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Die Anästhesiologie
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Publiziert am: 08.05.2017

Anästhesie bei Patienten mit Anämien, Polyzythämien und Methämoglobinämie

Verfasst von: Klaus F. Waschke
Von den zahlreichen hämatologischen Erkrankungen werden in diesem Kapitel die behandelt, die dem Anästhesisten in der täglichen Praxis am häufigsten begegnen. Dies sind in erster Linie Anämien unterschiedlichster Genese, Polyzythämien und die Methämoglobinämie. Aufgrund der hämatologischen Störung weisen die betroffenen Patienten Komorbiditäten und/oder spezielle Risiken auf, die beim perioperativen Management beachtet werden müssen.
Einleitung
Von den zahlreichen hämatologischen Erkrankungen werden in diesem Kapitel die behandelt, die dem Anästhesisten in der täglichen Praxis am häufigsten begegnen. Dies sind in erster Linie Anämien unterschiedlichster Genese, Polyzythämien und die Methämoglobinämie. Aufgrund der hämatologischen Störung weisen die betroffenen Patienten Komorbiditäten und/oder spezielle Risiken auf, die beim perioperativen Management beachtet werden müssen.

Anämien

Anämien sind als kritische Reduktion der zirkulierenden Erythrozytenmasse definiert. Anämien, Erkrankungen der Erythrozyten und des Hämoglobins (Dyshämoglobinämien) können den O2-Transport beeinträchtigen und so Bedeutung für das perioperative Management bekommen.
Definition der Anämie nach WHO
  • Männer: Hb <13 g/dl
  • Frauen: Hb <12 g/dl
  • Schwangere: Hb <11 g/dl
  • Kinder (6 Monate bis 6. Lebensjahr): Hb <11 g/dl
  • Kinder (6–14 Jahre): Hb <12 g/dl
Eine Anämie entsteht bei einem Ungleichgewicht zwischen Erythrozytenproduktion und Erythrozytenabbau oder -verlust [1]. Physiologische Kompensationsmechanismen können zu einer Steigerung der Erythropoese im Knochenmark um den Faktor 10–15 innerhalb von 2–3 Monaten führen. Eine Anämie wird klinisch manifest, wenn diese Mechanismen erschöpft sind. Auch ein gesteigerter oder vorzeitiger Abbau von Erythrozyten in der Milz führt erst dann zu einer signifikanten Anämie, wenn die Erythrozytenlebenszeit auf weniger als 15 Tage reduziert ist. Die normale Erythrozytenlebenszeit beträgt etwa 120 Tage.
Die Festlegung einer allgemeingültigen Hämoglobinkonzentration, bei deren Unterschreiten immer die Indikation zur Transfusion gegeben ist, erscheint nicht sinnvoll. Wichtig ist hingegen, ob es sich um eine akute oder chronische Anämie handelt.
Bei chronischer Anämie sind viele Patienten gut an die reduzierte Erythrozytenmasse adaptiert. Daher sollte sich sowohl die Indikation zur Transfusion als auch die Transfusionsmenge in der perioperativen Phase immer an den individuellen Kompensationsmöglichkeiten des einzelnen Patienten orientieren.
Kann eine präoperativ festgestellte Anämie kausal therapiert werden, so sollten elektive operative Eingriffe erst nach einer Restitution der Erythrozytenmasse erfolgen [2]. Die Diagnose und Behandlung präoperativer Anämien ist fester Bestandteil von Maßnahmenbündeln, die auf die perioperative Reduktion von Blutverlusten und Transfusionen abzielen (Patient Blood Management; Kap. „Anästhesiologische Beurteilung des Patienten: Blut und Blutgerinnung“ sowie Kap. „Intraoperativer Volumenersatz, Transfusion und Behandlung von Gerinnungsstörungen“), denn sowohl die präoperative Anämie als auch die Transfusion humaner Blutkomponenten sind unabhängige Risikofaktoren für eine erhöhte perioperative Morbidität und Letalität [3, 4].

Eisenmangelanämie

Die Eisenmangelanämie ist die häufigste Anämieform [5]. Sie ist Folge eines Ungleichgewichtes zwischen Eisenversorgung und -bedarf [6]. Obwohl ein Eisenmangel vielfältige Ursachen haben kann (z. B. Malabsorptionssyndrome, Diarrhö, eisenarme Ernährung, Achlorhydrie mit atrophischer Gastritis), sind bei einer normalen Ernährung Blutverluste die häufigste Ursache. Nach Entleerung der endogenen Eisenspeicher resultiert bei einem Abfall der Transferrin-Eisen-Sättigung (totale Eisenbindungskapazität) auf unter 10 % eine ineffektive Erythropoese. Eine Reduktion der Serumferritinkonzentration (alters-, geschlechts- und methodikabhängige Normalwerte: 25–600 μg/l) ist typisch für den Eisenmangel [7].
Cave
Das Serumferritin kann als Akute-Phase-Protein bei inflammatorischen und malignen Erkrankungen auch trotz eines ausgeprägten Eisenmangels normale Konzentrationen aufweisen.
Anfänglich ist beim Eisenmangel die Reduktion des erythrozytären Zellvolumens (MCV <80 fl) von Größenvariationen (Poikilozytose) und Formvariationen (Anisozytose) der Erythrozyten begleitet. Im weiteren Verlauf bildet sich die typische mikrozytär-hypochrome Anämie aus [8].
Symptome des Eisenmangels
Entwickelt sich die Eisenmangelanämie unerkannt über einen längeren Zeitraum, kann auch eine Hämoglobinkonzentration <7 g/dl klinisch symptomlos bleiben.
Parallel zur Behandlung der ursächlichen Störung steigert die orale Zufuhr von 200 mg Eisen/Tag in etwa 3 Wochen die Hämoglobinkonzentration um etwa 2 g/dl. Nach erfolgreicher Eisensubstitution sollte die Eisentherapie noch für  weitere 3 Monate fortgesetzt werden, um die endogenen Eisenspeicher wieder aufzufüllen. Bei gastrointestinalen Unverträglichkeitsreaktionen oder unzureichender Resorption oraler Eisenpräparate kann die Eisensupplementierung auch parenteral erfolgen.
Cave
Die parenterale Eisentherapie kann zur Eisenüberladung führen. Bei der Hämochromatose werden in parenchymatösen Organe freie Sauerstoffradikale generiert, die durch Denaturierung zellulärer Proteine und durch Lipidperoxidation von Zellmembranen zu erheblichen Organdysfunktionen führen können [9].

Makrozytäre Anämien

Makrozytäre (megaloblastische) Anämien werden durch eine gestörte DNS-Synthese erythrozytärer Vorläuferzellen im Knochenmark verursacht. Es kommt zu typischen morphologischen Veränderungen mit erythrozytären Zellvolumina >95 fl und Erythrozytendurchmessern >8,5 μm. Makrozytäre Anämien sind meist durch einen Mangel an Vitamin B12 (Cobalamin) oder Folsäure bedingt. Andere Ursachen (z. B. angeborene Folsäurestoffwechselerkrankungen, Therapie mit bestimmten Zytostatika) sind selten [10].

Vitamin-B12-Mangel

Etwa 5 mg Vitamin B12 werden unter physiologischen Bedingungen in der Leber und anderen Geweben gespeichert. Diese Speicher sind auch bei einer vollständigen Unterbrechung der nutritiven Zufuhr ausreichend, um eine ungestörte Hämatopoese für mehrere Jahre zu gewährleisten. Ein Vitamin-B12-Mangel führt zu Störungen des Folsäure- und Fettsäurestoffwechsels [10].
Symptome des Vitamin-B12-Mangels
  • Makrozytäre Anämie
  • Parästhesien an Händen und Füßen
  • Verlust der Propriozeption und des Vibrationsempfindens
  • Motorische Störungen und spinale Ataxie (selten)
  • Gonadendysfunktion
  • Epithelzellveränderungen (z. B. Glossitis)
Die makrozytäre Anämie ist meist vor dem Auftreten neurologischer Symptome nachweisbar. Die neurologischen Störungen entstehen durch Demyelinisierungen peripherer Nerven sowie der Hinter- und Seitenstränge des Rückenmarks.
Bei der perniziösen Anämie kann es durch Antikörper gegen Parietalzellen des Magens und Antikörper gegen den „intrinsic factor“ zu einer unzureichenden Vitamin-B12-Resorption kommen.
Lachgas (N2O) kann mit biologischen Wirkungen des Vitamin B12 interferieren. N2O oxidiert das im Vitamin B12 in reduzierter Form vorhandene Kobalt (Co+) zu Co2+ und Co3+. Hierdurch wird das für die Methioninsynthese wichtige Methylcobalamin inaktiviert [10]. Das inaktivierte Methylcobalamin wird durch Freisetzung von funktionsfähigem Vitamin B12 aus endogenen Speichern normalerweise sofort ersetzt.
Cave
Bei Patienten mit vorbestehendem Vitamin-B12-Mangel ist die Entwicklung einer makrozytären Anämie auch nach einmaliger und kurzfristiger Lachgasanwendung möglich [1113].
Die auftretenden Symptome sind nach einer Vitamin-B12-Substitutionstherapie meist vollständig reversibel.
Da ein Vitamin-B12-Mangel präoperativ gelegentlich unerkannt bleibt, sollte eine postoperativ auftretende makrozytäre Anämie kombiniert mit den typischen neurologischen Symptomen Anlass zur Abklärung eines Vitamin-B12-Mangels geben.

Folsäuremangel

Eine makrozytäre Anämie durch Folsäuremangel unterscheidet sich nur durch fehlende neurologische Symptome, nicht jedoch morphologisch von der Vitamin-B12-Mangelanämie. Die DNS-Synthesestörung resultiert aus der Beteiligung von Derivaten der Folsäure an der Synthese der Nucleotide Purin und Pyrimidin.
Die Therapie makrozytärer Anämien hat sich primär an der Behandlung der ursächlichen Störungen zu orientieren. Die Transfusion von Erythrozytenkonzentraten ist nur selten angezeigt und bleibt ausgeprägtesten Formen makrozytärer Anämien vorbehalten.

Aplastische Anämien

Die aplastische Anämie ist Folge eines Verlusts oder von Funktionseinschränkungen des Knochenmarks. Die gestörte Erythropoese ist häufig mit Zytopenien anderer Zellinien kombiniert. Da diese Anämieformen durch eine unzureichende Proliferation hämatopoetischer Stammzellen im Knochenmark bedingt sind, handelt es sich in der Regel um normozytär-normochrome Anämien mit niedriger Retikulozytenzahl. Seltene, hereditäre Formen der aplastischen Anämie werden von den erworbenen aplastischen Anämien unterschieden. In mehr als der Hälfte der Fälle lassen sich aber keine eindeutigen Ursachen für die Aplasie finden (idiopathische Formen; [14]).
Die autosomal-rezessiv erbliche Fanconi-Anämie ist die häufigste Form einer hereditären aplastischen Knochenmarkstörung. Oft finden sich Kombinationen mit anderen Missbildungen im Bereich des knöchernen Skeletts (Mikrozephalus, Unterarme und Daumen), der Nieren und des Herzens. Ohne Knochenmarktransplantation versterben Patienten meist im 1. oder 2. Lebensjahrzehnt [15].
Die erworbenen Formen der aplastischen Anämie werden durch Infektionen, Bestrahlung, Gifte (z. B. organische Lösungsmittel, DDT, Lindan) oder Pharmaka (z. B. bestimmte Antibiotika, Zytostatika, Antiphlogistika u. a.) verursacht. Auch Leukämien, Lymphome und myeloproliferative Erkrankungen können durch Expansion aberrierender Zelllinien im Knochenmark zu aplastischen Anämien führen.
Die Substitution von Blutkomponenten sollte sich am Ausmaß der Anämie orientieren. Störungen der Blutgerinnung durch eine begleitende Thrombozytopenie müssen insbesondere bei geplanten Regionalanästhesieverfahren berücksichtigt werden. Gelegentlich kann bei ausgeprägten Panzytopenien die Transfusion von Thrombozyten indiziert sein.
Bei Leukopenien muss mit einer besonderen Infektanfälligkeit der Patienten gerechnet werden. Eine perioperative Antibiotikaprophylaxe sollte daher bei allen operativen Eingriffen erfolgen.

Anämien bei Infektionen, Tumoren und chronischen Erkrankungen

Normozytär-normochrome Anämien sind oft Folge chronischer Infektionen, neoplastischer, systemisch-inflammatorischer Erkrankungen oder hypometaboler Zustände (Hypothyreose, Hypopituitarismus).
Unabhängig von der Grunderkrankung findet sich meist eine insuffiziente Reaktion des Knochenmarks auf endogenes Erythropoetin. Inflammatorische Zytokine (z. B. Interleukine, Tumornekrosefaktor) hemmen die Proliferation von erythrozytären Vorläuferzellen im Knochenmark, reduzieren die renale Freisetzung von Erythropoetin und schränken die Verfügbarkeit von Eisen aus Zellen des retikuloendothelialen Systems (RES) ein [1618].
Die gesteigerte Endozytose und Proteolyse von Ferroportin, das die Eisenfreisetzung aus Makrophagen der Leber und der Milz reguliert, ist bei diesen Anämieformen der wesentliche Pathomechanismus. Erhöhte Hepcidinkonzentrationen (wichtiges Protein der Eisenhomöostase) bei Infektionen und anderen chronischen Erkrankungen sind hierfür ursächlich [19].
Bei Patienten mit chronischem Nierenversagen führt neben einer herabgesetzten Erythropoetinproduktion auch die direkte Suppression des Knochenmarks durch toxische Metabolite und eine verkürzte erythrozytäre Überlebenszeit zur Ausbildung der sog. „renalen Anämie“. Die exogene Zufuhr von Erythropoetin kann bei Dialysepatienten ausreichende Hämoglobinkonzentrationen sicherstellen [20], ist jedoch möglicherweise mit erheblichen Risiken verbunden (Bluthochdruck, Gefäßverschlüsse, Tumorwachstum; [21]).
Patienten mit Anämien auf dem Boden chronischer Erkrankungen sind oft sehr gut an die Anämie adaptiert. Die Transfusion von Erythrozytenkonzentraten bei diesen Patienten sollte daher, wenn möglich, stets hinter der kausalen Therapie des Grundleidens zurückstehen.

Hämolytische Anämien

Gemeinsames Merkmal aller hämolytischen Anämien ist die verkürzte Lebensdauer der Erythrozyten. Die vorzeitige Zerstörung der Erythrozyten erfolgt meistens extravaskulär durch Phagozytose in Milz, Leber und Knochenmark. Die seltenere, intravaskuläre Hämolyse ist Folge einer Ruptur der erythrozytären Membran. Kombinationen beider Hämolyseformen sind möglich. Hämoglobinämie kombiniert mit einer Hämoglobinurie weist immer auf eine ausgeprägte intravaskuläre Hämolyse hin.
Durch den gesteigerten Häm-Katabolismus fällt vermehrt unkonjugiertes (indirektes) Bilirubin an, das nach Überschreiten der Glukuronidierungskapazität der Leber einen klinisch manifesten Ikterus zur Folge hat. Freies Hämoglobin wird im Serum an Haptoglobin gebunden. Der Hämoglobin-Haptoglobin-Komplex wird dann innerhalb weniger Minuten durch Phagozytose im retikuloendothelialen System (RES) aus der Zirkulation entfernt. Bei einer stärkeren Hämolyse ist daher die Haptoglobinkonzentration im Serum (Normalwerte: 0,3–2,0 g/l) immer deutlich reduziert. Ein Anstieg der Laktatdehydrogenase (LDH) im Serum ist bei intravaskulären Hämolysen häufig zu beobachten, bei extravaskulären Hämolysen jedoch nicht obligat.
Auch eine direkte Traumatisierung von Erythrozyten durch künstliche Herzklappen, bei der Marsch-Hämoglobinurie oder durch Verbrennungen kann Hämolysen induzieren.
Bei der thrombotisch-thrombozytopenischen Purpura (TTP, Moschcowitz-Syndrom) wird die Zerstörung der Erythrozyten wahrscheinlich durch Gefäßwandläsionen verursacht [22].
Kennzeichen der thrombotisch-thrombozytopenischen Purpura

Erythrozytäre Membrandefekte

Ein wichtiger, hereditärer Defekt der Erythrozytenmembran ist die Sphärozytose (Inzidenz: 1:5000; etwa 1 % asymptomatische Merkmalsträger in der Bevölkerung). Andere Defekte wie die Elliptozytose und die Stomatozytose sind eher selten [23]. Durch die Veränderungen der Zellmembran und eine herabgesetzte Verformbarkeit werden die Erythrozyten frühzeitig durch die Milz eliminiert [24].
Bei der Sphärozytose sind am häufigsten das Zellprotein Spektrin, gelegentlich aber auch andere Strukturproteine, die das Spektrin an der Erythrozytenmembran fixieren, verändert. Durch die Beeinträchtigung dieser Strukturproteine kommt es zum Verlust von Teilen der erythrozytären Membran mit Ausbildung der typischen sphärischen Erythrozytenform. Da Sphärozyten im Verhältnis zu ihrem Volumen eine reduzierte Oberfläche besitzen, können sie nur sehr wenig Wasser aufnehmen. Im Vergleich zu normalen Erythrozyten kommt es bei Sphärozyten daher in hypoosmotischer Umgebung zu einer vorzeitigen Lyse.
Die herabgesetzte osmotische Resistenz der Erythrozyten ist ein wichtiges diagnostisches Kriterium der Sphärozytose. Kardinalsymptome dieser Patienten sind Anämie, Splenomegalie und Ikterus.
Durch Steigerung der Erythropoese im Knochenmark ist die Anämie bei der Sphärozytose allerdings meist nicht sehr ausgeprägt.

Hämolysen immunologischer Genese

Autoimmunhämolytische Anämien werden durch IgG- oder IgM-Antikörper ausgelöst, die gegen Antigene auf der Erythrozytenoberfläche gerichtet sind (sog. Autoantikörper ). IgMAntikörper induzieren eine Komplementbindung (besonders C3) an die Erythrozytenoberfläche und führen so zur Hämolyse. Sind primär IgG-Antikörper beteiligt, erfolgt die Hämolyse vorwiegend extravasal durch Phagozytose in der Milz.

Wärme- und Kälteagglutinine

Wärmeagglutinine sind meist IgG-Antikörper, die bei Körpertemperatur reagieren. Ungefähr 25 % der betroffenen Patienten weisen begleitende Erkrankungen des Immunsystems auf (z. B. Leukämien, Lymphome, Lupus erythematodes). Die Ausprägung kann von sehr milden Formen bis hin zu fulminanten Hämolysen mit letalem Ausgang reichen. Bei einer massiven Hämolyse durch Wärmeantikörper besteht die primäre Therapie in einer Immunsuppression durch Glukokortikoide. Bei Persistenz von Hämolysezeichen kann eine Splenektomie erwogen werden.
Kälteagglutinine, die bei Körpertemperaturen <37 °C reagieren (optimal bei 30 °C), sind meist IgM-Antikörper und treten gehäuft im Zusammenhang mit lymphozytären Neoplasien, Mykoplasmeninfektionen und infektiöser Mononukleose auf. Die durch Kälteagglutinine induzierte Anämie ist in der Regel nicht sehr ausgeprägt. Durch intravasale Erythrozytenagglutinationen kommt es bei diesen Patienten besonders bei Kälteexposition zu ausgeprägten Akrozyanosen.
Cave
Eine Therapie ist unter normothermen Bedingungen meist nicht erforderlich. Diese Patienten können aber in erheblichem Maße durch perioperative Hypothermien gefährdet sein.
Bei 5–10 % der Patienten mit einer autoimmunhämolytischen Anämie liegen Wärme- und Kälteagglutinine in kombinierter Form vor.

Durch Pharmaka induzierte Hämolysen

Cave
Autoimmunhämolytische Anämien können auch durch Pharmaka ausgelöst werden.
Die Pathomechanismen sind hierbei sehr unterschiedlich. Substanzen, wie α-Methyldopa, L-Dopa oder Mefenaminsäuren, können die Proteinstruktur des Rhesus-Antigens auf der Erythrozytenoberfläche verändern. Hierdurch kann es zur Bildung von Antikörpern kommen, die mit dem normalen Rhesus-Antigen kreuzreagieren. Penicilline, Sulfonamide und Chinidin können als Haptene mit Proteinen der Erythrozytenoberfläche interagieren und so die Produktion entsprechender Antikörper induzieren. Direkte Immunisierungen durch Pharmaka sind extrem selten [19, 25].

Transfusionsreaktionen

Die häufigste Ursache der akuten, hämolytischen Transfusionsreaktion ist die Transfusion AB0-inkompatiblen Bluts. Diese Form der komplementabhängigen Hämolyse wird durch im Serum des Empfängers vorhandene AB0-Antikörper gegen Antigene der Spendererythrozyten ausgelöst.

Enzymdefekte des erythrozytären Glukosestoffwechsels

Bestimmte Toxine, Pharmaka und Chemikalien können Hämolysen auf direktem Wege auslösen. Für die meisten durch Pharmaka oder Chemikalien ausgelösten Hämolysen ist allerdings ein hereditärer Enzymdefekt des erythrozytären Glukosestoffwechsels verantwortlich.
Erythrozyten benötigen Energie zur Aufrechterhaltung ihrer Form und Deformierbarkeit und zur Reduktion von Methämoglobin. Enzymdefekte des erythrozytären Stoffwechsels betreffen hauptsächlich Enzyme des Glykolysestoffwechsels mit der Folge einer relativ konstanten Hämolyse oder Enzyme des Hexose-Monophosphat-Shunts (Pentosephosphat-Weg) mit Hämolyse bei oxidativem Stress. Durch den Verlust von Zellkern, Ribosomen und Mitochondrien während der erythrozytären Entwicklung kann eine Energiegewinnung im Erythrozyten nur durch anaerobe Glykolyse erfolgen (Embden-Meyerhof-Stoffwechselweg). 95 % der bekannten Enzymdefekte dieses Stoffwechselwegs entfallen auf den Pyruvatkinasemangel und etwa 4 % auf den Glukosephosphatisomerasemangel (Abb. 1; [26]).

Pyruvatkinasemangel

Der autosomal-rezessiv vererbte Pyruvatkinasemangel reduziert die Bildung von ATP und NADH mit einer Anhäufung von Intermediärprodukten der Glykolyse (besonders: 2,3-DPG und Phosphoenol-Pyruvat). Chronische Hämolyse, Anämie, Ikterus, Splenomegalie und vereinzelt auch Knochenveränderungen wie bei der Thalassämie sind die führenden klinischen Symptome dieser Patienten. Da jedoch durch die Akkumulation von 2,3-DPG die O2-Bindungskurve des Hämoglobins nach rechts verschoben wird, sodass sich die Abgabe von Sauerstoff an das Gewebe verbessert, wird diese Form der hämolytischen Anämie oft sehr gut toleriert. Heterozygote Patienten sind klinisch und hämatologisch meist unauffällig (Abb. 2).

Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenase-Mangel

Hauptfunktion des Hexose-Monophosphat-Shunts ist die Bereitstellung ausreichender Mengen an reduziertem Glutathion, um die Erythrozyten vor oxidativen Schäden zu schützen. Etwa 10 % der im Erythrozyten metabolisierten Glukose wird für die Glutathionreduktion verwendet. Bei oxidativem Stress kann dieser Anteil aber deutlich gesteigert werden. Die Glukose-6-Phoshatdehydrogenase nimmt daher als wichtiges Enzym im Hexose-Monophosphat-Shunt eine besondere Stellung im erythrozytären Reduktionsstoffwechsel ein.
Die Reduktion der Aktivität dieses Enzyms ist der häufigste hereditäre Enzymdefekt beim Menschen. Über einen Mangel an NADPH führt der Glukose-6-Phoshat-Dehydrogenase-Mangel intraerythrozytär zu einem Abfall an reduziertem Glutathion. Durch die nun mögliche Oxidation von Sulfhydrylgruppen des Hämoglobins und anderer Proteine bilden sich intraerythrozytäre Einschlüsse in Form denaturierter Proteine (Heinz-Innenkörper) und erythrozytäre Membrandefekte aus [26].
Nur selten findet sich bei Patienten mit Störungen erythrozytärer Enzyme eine akute, intravasale Hämolyse. Vielmehr wird die Mehrzahl dieser Patienten erst nach 2–3 Tagen durch Ikterus und Hämoglobinurie auffällig. Derartige hämolytische Episoden können durch Infektionen, bestimmte Lebensmittel, Pharmaka (z. B. Acetylsalicylsäure, Sulfonamide, Methylenblau, Primaquin, Chloramphenicol, Vitamin K, D-Penicillamin) oder Chemikalien (z. B. Nitrolacke und -verdünner) ausgelöst werden.

Thalassämien

Thalassämien sind hereditäre Störungen der Globinkettensynthese des Hämoglobins. Durch die verminderte oder fehlende Synthese einer oder mehrerer Globinketten kann es zu Globinpräzipitationen, ineffektiver Erythropoese und Hämolyse kommen. Je nach Art der betroffenen Globinketten werden α-, β-, δβ-, und γδβ-Thalassämien unterschieden [27].
Die klinische Ausprägung einer Thalassämie hängt vom Genotyp des Patienten ab. Heterozygote Merkmalsträger sind meist symptomlos, können aber durch eine Hämoglobinelektrophorese erkannt werden. Während einer Schwangerschaft oder bei schweren Infektionskrankheiten ist aber auch bei Merkmalsträgern die Entwicklung einer Anämie möglich. Bei homozygoten Patienten kann in Abhängigkeit vom betroffenen Gen ein breites Spektrum klinischer Ausprägungen beobachtet werden. Bevor die genetischen und molekularen Grundlagen der einzelnen Thalassämieformen bekannt waren, erfolgte die Einteilung der Thalassämien nach der Schwere des klinischen Erscheinungsbilds (Tab. 1).
Tab. 1
Klinische Einteilung der Thalassämien
Form der Thalassämie
Symptome
Thalassaemia minor
Symptomlose Merkmalsträger mit leichter Anämie
Thalassaemia intermedia
Ausgeprägte, aber nicht transfusionspflichtige Anämie, Splenomegalie
Thalassaemia major
Schwere, transfusionspflichtige Anämie, Hepatosplenomegalie, Skelettdeformitäten

α-Thalassämien

Da sowohl fetales Hämoglobin F als auch adultes Hämoglobin A α-Globinketten enthalten, können Auswirkungen einer α-Thalassämie nicht nur postpartal, sondern bereits während der fetalen Entwicklung beobachtet werden (Abb. 3; [28, 29]).
Beim Feten kann die reduzierte α-Globinkettensynthese zu einer überschüssigen Produktion von γ-Globinketten führen, die dann γ4-Tetramere bilden (Hämoglobin-Barts).
Beim Erwachsenen kommt es zur gesteigerten β-Globin kettensynthese mit Bildung von β4-Tetrameren (Hämoglobin H).
Die α-Globinkettensynthese wird von 4 elterlichen Genen kontrolliert.
Je nach Anzahl der betroffenen Gene variiert der zugehörige Phänotyp
  • Ist nur ein α-Gen betroffen, bleibt der Patient meist symptomlos.
  • Bei zwei betroffenen α-Genen (α-Thalassämie-Veranlagung) resultiert eine leichte Anämie mit Mikrozytose. Auch diese Patienten sind in der Regel klinisch symptomlos.
  • Drei betroffene α-Gene führen zur Bildung von Hämoglobin H, welches instabil ist und in älteren Erythrozyten präzipitiert. Die resultierende chronische hämolytische Anämie (Hb: 7–11 g/dl) ist dabei häufig von Ikterus, Hepatosplenomegalie und Cholelithiasis begleitet.
  • Sind alle 4 α-Gene betroffen, kann kein Hämoglobin F, Hämoglobin A oder Hämoglobin A2 mehr gebildet werden. Die noch gebildeten γ4-Tetramere haben eine stark erhöhte O2-Affinität, die keinen adäquaten O2-Transfer an das fetale Gewebe erlaubt. Es kommt zum Hydrops fetalis mit intrauterinem Fruchttod oder postpartalem Tod des Neugeborenen.

β-Thalassämien

Die bei β-Thalassämien im Überschuss gebildeten α-Globinketten können keine tetrameren Strukturen bilden. Sie präzipitieren bereits in Vorläuferzellen der Erythrozyten und führen zu ihrer intramedullären Zerstörung. Die hierfür ursächliche Apoptose führt durch die Ablagerung von α-Globinketten in erythrozytären Vorläuferzellen zu einer ineffektiven Erythropoese. Die Erythrozyten, die dennoch ihren Reifungsprozess abschließen können, werden wegen ihrer erhöhten Rigidität durch α-Globinketten-Einschlüsse frühzeitig in der Milz eliminiert.
Heterozygote Patienten sind meist symptomlos und weisen eine leichte, mikrozytär-hypochrome Anämie auf. Der HbA2-Anteil ist bei ihnen oft erhöht.
Sind beide β-Gene betroffen, entwickelt sich wenige Monate nach der Geburt eine schwere Anämie [30, 31].
Die Expansion von Markräumen des Schädels bei der homozygoten β-Thalassämie führt zu Deformitäten des Schädels (mongoloide Facies, im Röntgenbild: Bürstenschädel), die in extremen Fällen eine endotracheale Intubation dieser Kinder erheblich erschweren können [32].
Es entwickelt sich eine ausgeprägte Hepatosplenomegalie und ohne regelmäßige Transfusionen von Erythrozytenkonzentraten versterben diese Patienten innerhalb der ersten zwei Lebensjahre an einer Herzinsuffizienz.
Bei der β-Thalassaemia major (Cooley-Anämie ) muss etwa alle 4–6 Wochen eine Bluttransfusion vorgenommen werden, um eine normale Entwicklung dieser Kinder zu gewährleisten. Kardiale Schädigungen durch eine Eisenüberladung (Herzinsuffizienz und Rhythmusstörungen) sind bei 12 % dieser Patienten die primäre Todesursache. Die Hämochromatose ist durch Eisenablagerungen in parenchymatösen Zellen von Leber, Pankreas, Herz und endokrinen Organen gekennzeichnet und kann durch eine kontinuierliche Therapie mit Chelatbildnern, wie Deferoxamin, verzögert werden [9].
Symptome der Hämochromatose
Bei der präoperativen Evaluation von Patienten mit transfusionspflichtigen Thalassämieformen muss sich das anästhesiologische Augenmerk besonders auf die Beeinträchtigung einzelner Organe durch eine Hämochromatose richten.

Sichelzellanämie

Pathophysiologie

Molekulare Grundlage der Sichelzellerkrankung ist die Mutation eines β-Globinketten-Gens [33]. Während bei homozygoten Trägern des Sichelzellgens (Sichelzellanämie, Sichelzellerkrankung) 80–100 % des gesamten Hämoglobins in Form von HbS vorliegt, findet sich bei Heterozygoten (Sichelzellveranlagung) wenigstens 50 % Hämoglobin A (HbA). Der diagnostische HbS-Nachweis erfolgt durch eine Hämoglobinelektrophorese.
Desoxygenierte HbS-Moleküle bilden intraerythrozytäre Fibrillen, die zur typischen Sichelzellform der Erythrozyten führen. Eine klinisch relevante HbS-Polymerisation beginnt bei O2-Sättigungen des HbS von <85 %. Derart deformierte Erythrozyten sind nicht mehr in der Lage, die kapilläre Mikrozirkulation zu passieren. Durch die erhöhte Erythrozytenrigidität kommt es zur Hämolyse und zur Aggregation in der Mikrozirkulation. Die Instabilität des HbS setzt die erythrozytäre Membran dem destruktiven oxidativen Potenzial von intrazellulärem Eisen aus und führt zusammen mit einer erhöhten Erythrozytenrigidität zur Hämolyse. Neuere Erkenntnisse reduzieren die Pathophysiologie der Sichelzellerkrankung aber nicht mehr nur auf die Folgen der erythrozytären Sichelung.
Die meisten klinischen Symptome sind vielmehr als Auswirkungen eines chronischen vaskulären Entzündungsprozesses zu sehen. Die Zerstörung der Erythrozytenmembran verstärkt die Adhärenz von rigiden, eisenbeladenen Erythrozyten an das vaskuläre Endothel, wodurch dieses einem erhöhten mechanischen und oxidativen Stress ausgesetzt ist. Der persistierende endotheliale Stress verursacht eine chronische vaskuläre Entzündung mit einer Vielzahl von Konsequenzen wie der Aktivierung endothelialer Adhäsionsmoleküle, einer veränderten Expression der endothelialen NO-Synthetase und der Aktivierung von Gerinnungskaskaden. In der Summe münden diese Prozesse dann in eine ausgeprägte inflammatorische endotheliale Dysfunktion. Die biologischen Auswirkungen der HbS-Bildung sind daher weit komplexer als die isolierte Beschränkung der Pathophysiologie auf Struktur und Form der Erythrozyten [34, 35].

Klinik

Durch die verkürzte Überlebenszeit der deformierten Erythrozyten in der Zirkulation liegt bei Patienten mit Sichelzellerkrankung immer eine chronische, hämolytische Anämie vor (Hb: 6–9 g/dl, 10–20 % Retikulozyten).
Da HbS eine im Vergleich zu HbA reduzierte O2-Affinität (P50: 45 mmHg) aufweist und somit vermehrt Sauerstoff an das Gewebe abgibt, sind Patienten mit einer Sichelzellerkrankung meist gut an die chronische Anämie adaptiert. Typischerweise bildet sich diese Anämie erst mit Beginn des zweiten Lebenstrimesters aus, da Neugeborene durch das vorhandene Hämoglobin F (HbF: α2γ2) noch nicht anämisch sind.
Die chronische Hämolyse führt im Verlauf der Erkrankung oft zur Bildung von Gallensteinen. Die Cholezystektomie ist daher eine der häufigsten Operationen (oft schon während der Kindheit) bei Patienten mit Sichelzellerkrankung.
Andere, chronische Organmanifestationen ergeben sich aus repetitiven Gefäßverschlüssen im Bereich peripherer Organe (aseptische Knochennekrosen, Lungenfibrose mit Cor pulmonale, Retinopathie). Noch während der Kindheit kommt es durch Infarzierungen der Milz zur funktionellen „Autosplenektomie“. Daraus ergibt sich eine erhöhte Infektanfälligkeit.
Neben diesen chronischen Manifestationen können wiederholte akute Exazerbationen („Krisen“) während der Sichelzellerkrankung auftreten.
Sichelzellkrisen können vital bedrohlich sein und bedürfen der akuten therapeutischen Intervention (Oxygenierung, Hydratation, Schmerzbehandlung, evtl. Austauschtransfusion).
Das akute Thoraxsyndrom (Brustschmerz, Dyspnoe, Husten und Fieber) kann durch eine NO-Inhalation günstig beeinflusst werden.

Anästhesiologische Aspekte

Die perioperative Mortalität bei Patienten mit einer Sichelzellerkrankung beträgt etwa 1 % (zur Hälfte anästhesiebedingt). Eine Operation und die damit verbundene Anästhesie können das labile Gleichgewicht, in dem sich ein HbS-Patient befindet, destabilisieren und lebensbedrohliche Situationen hervorrufen [36]. Elektive Eingriffe sollten nur in einem optimierten Zustand des Patienten durchgeführt werden.
Typische Organdysfunktionen bei Sichelzellanämie
  • Pathologische kardiopulmonale Befunde: Dies betrifft fast alle Patienten mit einer manifesten Sichelzellerkrankung. Ein kontinuierlich erhöhtes Herzzeitvolumen zur Kompensation der chronischen Anämie führt zu einer Myokardhypertrophie bzw. Herzinsuffizienz
  • Durch wiederholte pulmonale Gefäßverschlüsse bildet sich eine pulmonale Hypertension aus
  • Renale Funktionseinschränkungen resultieren aus medullären und papillären Nekrosen
  • Leberdysfunktionen sind ebenfalls möglich
  • Bei vielen Patienten bestehen neurologische oder neuropsychologische Defizite durch zerebrale Gefäßverschlüsse
Die präoperative Evaluation muss präexistente Organbeteiligungen berücksichtigen und ggf. weitere diagnostische und therapeutische Maßnahmen indizieren.
Cave
Eine medikamentöse Prämedikation vor operativen Eingriffen darf auf keinen Fall zu einer alveolären Hypoventilation mit konsekutiver Hypoxämie und der damit verbundenen Gefahr einer Desoxygenierung von HbS führen.
Um Dehydratationen zu minimieren, sollte die präoperative Nüchternheit nicht durch späte Operationstermine unnötig verlängert werden.
Eine regelhafte präoperative Reduktion des HbS-Anteils zur Reduktion der Inzidenz perioperativer Komplikationen gilt mittlerweile als nicht mehr indiziert [8, 36]. Präoperative Austauschtransfusionen bei Sichelzellerkrankungen, mit dem Ziel, den HbS-Anteil auf 30–40 % zu senken, sollten daher nur noch größeren Operationen oder Patienten mit einer eingeschränkten Lungenfunktion vorbehalten bleiben.
Bei etwa \(1/3\) der Patienten mit Sichelzellanämie bildet sich durch häufige Transfusionen eine Alloimmunisierung aus. Hierdurch kann die Bereitstellung geeigneter Erythrozytenkonzentrate erheblich erschwert sein. Gleiches gilt für alle Patienten, die sich in einem chronischen Transfusionsprogramm befinden (z. B. Patienten mit β-Thalassaemia major).
Da die Umkehr eines einmal induzierten Sichelungsprozesses kaum mehr möglich ist, muss die Prävention der Sichelung oberstes Therapieziel sein.
Die wichtigsten anästhesiologischen Therapieziele bei Sichelzellanämie sind:
  • adäquate Anästhesie,
  • ausreichende Oxygenierung,
  • suffiziente Organdurchblutung,
  • ausgeglichener Säure-Basen-Haushalt,
  • optimierte Hydratation,
  • Normothermie.
Obwohl diese Therapieziele natürlich auch für alle anderen Patienten gelten, können schon geringfügige Störungen der genannten Größen bei Patienten mit einer Sichelzellerkrankung zu lebensbedrohlichen Komplikationen führen [8, 36]. Durch eine optimale Präoxygenierung muss schon vor Narkoseeinleitung sichergestellt werden, dass es in dieser Phase nicht zu Hypoxämien kommt. Die pulsoxymetrische Überwachung des Patienten ist während der gesamten perioperativen Phase obligat. Das kontinuierliche Monitoring der endexspiratorischen CO2-Konzentration erlaubt die rechtzeitige Erfassung und Korrektur einer respiratorischen Azidose. Metabolische Azidosen können intraoperativ durch intermittierende Blutgasanalysen frühzeitig bemerkt und korrigiert werden. Die perioperative Normothermie sollte unbedingt aufrechterhalten werden. Die periphere Vasokonstriktion unter hypothermen Bedingungen führt zu einer verstärkten Desoxygenierung des HbS und somit zu einer deutlich erhöhten Sichelungsbereitschaft der Erythrozyten während einer Hypothermie.
Die meisten Komplikationen bei Sichelzellerkrankungen treten in der postoperativen Phase auf. Daher ist hier eine besonders intensive Überwachung und Therapie der Patienten erforderlich.
Patienten mit einer Sichelzellveranlagung (heterozygote Merkmalsträger) weisen ein unauffälliges Blutbild auf. Allerdings können auch die Merkmalsträger unter extremen Bedingungen (SaO2 < 40 %, ausgeprägte Azidosen und Dehydratationen) Sichelzellkrisen entwickeln. Daher sollte sich das perioperative Management bei Patienten mit einer Sichelzellveranlagung nicht wesentlich von dem bei Patienten mit einer manifesten Sichelzellerkrankung unterscheiden.

Polyzythämien

Mit Polyzythämie wird eine pathologische Erhöhung der zirkulierenden Erythrozytenmasse (Männer: Hämatokrit >51 %, Hb >17 g/dl; Frauen: Hämatokrit >48 %, Hb >16 g/dl) bezeichnet.
Relative Polyzythämien (Pseudopolyzythämien) durch eine Reduktion des Plasmavolumens sind anamnestisch meist leicht von absoluten Polyzythämien abgrenzbar. Eine adäquate Rehydratation oder die Substitution eines Eiweißmangels korrigieren das Missverhältnis von Plasmavolumen und Erythrozytenmasse.
Die Polyzythämia rubra vera (PRV), als primäre Form, ist eine myeloproliferative Erkrankung. Durch unkontrollierte Vermehrung von erythrozytären Vorläuferzellen im Knochenmark kommt es zum pathologischen Anstieg der Erythrozytenmasse. Häufig finden sich auch erhöhte Zellzahlen anderer Zelllinien (Leukozyten, Thrombozyten).
Durch den erhöhten Hämatokrit kommt es zu einem ausgeprägten Anstieg der Blutviskosität mit einer gesteigerten Inzidenz an peripheren Gefäßverschlüssen. Myokardinfarkt und zerebrale apoplektische Insulte sind die häufigsten Todesursachen bei Patienten mit PRV [37, 38].
Neben seltenen Erkrankungen mit einer gesteigerten Erythropoetinproduktion ist in der Mehrzahl der Fälle mit sekundärer Polyzythämie eine arterielle Hypoxämie mit konsekutiver Gewebehypoxie die häufigste Ursache. Patienten mit einer sekundären Polyzythämie sind in der Regel nicht von einer Splenomegalie betroffen. Sollte die zugrundeliegende Erkrankung nicht ausreichend therapiert werden können, muss auch bei Patienten mit sekundärer Polyzythämie der therapeutische Aderlass erwogen werden. Präoperativ ist bei diesen Patienten auf vorbestehende Organfunktionsstörungen zu achten.
Patienten mit einer Polyzythämie sind durch ein deutlich erhöhtes perioperatives Thromboembolierisiko gefährdet.

Methämoglobinämie

Das Eisenatom in den Hämgruppen des Hämoglobins liegt unter physiologischen Bedingungen in zweiwertiger (Fe2+) Form vor. Durch Oxidation kann es in den dreiwertigen (Fe3+) Zustand (Methämoglobin) überführt werden. Eine O2-Bindung an Methämoglobin ist nicht mehr möglich. Da sich oxidierende und reduzierende Enzymsysteme im Blut und intraerythrozytär in einem Gleichgewicht befinden, liegt normalerweise nur maximal 1 % des gesamten Hämoglobins als Methämoglobin vor. Die NADH-Cytochrom-b5-Reduktase bildet 95 % der Reduktionskapazität in vivo.
Eine besondere Empfindlichkeit gegenüber einer Methämoglobinbildung besteht bei Säuglingen, denn bis etwa zur Mitte des 1. Lebensjahres besteht eine eingeschränkte Enzymaktivität der NADH-Cytochrom-b5-Reduktase. Hereditäre Enzymdefekte mit Ausbildung einer Methämoglobinämie sind bekannt, aber außerordentlich selten.
In der Mehrzahl der Fälle kommt es zur Methämoglobinämie durch die Anwendung oxidierender Pharmaka oder Chemikalien (Tab. 2; [23]).
Tab. 2
Pharmaka und Chemikalien, die eine Methämoglobinämie induzieren können
• Prilocain
• Benzocain
• Primaquin
• Sulfonamide
• Nitrate
• Nitroglycerin
• Nitroprussid
• Nitrite
• Metoclopramid
• Methylenblau
• Anilin-Derivate
Mindestens 15 % Methämoglobin müssen vorliegen, um eine Zyanose zu induzieren. Bei 30–40 % Methämoglobinanteil treten Symptome der Gewebehypoxie auf (Verwirrtheitszustände, Schwindel, pektanginöse Beschwerden). Ohne therapeutische Intervention ist bei mehr als 70 % Methämoglobin mit einem letalen Ausgang zu rechnen.
Patienten, deren Kompensationsmöglichkeiten zur Aufrechterhaltung einer adäquaten O2-Transportkapazität eingeschränkt sind, werden bei entsprechend niedrigeren Methämoglobinanteilen symptomatisch. Die Methämoglobinfraktion kann durch spektrophotometrische Analyse (Kooxymetrie) arterieller Blutproben bestimmt werden.
Cave
Mit steigenden Methämoglobinanteilen kommt es zu Interferenzen mit der Pulsoxymetrie.
Die pulsoxymetrisch gemessene O2-Sättigung des Hämoglobins erreicht hierbei auch bei sehr hohen Methämoglobinkonzentrationen im Blut ein unteres Plateau von 80–85 %. Engmaschige spektrophotometrische Kontrollen sind daher unerlässlich [39]. Technische Weiterentwicklungen der Pulsoxymetrie erlauben mittlerweile die exakte Messung von Met- und Carboxyhämoglobinfraktionen des Gesamthämoglobins [40].
Patienten mit einer Methämoglobinfraktion >30 % oder Patienten mit den klinischen Zeichen einer Gewebehypoxie bei niedrigeren Methämoglobinanteilen sollten behandelt werden.
Die intravenöse Kurzinfusion (5 min) von 1–2 mg/kgKG Methylenblau führt nach 30–60 min zu einer Verminderung des Methämoglobinanteils [23]. Die Methylenblauinfusion kann wiederholt werden. Es sollte aber eine Gesamtdosis von 7 mg/kgKG nicht überschritten werden. Therapieversagen mit Methylenblau sind bekannt. Ursächlich hierfür können sein: abnormale Hämoglobine (z. B. HbF), eine reduzierte Enzymaktivität der NADPH-abhängigen Methämoglobinreduktase oder ein Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenase-Mangel.
Cave
Insbesondere bei Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenase-Mangel können hohe Dosen Methylenblau die Methämoglobinämie noch verstärken oder zur Hämolyse führen.
Im Falle des Therapieversagens mit Methylenblau bleibt als Ultima Ratio nur die Austauschtransfusion.
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