Pathophysiologie
Molekulare Grundlage der
Sichelzellerkrankung ist die Mutation eines β-Globinketten-Gens [
33]. Während bei homozygoten Trägern des Sichelzellgens (Sichelzellanämie, Sichelzellerkrankung) 80–100 % des gesamten
Hämoglobins in Form von HbS
vorliegt, findet sich bei Heterozygoten (Sichelzellveranlagung) wenigstens 50 % Hämoglobin A (HbA
). Der diagnostische HbS-Nachweis erfolgt durch eine Hämoglobinelektrophorese.
Desoxygenierte HbS-Moleküle bilden intraerythrozytäre Fibrillen, die zur typischen Sichelzellform der
Erythrozyten führen. Eine klinisch relevante HbS-Polymerisation beginnt bei O
2-Sättigungen des HbS von <85 %. Derart deformierte Erythrozyten sind nicht mehr in der Lage, die kapilläre Mikrozirkulation zu passieren. Durch die erhöhte Erythrozytenrigidität kommt es zur Hämolyse und zur Aggregation in der Mikrozirkulation. Die Instabilität des HbS setzt die erythrozytäre Membran dem destruktiven oxidativen Potenzial von intrazellulärem
Eisen aus und führt zusammen mit einer erhöhten Erythrozytenrigidität zur Hämolyse. Neuere Erkenntnisse reduzieren die Pathophysiologie der
Sichelzellerkrankung aber nicht mehr nur auf die Folgen der erythrozytären Sichelung.
Die meisten klinischen Symptome sind vielmehr als Auswirkungen eines chronischen vaskulären Entzündungsprozesses zu sehen. Die Zerstörung der Erythrozytenmembran verstärkt die Adhärenz von rigiden, eisenbeladenen
Erythrozyten an das vaskuläre Endothel, wodurch dieses einem erhöhten mechanischen und oxidativen Stress ausgesetzt ist. Der persistierende endotheliale Stress verursacht eine chronische vaskuläre Entzündung mit einer Vielzahl von Konsequenzen wie der Aktivierung endothelialer
Adhäsionsmoleküle, einer veränderten Expression der endothelialen NO-Synthetase und der Aktivierung von Gerinnungskaskaden. In der Summe münden diese Prozesse dann in eine ausgeprägte inflammatorische endotheliale Dysfunktion. Die biologischen Auswirkungen der HbS-Bildung sind daher weit komplexer als die isolierte Beschränkung der Pathophysiologie auf Struktur und Form der Erythrozyten [
34,
35].
Klinik
Da HbS eine im Vergleich zu HbA reduzierte O
2-Affinität (P
50: 45 mmHg) aufweist und somit vermehrt Sauerstoff an das Gewebe abgibt, sind Patienten mit einer
Sichelzellerkrankung meist gut an die chronische
Anämie adaptiert. Typischerweise bildet sich diese Anämie erst mit Beginn des zweiten Lebenstrimesters aus, da Neugeborene durch das vorhandene
Hämoglobin F (HbF: α
2γ
2) noch nicht anämisch sind.
Die chronische Hämolyse
führt im Verlauf der Erkrankung oft zur Bildung von
Gallensteinen. Die Cholezystektomie ist daher eine der häufigsten Operationen (oft schon während der Kindheit) bei Patienten mit
Sichelzellerkrankung.
Andere, chronische Organmanifestationen ergeben sich aus repetitiven Gefäßverschlüssen
im Bereich peripherer Organe (aseptische Knochennekrosen
, Lungenfibrose
mit
Cor pulmonale, Retinopathie). Noch während der Kindheit kommt es durch Infarzierungen der Milz
zur funktionellen „Autosplenektomie“.
Daraus ergibt sich eine erhöhte Infektanfälligkeit.
Neben diesen chronischen Manifestationen können wiederholte akute Exazerbationen („Krisen“) während der
Sichelzellerkrankung auftreten.
Sichelzellkrisen können vital bedrohlich sein und bedürfen der akuten therapeutischen Intervention (Oxygenierung, Hydratation, Schmerzbehandlung, evtl. Austauschtransfusion).
Das
akute Thoraxsyndrom (Brustschmerz, Dyspnoe,
Husten und
Fieber) kann durch eine NO
-Inhalation günstig beeinflusst werden.
Anästhesiologische Aspekte
Die perioperative Mortalität bei Patienten mit einer
Sichelzellerkrankung beträgt etwa 1 % (zur Hälfte anästhesiebedingt). Eine Operation und die damit verbundene Anästhesie können das labile Gleichgewicht, in dem sich ein HbS-Patient befindet, destabilisieren und lebensbedrohliche Situationen hervorrufen [
36]. Elektive Eingriffe sollten nur in einem optimierten Zustand des Patienten durchgeführt werden.
Die präoperative Evaluation muss präexistente Organbeteiligungen berücksichtigen und ggf. weitere diagnostische und therapeutische Maßnahmen indizieren.
Um Dehydratationen zu minimieren, sollte die präoperative
Nüchternheit nicht durch späte Operationstermine unnötig verlängert werden.
Eine regelhafte präoperative Reduktion des HbS-Anteils zur Reduktion der Inzidenz perioperativer Komplikationen gilt mittlerweile als nicht mehr indiziert [
8,
36]. Präoperative Austauschtransfusionen bei
Sichelzellerkrankungen, mit dem Ziel, den HbS-Anteil auf 30–40 % zu senken, sollten daher nur noch größeren Operationen oder Patienten mit einer eingeschränkten Lungenfunktion vorbehalten bleiben.
Bei etwa \(1/3\) der Patienten mit Sichelzellanämie bildet sich durch häufige Transfusionen eine Alloimmunisierung aus. Hierdurch kann die Bereitstellung geeigneter Erythrozytenkonzentrate erheblich erschwert sein. Gleiches gilt für alle Patienten, die sich in einem chronischen Transfusionsprogramm befinden (z. B. Patienten mit β-Thalassaemia major).
Da die Umkehr eines einmal induzierten Sichelungsprozesses kaum mehr möglich ist, muss die Prävention der Sichelung oberstes Therapieziel sein.
Die wichtigsten anästhesiologischen Therapieziele bei Sichelzellanämie sind:
-
adäquate Anästhesie,
-
ausreichende Oxygenierung,
-
suffiziente Organdurchblutung,
-
ausgeglichener Säure-Basen-Haushalt,
-
optimierte Hydratation,
-
Normothermie.
Obwohl diese Therapieziele natürlich auch für alle anderen Patienten gelten, können schon geringfügige Störungen der genannten Größen bei Patienten mit einer
Sichelzellerkrankung zu lebensbedrohlichen Komplikationen führen [
8,
36]. Durch eine optimale Präoxygenierung muss schon vor Narkoseeinleitung
sichergestellt werden, dass es in dieser Phase nicht zu
Hypoxämien kommt. Die pulsoxymetrische Überwachung des Patienten ist während der gesamten perioperativen Phase obligat. Das kontinuierliche Monitoring der endexspiratorischen CO
2-Konzentration erlaubt die rechtzeitige Erfassung und Korrektur einer respiratorischen Azidose. Metabolische Azidosen können intraoperativ durch intermittierende
Blutgasanalysen frühzeitig bemerkt und korrigiert werden. Die perioperative Normothermie sollte unbedingt aufrechterhalten werden. Die periphere Vasokonstriktion unter hypothermen Bedingungen führt zu einer verstärkten Desoxygenierung des HbS und somit zu einer deutlich erhöhten Sichelungsbereitschaft der
Erythrozyten während einer
Hypothermie.
Patienten mit einer Sichelzellveranlagung (heterozygote Merkmalsträger) weisen ein unauffälliges Blutbild auf. Allerdings können auch die Merkmalsträger unter extremen Bedingungen (S
aO
2 < 40 %, ausgeprägte Azidosen und Dehydratationen) Sichelzellkrisen entwickeln. Daher sollte sich das perioperative Management bei Patienten mit einer Sichelzellveranlagung nicht wesentlich von dem bei Patienten mit einer manifesten
Sichelzellerkrankung unterscheiden.