Einführung
Viele Dermatosen sind durch kleine, oft juckende Papeln charakterisiert. Da der Lichen ruber der Hauptvertreter in dieser Gruppe von Dermatosen ist, spricht man auch von lichenoiden Erkrankungen. Lichen leitet sich vom griechischen Wort (Λɛιχήνα, leichína = Flechte) her, das die flechtenartige Wachstumstendenz durch Aggregation von Papeln beschreibt.
Einige Erkrankungen werden auch aufgrund histologischer Merkmale, die an den prototypischen Lichen ruber erinnern, als lichenoid bezeichnet, wie die lichenoide
Mycosis fungoides oder das lichenoide Arzneimittelexanthem. Für sie sind insbesondere ein bandartiges lymphozytäres Infiltrat entlang der dermo-epidermalen Junktionszone und eine Alteration der basalen Keratinozyten typisch. Dagegen wird die klinisch fassbare Vergröberung des Hautreliefs durch lang anhaltendes Scheuern und Reiben, wie beim Lichen simplex chronicus (Kap. „Pruritus und Prurigo“), als Lichenifikation bezeichnet.
Lichen ruber
Ätiopathogenese
Die molekulare Pathogenese ist nicht vollständig geklärt. Im Wesentlichen scheint es sich um eine zelluläre Autoimmunreaktion gegen basale Keratinozyten zu handeln. Deren fokale Zerstörung zusammen mit einem bandartigen dermal-junktionalen Infiltrat von Th1-Zellen,
CD4+-T-Helferzellen und später zytotoxischen
CD8+-T-Zellen, sind neben weiteren epidermalen Veränderungen das Korrelat der klinisch sichtbaren Papeln. Hier ergeben sich überraschende klinische, histologische und immunologische Homologien zur Graft-versus-Host-Reaktion (GVHD). Das folgende teils hypothetische Modell zeichnet sich aktuell ab:
In frühen Veränderungen fällt die deutliche Vermehrung von
antigen
präsentierenden
Zellen (APZ) auf, im Wesentlichen Langerhans-Zellen. Diese werden möglicherweise von den Keratinozyten selbst durch eine fehlgesteuerte Zytokinproduktion angelockt. Die Natur der
Autoantigene ist unklar. Die
antigenpräsentierenden Zellen aktivieren autoreagible T-Zellen, die weitere proinflammatorische
Zytokine produzieren. Unter diesen scheint das Th1-Zytokin Interferon-γ eine Schlüsselrolle zu spielen: Es induziert in den Keratinozyten unter anderem die pathologische Expression von
HLA-DR(Klasse-II-MHC)-Molekülen,
intercellular
adhesion
molecule 1 (ICAM-1) und Fas (Zelltodrezeptor, death receptor). HLA-DR verstärkt die T-Zell-Aktivität weiter, während ICAM-1 die Bindung von
lymphocyte
function associated
antigen 1 (LFA-1), einem T-Zell-Oberflächenprotein, ermöglicht. Die Keratinozyten werden so zum Ziel der zytotoxischen, also
Apoptose induzierenden T-Zell-Aktivität. Keratinozyten gehen schließlich unter durch die Interaktion von FasL, dem aktivierenden
Liganden des
Fas-Rezeptors, und Fas, die Expression Membran schädigender Perforine und die Freisetzung von zelltoxischem Granzym B aus den T-Zellen.
Vakuolisierung, apoptotische
Kamino-Körperchen und Abtropfung von Melaninpigment in die Dermis (Hyperpigmentierung) resultieren daraus. Fatal ist der Verlust des Immunprivilegs um die Stammzellnische von Haar und Nagel: Bei Mitbeteiligung der Adnexorgane droht der Verlust von Stammzellen. Diese Organe werden dann unwiederbringlich zerstört und narbig ersetzt, im Unterschied zu Schleimhaut und freier Haut, die ad integrum heilen können.
Die Frage, warum im Unterschied zur Graft-versus-Host-Reaktion nur Haut und Schleimhaut betroffen sind, ist nicht zu beantworten. Möglicherweise ist ein epidermisspezifisches, noch unbekanntes Autoantigen involviert. Interessant ist, dass in einigen Studien in bis zu 40 % eine Assoziation von Lichen ruber mit Lebererkrankungen, besonders mit chronisch aktiver
Virushepatitis C sowie
primär biliärer Zirrhose, berichtet wurde. Man nimmt an, dass alterierte Hepatozyten
antigene Epitope mit Homologien zu Keratinozytenantigenen exprimieren und auf diese Weise die autoreaktiven zytotoxischen T-Zellen aktivieren. Auch mag es Überlappungen des Lichen ruber mucosae mit der
chronisch ulzerativen Stomatitis (CUS) geben, da einzelne Patienten die CUS-typischen stratified
epithelium-
spezifischen
anti
nukleären
Antikörper (SES-ANA) produzieren.
Zusätzlich kommen medikamentöse Auslöser wie etwa Beta-Blocker, Interferone,
Chloroquin und NSARs in Betracht. Oft ist es klinisch, histologisch – und semantisch – schwierig, lichenoide Arzneireaktionen vom echten Lichen ruber abzugrenzen. Möglich ist auch die Induktion von Lichen-ruber-artigen Mundschleimhautveränderungen durch den Kontakt mit Amalgamfüllungen bei Sensibilisierung mit Quecksilberverbindungen, wahrscheinlich trifft dies auch auf andere Metalle wie etwa Goldverbindungen zu. Im Verdachtsfall sollte ein Epikutantest durchgeführt werden. Im positiven Fall ist hier der Terminus lichenoide
Kontaktdermatitis zutreffender und rechtfertigt unter Umständen einen Wechsel des Materials.
Oft wurde auch über einen Beginn der Erkrankung nach psychischen Traumen oder in Stresssituationen berichtet. Psychoimmunologische Einflüsse erscheinen also möglich, die Studien dazu müssen jedoch wegen des krankheitsimmanenten Stresses durch den quälenden Juckreiz mit Vorsicht interpretiert werden.