, dass eine organische Ursache und ein zeitlicher Zusammenhang identifiziert sein müssen, um die Diagnose stellen zu können. In der Abgrenzung zu den nichtorganischen
dissoziativen Störungen ist die Identifikation relevanter psychischer Belastungserlebnisse, die die Diagnose einer organischen dissoziativen Störung ausschließen, oft problematisch. Auch ist eine klare Kausalität zwischen organischer Störung und relevanten Belastungsereignissen oft nicht möglich. Markowitsch et al. (
1999) etwa beschreiben den Fall eines Patienten mit einer dissoziativen Fugue, bei der es zu einem temporären Erinnerungsverlust für die gesamte Biografie kam, und nennen sowohl organische Veränderungen im Sinne einer deutlichen hippokampalen Minderperfusion, wie auch psychische Belastungsereignisse. An diesem Beispiel wird deutlich, dass eine klare diagnostische Trennung oft nicht erfolgen kann und die empirische
Validität dieser Diagnose in Frage zu stellen ist.
Organische asthenische Störung
Auch die organische asthenische Störung ist wahrscheinlich selten. Ätiologisch kommen zerebrovaskuläre Erkrankungen ebenso wie Traumata oder para- wie postinfektiöse Enzephalitiden in Frage, andere Ursachen sind aber ebenfalls möglich.
Organische asthenische Störungen, auch als „pseudoneurasthenisches Syndrom
“ bezeichnet, finden sich in Form mehr oder weniger diskreter, im Verlauf gelegentlich stark schwankender Störungen des Antriebs, der Willensbildung, der affektiven Reaktivität und Kontrolle, der Absenkungen des energetischen Potenzials mit erhöhter Ermüdbarkeit und dem subjektiven Erleben kognitiver Einbußen, etwa der Sorge um ein gestörtes Gedächtnis. Neben diesen Symptomen kann eine Vielzahl psychovegetativer körperlicher Symptome (
Schwindel, Herzenge) auftreten. Der Übergang zu organisch begründeten Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen ist fließend. Auch hier ist eine differenzialdiagnostische Abgrenzung zur nichtorganischen asthenischen Störung oft schwierig, bisweilen unmöglich.
Organische Persönlichkeitsstörung
Organische
Persönlichkeitsstörungen sind v. a. im Alter häufig. In der Definition der ICD-10 wird bei organischen Persönlichkeitsstörungen
auf spezifische Abweichungen von prämorbiden Verhaltensmustern in den Bereichen Affektäußerungen, Impulskontrolle und Formulierung von Bedürfnissen fokussiert. Auch eine Beeinträchtigung kognitiver Fähigkeiten und des Denkvermögens können Teil der Syndromatik sein. Im
DSM-5 findet sich kein eigenes Kapitel für „organische“
psychische Störungen. Persönlichkeitsveränderungen aufgrund einer medizinischen Erkrankung werden dem Kapitel der Persönlichkeitsstörungen zugeordnet (DSM-5: 310.1). Der Benutzer wird ergänzend aufgefordert, den „medizinischen Krankheitsfaktor“ zu spezifizieren. Wie bereits im
DSM-IV finden sich auch im DSM-5 einige häufige Subtypen von Persönlichkeitsstörungen (labil, enthemmt, aggressiv, apathisch und paranoid). In der ICD-10 sind die organischen Persönlichkeitsstörungen im Gegensatz zu den Störungen der Kategorie F06 als irreversibel definiert, wobei durchaus deutliche Schwankungen möglich sind, und können als komorbide Störungen (z. B. neben Demenzerkrankungen) codiert werden.
Symptomatik
Hirnorganische Schädigungen führen nicht selten zu Veränderungen der Persönlichkeit in den Bereichen Affektivität, Willensbildung, Impulskontrollen, Denken, Sexualverhalten und generell im Sozialverhalten. In der Mehrzahl der Fälle erfährt die ursprüngliche Persönlichkeit des Patienten eine Entdifferenzierung und Nivellierung. Früher erworbene soziale Kompetenzen stehen nicht mehr verlässlich zur Verfügung, soziale Konventionen werden weniger beachtet. Gelegentlich kann auch eine Überzeichnung, ja sogar Karikatur der Grundpersönlichkeit beobachtet werden. Bei ausgeprägter Einbeziehung des Frontallappens ins Krankheitsgeschehen kann die Persönlichkeit im Sinne der organischen Wesensänderung eine Veränderung erfahren. Die Antriebslage ist wechselnd und in der Entwicklung manchmal schwer vorhersehbar. Kognitive Störungen finden sich in dem Sinne, dass zielgerichtete Aktivitäten oder das längerfristige Verfolgen von Planungen reduziert sind. Umständlichkeit und Rigidität prägen die Äußerungen des Patienten, auch die Fähigkeit, sich auf neue Situationen und Anforderungen einzustellen, ist beeinträchtigt. Haltungen und weltanschauliche Positionen können zunehmend erstarren und im Sinne überwertiger Ideen Wahnähnlichkeit gewinnen. Auch das Sexualverhalten ist von diesem Geschehen nicht ausgespart, Triebreduktionen sind ebenso zu beobachten wie enthemmtes und sozial intolerables, „pseudopsychopathisches“ Verhalten. Der Ort der Schädigung und im Einzelfall auch die Art der Erkrankung geben der Persönlichkeitsstörung einen spezifischen Charakter.
Typisch für frontale Läsionen
sind auch kognitive Störungen, die sich in Konzentrationsstörungen und Gedächtnisdefiziten zeigen können, und bisweilen die Diagnose eines demenziellen Syndroms rechtfertigen können. Die Veränderungen der Persönlichkeit beinhalten auch affektive Veränderungen. Bei Schädigungen im dorsolateralen präfrontalen Kortex imponieren eher Apathie und Depressivität, bei orbitofrontalen Läsionen finden sich dagegen eine erhöhte Irritabilität oder Euphorisierung, sowie Enthemmung und gesteigerte Reizbarkeit. Ein klassisches Beispiel aus dem 19. Jahrhundert ist hierfür der amerikanische Sprengmeister Phineas Gage
, der nach einem Perforationstrauma im Bereich des frontalen Kortex schwere Persönlichkeitsveränderungen zeigte. War er vor dem Unfall ein sorgfältiger Arbeiter und fürsorglicher Familienvater gewesen, wurde er später im Arbeitsleben nachlässig, machte unflätige Witze, war seinen Kindern gegenüber gewalttätig und verkehrte mit Prostituierten (Damasio et al.
1994).
Sollberger et al. (
2009) fanden bei der Untersuchung von Patienten mit neurodegenerativen Erkrankungen Hinweise darauf, dass „agonale“
Persönlichkeitseigenschaften (Extraversion, Dominanz) bei einer Atrophie des links-dorsolateralen Präfrontalkortex und des links-frontalen Temporalpols reduziert sind, während „affiliative“ Merkmale
(Nachgiebigkeit, Wärme) bei einer Atrophie des rechts-ventromedialen Präfrontalkortex und rechts-anteromedialen Temporallappens verloren gehen (Förstl et al.
2009).
Das ursprünglich tierexperimentell nach bilateraler Ablation des Temporallappens und Rhinenzephalons bei Rhesusaffen identifizierte Klüver-Bucy-Syndrom
wird beim Menschen in aller Regel nur in inkompletter Ausprägung beobachtet, wobei dort gleichzeitig komplexere Verhaltensstörungen im Sinne von Enthemmungsphänomenen beobachtet werden (Aichner
1984). Im Einzelnen zählen zu den Symptomen eine
visuelle Agnosie mit Verlust des Erkennens von Personen und Objekten, vermehrte Ablenkbarkeit durch optische Reize, Hyperoralität mit oralen Automatismen und Hypersexualität, aber auch motorische Verlangsamung, Antriebs- und Affektverflachung sowie Lern- und
Gedächtnisstörungen. Ätiologische Bedeutung haben für dieses Syndrom neben traumatischen Hirnläsionen und Virusenzephalitiden wohl am häufigsten frontotemporale Degenerationen.
Lange Zeit wurde bei der
Epilepsie eine spezifische Persönlichkeitsveränderung vermutet. In den letzten zwei Jahrzehnten konnte jedoch gezeigt werden, dass auch hier ein breites Spektrum möglicher
Persönlichkeitsstörungen vorliegt (Helmstaedter und Witt
2012). Insbesondere die Temporallappenepilepsie scheint jedoch spezifischer durch dissoziales Verhalten, Misstrauen und paranoide Denkinhalte charakterisiert zu sein.
Für den M. Parkinson
und die
multiple Sklerose werden ebenfalls spezifische Persönlichkeitsveränderung postuliert. Während beim M. Parkinson Misstrauen und Zwangsphänomene genannt werden, stehen bei der multiplen Sklerose Störungen der Impulskontrolle und der Affektivität im Vordergrund. Es muss jedoch betont werden, dass gesicherte Erkenntnisse hier fehlen. Ebenso sollte bedacht werden, dass beide Erkrankungen einen signifikanten psychischen Stressor bedeuten und die beobachtete Persönlichkeitsveränderung auch als Anpassung an die schwere körperliche Erkrankung gedeutet werden könnte.
Die Behandlung sollte jedoch in jedem Falle in eine psychosoziale Intervention eingebettet sein, die insbesondere auch nahe Angehörige der Patienten mit umfassen sollte. Da der Verlauf der organischen
Persönlichkeitsstörungen chronisch stabil ist, erscheint die Prognose meist ungünstig, es sei denn, eine Therapie der Grunderkrankung erweist sich als möglich.