Skip to main content
Klinische Neurologie
Info
Publiziert am: 06.04.2018

Polyneuropathien: Differenzialdiagnostik

Verfasst von: Andreas Engelhardt
Das polyneuropathische Syndrom ist auf eine Schädigung mehrerer oder aller peripherer Nerven zurückzuführen. Zahlreiche Grundkrankheiten und äußere Einflüsse können zu einer Polyneuropathie führen. Die Ursachen lassen sich einteilen in: Entzündungen (immunologisch oder erregerbedingt), metabolische Ursachen (endokrine Störungen, v. a. Diabetes mellitus; Mangelerscheinungen, v. a. Avitaminosen; Organschäden, v. a. Niere), Paraproteinämien und Paraneoplasien, toxische Ursachen (Alkohol, Medikamente, gewerbliche bzw. Umweltgifte), hereditäre Ursachen (durch Stoffwechsel- oder Strukturdefekte). Zwischen den Gruppen bestehen zahlreiche Überlappungen. Diabetes und Alkohol sind für fast die Hälfte aller Neuropathien verantwortlich. Sind sie ausgeschlossen, kommen mehr als 200 andere Ursachen in Frage, die nur durch umfangreiche Untersuchungen erschlossen werden können. Man kann davon ausgehen, dass durch Anwendung aller diagnostischen Möglichkeiten (einschließlich Nervenbiopsie) insgesamt etwa 70–80 % der Ursachen aufgedeckt werden können. Die Häufigkeit der Polyneuropathien wird allgemein unterschätzt. Allein wegen Diabetes und Alkoholismus ist die Annahme einer Prävalenz von 3–8 % in der Gesamtbevölkerung mit zunehmender Tendenz im Alter jedoch realistisch. Polyneuropathien sind damit so häufig wie Schlaganfälle!
Das polyneuropathische Syndrom ist auf eine Schädigung mehrerer oder aller peripherer Nerven zurückzuführen. Zahlreiche Grundkrankheiten und äußere Einflüsse können zu einer Polyneuropathie führen (Abb. 1). Die Ursachen lassen sich einteilen in:
  • Entzündungen (immunologisch oder erregerbedingt),
  • metabolische Ursachen (endokrine Störungen, v. a. Diabetes mellitus; Mangelerscheinungen, v. a. Avitaminosen; Organschäden, v. a. Niere),
  • Paraproteinämien und Paraneoplasien,
  • toxische Ursachen (Alkohol, Medikamente, gewerbliche bzw. Umweltgifte),
  • hereditäre Ursachen (durch Stoffwechsel- oder Strukturdefekte).
Zwischen den Gruppen bestehen zahlreiche Überlappungen. Diabetes und Alkohol sind für fast die Hälfte aller Neuropathien verantwortlich. Sind sie ausgeschlossen, kommen mehr als 200 andere Ursachen in Frage, die nur durch umfangreiche Untersuchungen erschlossen werden können. Man kann davon ausgehen, dass durch Anwendung aller diagnostischen Möglichkeiten (einschließlich Nervenbiopsie) insgesamt etwa 70–80 % der Ursachen aufgedeckt werden können. Die Häufigkeit der Polyneuropathien (PNP) wird allgemein unterschätzt. Allein wegen Diabetes und Alkoholismus ist die Annahme einer Prävalenz von 3–8 % in der Gesamtbevölkerung mit zunehmender Tendenz im Alter jedoch realistisch. Polyneuropathien sind damit so häufig wie Schlaganfälle!
Klinik
Die Patienten klagen über Reizerscheinungen, die sich sensibel als Parästhesien (Kribbeln, Brennen, Ameisenlaufen, Gefühl des Eingeschnürtseins) oder Schmerzen („Burning Feet“, Reißen, Stechen), motorisch als Muskelkrämpfe (Crampi; v. a. Wadenkrämpfe) äußern. Viele Kranke ertragen wegen einer Überempfindlichkeit der Haut (Hyperpathie, Dysäthesie) die Berührung der Bettdecke nicht, einige verspüren eine ständige Unruhe in den Beinen (Restless Legs). Bereits die Anamnese kann Hinweise auf die Genese geben. Wichtig sind Fragen nach dem Beginn der Erkrankung, wobei insbesondere akute schmerzhafte Sensibilitätsstörungen und asymmetrisch beginnende Lähmungen verstärkt die Aufmerksamkeit in Richtung entzündlicher bzw. vaskulär bedingter Neuropathien lenken sollten. Besondere Ereignisse vor dem Auftreten der Symptome sind einzubeziehen, wie etwa ein Zeckenbiss, eine Infektionskrankheit oder Medikamentengabe. Fragen nach sonstigen Erkrankungen sollten sich nicht auf Diabetes und Alkohol beschränken, sondern Erkrankungen der Niere, der Schilddrüse, des rheumatischen Formenkreises sowie chronische Infektionskrankheiten und Neoplasmen einbeziehen. Da Polyneuropathien nicht selten erblich sind, ist eine sorgfältige Familienanamnese gerade bei fehlenden Vor- oder Begleiterkrankungen wichtig.
Bei der neurologischen Untersuchung zeigen sich Polyneuropathien als Muskelatrophien, schlaffe Lähmungen, Abschwächung oder Verlust der Muskeleigenreflexe (Achillessehnenreflexe) und Sensibilitätsminderung. Frühzeitig ist zumeist das Vibrationsempfinden herabgesetzt (Pallhypästhesie). Sockenförmige Ausfälle des Berührungs-, Schmerz- und Temperaturempfindens (Hypästhesie, Hypalgesie, Thermhypästhesie) gehören zum typischen klinischen Bild. Der Befall autonomer Fasern führt zu vegetativen Störungen, die häufig schon bei äußerer Inspektion auffallen (Abb. 2): Hyper- oder Hypohidrosis, Pigmentation, Rötung, Zyanose, Ödeme, Ulzeration, Arthro- und Osteopathien. Auch die vegetativen Nerven innerer Organe können mit betroffen sein. Die Folgen sind Rhythmusstörungen des Herzens, Kreislaufdysregulation, gastrointestinale Beschwerden, Blasen-, Mastdarm- und Potenzstörungen.
Manifestationsformen
Unter den klinischen Manifestationsformen (Abb. 3) der Polyneuropathien ist am häufigsten der distal-symmetrische Typ. Dies ist verständlich, da die Transportstrecke von der Ganglienzelle zu den terminalen Nervenendigungen in distalen Extremitätenabschnitten am längsten ist und sich daher die Schädigung zunächst hier bemerkbar macht, um dann langsam aufzusteigen („dying back“). Ein asymmetrischer Extremitätenbefall ist viel seltener. Er entsteht durch zusätzlichen Ausfall von Einzelnerven („Schwerpunktpolyneuropathie“), die im Extremfall einzeln abgrenzbar und oft weit voneinander entfernt sind (Mononeuritis multiplex). Durch Vaskulitis bedingte Polyneuropathien zeigen in mindestens der Hälfte der Fälle asymmetrische Muster, während toxische oder metabolische Polyneuropathien mit asymmetrischem Befall sehr selten sind. Neben diesen drei Hauptmanifestationsformen gibt es besondere klinische Typen, wie bevorzugter Hirnnervenbefall, radikuläre Verteilungsmuster, rein sensible, rein motorische oder rein autonome Schädigungen und schließlich eine auffällige Bevorzugung der Tiefensensibilität („Pseudotabes“) oder des Schmerzempfindens („small fiber neuropathy“). Die klinisch-neurologische Untersuchung kann hier bereits wertvolle Hinweise zur Ätiologie geben (s. Übersicht).
Klinische Differenzialdiagnose der Polyneuropathien: symmetrischer oder asymmetrischer Manifestationstyp. (Nach Neundörfer 1987)
  • Symmetrisch-sensibel:
    • Toxisch (einschließlich Alkohol)
    • Diabetes (häufig, „sensibles Kernsyndrom“)
    • Vitamin-B-Mangel
    • Chronische Polyarthritis
    • Paraneoplastisch
    • Hereditäre sensible Neuropathien (HSAN)
  • Symmetrisch-paretisch:
    • Idiopathische Polyradikuloneuritis
    • Diabetes (selten)
    • Toxisch (fortgeschritten)
    • Paraneoplastisch
    • Hereditäre motorisch-sensible Neuropathie (HMSN)
  • Motorisch:
    • Idiopathische Polyradikuloneuritis
    • Diabetes (selten)
    • Toxisch (fortgeschritten)
    • HMSN I, II, III
    • Analphalipoproteinämie
    • Paraneoplastisch
    • Tomakulöse Neuropathie (HNPP)
  • Vegetativ:
    • Idiopathische Polyradikuloneuritis
    • Postdiphterisch
    • Toxisch (Isoniazid, Thalidomid, Arsen, Schwefelkohlenstoff, Thallium)
    • Alkohol (Hyperhidrosis)
    • Diabetes (Hypohidrosis)
    • Hereditäre sensible Neuropathie (HSAN)
    • Amyloidose
    • HMSN
    • Mangelernährung
  • Asymmetrisch:
    • Infektionen (Neuroborreliose, Zoster u. a.)
    • Vaskulitis
    • Ischämie
    • Armplexusneuritis (neuralgische Schulteramyotrophie, serogenetisch, hereditär)
    • Chronische Polyarthritis
    • Bleipolyneuropathie
    • Diabetes („diabetische Amyotrophie“)
    • Morbus Waldenström
    • Infiltrative Prozesse
    • Tomakulöse Neuropathie (HNPP)
    • Analphalipoproteinämie
  • Sensibel mit Tiefensensibilitätsstörungen („Pseudotabes peripherica“):
    • Diabetes
    • Postdiphtherisch
    • Alkohol
    • Nephrogen
    • Paraneoplastisch
    • Vitaminmangel
  • Sensibel mit Schmerzverlust (dissoziierte Sensibilitätsstörung):
    • Amyloidose
    • Hereditäre sensible Neuropathien (HSAN)
    • Toxisch (Thalidomid, Schwefelkohlenstoff)
  • Hirnnervenbeteiligung:
    • Diabetes mellitus (N. oculomotorius)
    • Idiopathische Polyradikuloneuritis
    • Vaskulitis
    • Sarkoidose
    • Infektion (Borreliose, Zoster)
    • Toxisch (Medikamente, Thallium, Botulismus)
    • Kollagenosen
    • Porphyrie
Diagnostik
Elektrophysiologie
Die Polyneuropathie ist in erster Linie eine klinische Diagnose. Elektrophysiologische Zusatzuntersuchungen können jedoch durchaus zur Differenzialdiagnose der Polyneuropathien beitragen. Am aussagekräftigsten ist die Messung der motorischen und sensiblen Nervenleitgeschwindigkeiten. Das Messprogramm sollte unbedingt den N. peroneus, N. tibialis und N. suralis auf beiden Seiten, möglichst auch den N. medianus oder ulnaris enthalten. Eine erheblich reduzierte Nervenleitgeschwindigkeit weist auf eine Demyelinisierung hin. Die Bestimmung der F-Wellen-Latenz kann Hinweise auf eine proximale Schädigung geben. Eine für den Patienten schonende und dennoch ähnlich aussagekräftige Methode ist die Bestimmung der peripheren motorischen Latenz (PML) mittels Magnetstimulation (MEP).
Polyneuropathien von vorwiegend demyelinisierendem Charakter sind:
Bei fokaler Demyelinisierung ist die Beobachtung eines Leitungsblocks wegweisend. Dies gilt v. a. für die Diagnose der multifokalen motorischen Neuropathien mit Leitungsblock, die z. T. auch erhöhte GM1-Antikörper im Serum zeigen. Etwa 80 % der Polyneuropathien bieten elektrophysiologisch Hinweise auf eine axonale Degeneration bzw. ein Mischbild von axonaler und demyelinisierender Form (elektroneurografisch Reduktion der motorischen und sensiblen Amplituden, elektromyografisch Spontanaktivität und Umbau der motorischen Einzelpotenziale mit vergrößerter Amplitude und verlängerter Potenzialdauer).
Blut- und Liquoruntersuchungen
Zur ätiologischen Abklärung der Polyneuropathien hat sich die Untersuchung bestimmter Laborparameter bewährt (s. Übersicht), die jedoch aus Kostengründen nicht alle in jedem Einzelfall durchgeführt werden. Entsprechend dem klinischen Bild und dem Verlauf kann insbesondere die Reihenfolge der Untersuchungen modifiziert werden, um rasch fündig zu werden. Besonders wichtig ist die Durchführung des oralen Glukosetoleranztests (oGTT) bei normalem Blutzuckertagesprofil (nach WHO-Definition ist ein manifester Diabetes bei 2-h-Werten von über 200 mg %1 zu diagnostizieren!), weiterhin die Immunelektrophorese mit Nachweis von Paraproteinen, das Blutbild mit Nachweis einer Eosinophilie (Eosinophile Granulomatose mit PolyangiitisEGPA Churg – Strauss) sowie entzündliche Liquorveränderungen (zumeist Borreliose oder Zoster) und hohes Liquoreiweiß (v. a. bei idiopathischer Polyradikuloneuritis, aber auch bei anderen wurzelnahen Prozessen).
Laboruntersuchungen zur Polyneuropathie-Abklärung. (Nach Heuss et al. 2008; Engelhardt 2008b)
  • Basisprogramm:
  • Erweitertes Programm:
    • Bei normalem B12-Spiegel: Methylmalonsäure (MMA), Homocystein, Holotranscobalamin (HoloTC; evtl. Schilling-Test, Xylose-Test)
    • Vitamine B1, B6, E
    • Bence-Jones-Probe im Urin
    • Porphyrine im Urin
    • Lipide (evtl. überlangkettige Fettsäuren bei Verdacht auf Adrenomyeloneuropathie)
    • Vaskulitis: antinukleäre Antikörper (ANA), dsDNA (Doppelstrang-DNA), antineutrophile zytoplasmatische Antikörper (pANCA, cANCA), SS-A (Ro), SS-B (La), snRNP („small nuclear ribonleoprotein particle“), Kryoglobuline, Angiotensin-Converting-Enzym (ACE)
    • Erweiterte Infektionsserologie (Zytomegalie, Treponema-Pallidum-Hämagglutinations-Assay [TPHA], HIV, Hepatitis B, C)
    • Liquordiagnostik (Zellzahl, Eiweißdiagnostik, Liquorzytologie, Borrelien-Anitkörper)
    • GM1-Antikörper (bei motorischer Neuropathie), Anti-MAG-Antikörper, Anti-Hu
    • Molekulargenetische Untersuchung (PMP22-Gen bei Verdacht auf HMSN I oder HNPP)
    • Tumorsuche (Thoraxröntgen, gynäkologische, urologische Untersuchung, Oberbauchsonographie, evtl. Gastro- und Koloskopie, Tumormarker)
Nerven- und Muskelbiopsie
Lässt sich durch die genannten klinischen, elektrophysiologischen und laborchemischen Parameter die Ursache einer Polyneuropathie nicht abklären, sollte insbesondere bei rascher Progredienz und deutlichen sensiblen oder motorischen Ausfällen eine Biopsie des N. suralis oder eine kombinierte Nerv-Muskel-Biopsie durchgeführt werden. Ziel der Biopsie ist es, insbesondere eine Vaskulitis als Ursache der Polyneuropathie aufzudecken, da sich hieraus Konsequenzen für die Behandlung ergeben. In anderen Fällen zeigt die Nervenbiopsie nur selten pathognomonische Veränderungen, die eine genaue ätiologische Zuordnung erlauben (so z. B. bei der tomakulösen Neuropathie, der Giant-Axon-Neuropathie, der Amyloidose oder der metachromatischen Leukodystrophie). Sehr typisch ist das „Zwiebelschalenmuster“ (Kap. „Hereditäre Polyneuropathien“) bei HMSN I und III, das jedoch auch bei anderen chronisch demyelinisierenden Neuropathien (z. B. der CIDP) gesehen werden kann. Zumeist sind die bioptischen Befunde unspezifisch im Sinne des Syndroms einer axonalen oder demyelinisierenden Neuropathie, erlauben jedoch Aussagen zum Ausmaß des Faserverlusts, zu den bevorzugt betroffenen Faserkalibern (bei den meisten Polyneuropathien sind die großkalibrigen Fasern mehr betroffen, Abb. 4), zu symmetrischem oder asymmetrischem Faszikelbefall (Letzterer findet sich v. a. bei ischämisch bedingten Polyneuropathien einschließlich der Vaskulitis) und zum Ausmaß der Regenerationsaktivität (Grüppchen regenerierender Fasern, einzeln liegende, dünn myelinisierte regenerierende Fasern).
Die Suralisbiopsie wird in Lokalanästhesie durchgeführt. Der rein sensible Nerv wird in einer Länge von 3–4 cm entnommen. In der Regel verbleibt ein etwa handflächengroßes taubes Areal am Fußaußenrand, manchmal verbunden mit anhaltenden schmerzhaften Missempfindungen. Der Nerv sollte unmittelbar nach der Entnahme in einem spezialisierten neurohistologischen Labor weiterverarbeitet werden (Glutaraldehydfixierung, Kunstharzeinbettung, Semidünnschnitte und Kryostatschnitte für Schnellschnitt und Immunhistochemie).
Die Muskelbiopsie kann zumeist vom gleichen Operationsschnitt entnommen werden (M. gastrocnemius bei proximaler Entnahme des N. suralis oder M. peroneus (fibularis) brevis bei distaler Entnahme). Aus dem Muskel sollte ein genügend großes Stück (mindestens 1 × 1 cm) entnommen werden. An Kryostatschnitten lassen sich sämtliche notwendigen Übersichtsfärbungen, Enzymhistochemie sowie immunzytochemischen Untersuchungen durchführen. Der Muskel sollte daher nicht in Formalin fixiert, sondern nativ weiterverarbeitet werden. Auch hier orientieren sich die histopathologischen Methoden v. a. an dem Ziel, eine Entzündung (Vaskulitis oder Myositis) nachzuweisen, da bei einem derartigen Befund eine rheumatische Erkrankung als Ursache der Polyneuropathie anzunehmen ist. In den übrigen Fällen zeigt sich bei Polyneuropathien in der Muskelbiopsie zumeist ein neurogenes Gewebssyndrom (felderförmige Atrophie, Fasertypengruppierungen, einzeln liegende anguläre Fasern als Hinweis auf eine frische Denervierung, Abb. 5) mit unterschiedlich ausgeprägter Begleitmyopathie.
Therapie
Spezifische Therapie
Ist eine ätiologische Zuordnung der Polyneuropathien gelungen, kann bei bestimmten Erkrankungen eine spezifische Therapie durchgeführt werden. Dies gilt v. a. für immunvermittelte Neuropathien, bei welchen ein breites Spektrum von medikamentösen Maßnahmen zur Verfügung steht: Kortikosteroide, Immunsuppressiva (Azathioprin, Cyclophosphamid, MTX), hoch dosierte intravenöse Immunglobulingabe, Plasmapherese. Bei erregerbedingten Polyneuritiden (Borreliose, Zoster, Lepra) wird sinnvollerweise antibiotisch bzw. virustatisch therapiert. Auch eine gute Blutzuckereinstellung bei der diabetischen Neuropathie kann als kausale Therapie angesehen werden. Eine zu rasche oder Überkorrektur müssen allerdings vermieden werden, da sie auch zu einer Polyneuropathie führen können. Eine weitere Behandlungsmöglichkeit ist die Beseitigung von Mangelerscheinungen (konsequente Vitamin-B1- oder -B12-Gabe bei nachgewiesenem Mangel dieser Vitamine). In den übrigen Fällen ist die Gabe von Vitaminen, obgleich häufig durchgeführt, nicht oder nur gering wirksam im Sinne einer Schmerztherapie. Toxisch bedingte Polyneuropathien (Alkohol, Medikamente) bessern sich in der Regel nach Weglassen der schädlichen Substanz).
Symptomatische Therapie
Neuropathische Schmerzen
Häufig wird man sich auf eine adäquate Schmerztherapie beschränken müssen. Neuropathische Schmerzen sind bei Polyneuropathien häufig. Sie sind gekennzeichnet durch gemeinsames Auftreten von Schmerz und Taubheitsgefühl. Typisch ist für sie eine Allodynie, bei der nichtschmerzhafte Reize (Berührung, Kälte) schmerzhaft erlebt werden. Übliche Analgetika sind bei neuropathischen Schmerzen kaum wirksam. Die sehr gute Wirksamkeit von trizyklischen Antidepressiva (z. B. Amitriptylin oder Doxepin 10–150 mg) ist durch kontrollierte Studien bewiesen. Leider werden sie insbesondere von älteren Patienten häufig schlecht vertragen (Müdigkeit, Mundtrockenheit, Verwirrtheit) oder sind sogar kontraindiziert (z. B. bei AV-Block, Engwinkelglaukom, Prostatahypertrophie). Wichtig ist eine niedrige Anfangsdosis (10 mg zur Nacht), die wöchentlich bis zur vollen Wirksamkeit (von zumeist 25–75 mg in retardierter Form) gesteigert wird. Eine bessere Verträglichkeit bei allerdings schlechterer Wirksamkeit bieten neuere Antidepressiva vom Typ der Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI). Hier besitzt Duloxetin die Zulassung für die Anwendung bei diabetischer Polyneuropathie. Wegen ihrer guten Verträglichkeit und Wirksamkeit finden Antikonvulsiva bei neuropathischen Schmerzen breite Anwendung. Besonders bei der Trigeminusneuralgie erprobt und hier Mittel der ersten Wahl ist Carbamazepin 200–1200 mg/Tag. Die Antikonvulsiva Gabapentin 3-mal 100–1200 mg oder Pregabalin 2-mal 75–300 mg/Tag, werden bei peripheren neuropathischen Schmerzen jeglicher Genese mit gutem Erfolg angewandt. Bei stärksten Schmerzen können Opioide oder Opiate in retardierter Form vorübergehend gegeben werden. Möglicherweise erniedrigen sie jedoch auf Dauer die Schmerzschwelle.
Muskelkrämpfe und Restless-Legs-Syndrom
Muskelkrämpfe (Wadenkrämpfe) werden versuchsweise mit Magnesium (Magnesium-Diasporal) oder Theophyllin-Äthylendiamin (Limptar) therapiert. Bei Nichtansprechen kann auch Baclofen (Lioresal) oder vorübergehend ein Benzodiazepin (Diazepam oder Lorazepam) zur Anwendung kommen. Das symptomatische Restless-Legs-Syndrom wird mit L-Dopa, Dopaminagonisten, Opioiden, Carbamazepin oder Benzodiazepinen zur Nacht behandelt. Bewährt haben sich auch nichtmedikamentöse Maßnahmen, z. B. vor dem Schlafengehen Wechselfußbäder oder Ganzkörperbad.
Druckläsionen
Zur Vermeidung von Druckläsionen ist eine ausreichende Unterpolsterung der Extremitäten wichtig. Regelmäßige medizinische Fußpflege durch qualifizierte Podologen beugt Nagelerkrankungen und Ulzerationen vor.
Lähmungen
Bei ausgeprägten Lähmungserscheinungen sollte frühzeitig und konsequent krankengymnastisch behandelt werden, um Muskel- und Gelenkkontrakturen zu vermeiden. Bei schweren Lähmungen, wie sie beispielsweise bei akuter Polyradikuloneuritis oder toxischen Polyneuropathien vorkommen, ist auf eine ausreichende Thromboseprophylaxe zu achten.
Autonomes Nervensystem
Schließlich sollte v. a. im Rahmen der akuten Polyradikuloneuritis auf die Beteiligung des autonomen Nervensystems mit entsprechenden Maßnahmen reagiert werden (medikamentöse Behandlung der Blasenstörung, rechtzeitige Schrittmacherimplantation bei Rhythmusstörungen).

Facharztfragen

1.
Was sind die häufigsten Ursachen einer Polyneuropathie?
 
2.
Was sind neuropathische Schmerzen?
 
3.
Was versteht man unter „Allodynie“? Nennen Sie Beispiele
 
4.
Nennen Sie Beispiele für demyelinisierende Polyneuropathien!
 
5.
Welche Polyneuropathien zeigen ein asymmetrisches Verteilungsmuster (Schwerpunktpolyneuropathie; Mononeuritis multiplex)?
 
6.
Stellen Sie ein sinnvolles Laborprogramm für den überweisenden Hausarzt/Internisten zur Polyneuropathie-Abklärung auf!
 
Fußnoten
1
Umrechnung: mg%×0,05551=mmol/l.
 
Literatur
Engelhardt A (1994) Vaskulitische Neuropathien: Klinische und nervenbioptische Befunde. Roderer, Regensburg
Engelhardt A (2008a) Diagnostische Schritte bei Polyneuropathien. 1. Teil: Anamnese, Klinik. Fortschr Neurol Psychiatr 76:429–436; quiz 437–429CrossRef
Engelhardt A (2008b) Diagnostische Schritte bei Polyneuropathien. 2. Teil: Neurophysiologie, Labordiagnostik, Biopsie. Fortschr Neurol Psychiatr 76:491–502CrossRef
Heuss D, Auer-Grumbach M, Haupt WF et al (2008) Diagnostik bei Polyneuropathien. In: Diener HC, Putzki N (Hrsg) Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie, 4. Aufl. Thieme, Stuttgart, S 486–497
Neundörfer B (1987) Polyneuritiden und Polyneuropathien. Weinheim, VCH